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# taz.de -- Archangelsk und Schleswig-Holstein: Partnerschaft auf Eis gelegt
> Schleswig-Holstein und die Region Archangelsk im Nordwesten Russlands
> galten lange als Modell für gute Zusammenarbeit. Gibt es eine Zukunft?
Bild: Schnappschuss aus einer Ganztagsschule in Sewerodwinsk, einer Stadt in de…
Lübeck taz | An die bittere Kälte bei seinem ersten Besuch im
[1][russischen Archangelsk] erinnert sich Wolfgang Baasch deutlich: „Ich
habe gefroren wie blöde“, sagt der Lübecker, der für die SPD im Kieler
Landtag sitzt. „Nachts habe ich unter der Jacke geschlafen, und am
zugefrorenen Fluss saßen Eisangler.“ Beeindruckt aber habe ihn „die
Begegnung mit den Menschen dort“.
Baasch gehörte zu den Funktionsträgern in Schleswig-Holstein, die seit den
1990er Jahren besondere Beziehungen in den russischen Norden unterhielten.
Die Region – auf Russisch: Oblast – Archangelsk, 1.000 Kilometer von Moskau
entfernt, ist größer als Frankreich, es leben aber nur 1,4 Millionen
Menschen dort, die meisten in den Städten Archangelsk (wörtlich übersetzt:
„Erzengelstadt“) und Sewerodwinsk. Der größte Teil des Landes ist von Wald
bedeckt, die Winter sind lang.
Die Verbindung zwischen diesem Riesengebiet und Schleswig-Holstein –
doppelt so viele Einwohner*innen auf einem Bruchteil der Fläche –
beruht auf einer Kombination aus deutscher Förderprojektlogik, Zufall und
persönlicher Initiative. Anfang der 1990er Jahre stand Geld bereit, um die
Kontakte zwischen den Partnerstädten Hamburg und St. Petersburg zu stärken.
In Hamburg fand sich keine Verwendung, dafür hob Friedrich Schmidt die
Hand.
Der Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Kiel reiste seit den
1980er Jahren nach Russland, in Archangelsk hatte er Bekannte und
verbrachte später ein Semester an der dortigen Uni. Dank der Fördergelder
aus Hamburg fuhr bald eine größere Gruppe aus Schleswig-Holstein ans
Eismeer.
## 20-mal in die Region gereist
Ein erstes Projekt betraf Kinder und Jugendliche, die in „einer Art
Straflager“ lebten, in dem die Miliz das Sagen hatte, berichtet Martin
Liegmann, Geschäftsführer des [2][Kinderschutzbundes Ostholstein] und
Vorsitzender des Fördervereins für Soziale Arbeit in Osteuropa. Die
Verhältnisse seien gruselig gewesen, nicht nur für die deutschen Gäste:
„Die Lehr- und Erziehungskräfte fühlten sich zunehmend unwohl.“
Rund 20-mal ist Liegemann seit den 1990er Jahren in die Region am Weißen
Meer gereist: „Die Lage war damals desaströs, aber es gab Aufbruchstimmung
und große Offenheit“, sagt er. Es entstanden Projekte zu Behinderten-,
Suchtkranken- und Straffälligenhilfe, ein Reiseverkehr entwickelte sich,
russische Jugendliche machten Praktika in Schleswig-Holstein. Im Jahr 2000
gründete sich auf deutscher Seite der Förderverein. „Wir hatten das Glück,
dass wir dank einer Erbschaft die soziale Arbeit in Russland direkt
unterstützen konnten“, berichtet Liegmann.
Unter den Ansprechpartner*innen auf der russischen Seite waren Eltern
behinderter Kinder, Lehrkräfte, auch Beamte staatlicher Strukturen. Alle
einte neben der konkreten Hilfe „das Ziel, ein besseres Europa zu bauen,
das deutsch-russische Verhältnis zu stärken“, sagt Liegmann. „Neue Gruppen
schossen wie Pilze aus dem Boden.“ 2008 gründeten die NGOs einen eigenen
Dachverband – für die Russische Föderation extrem ungewöhnlich. Diesen
Verband gibt es noch heute, er unterhält eine professionelle Website, auf
der es zahlreiche Informationen gibt. Nur von den Verbindungen nach
Deutschland ist dort nichts mehr zu sehen.
An die Stelle der anfänglichen Offenheit sei nach und nach die Angst
getreten, sagt Liegmann. „Wir wurden ständig abgehört. ‚Das ist kein Thema
für ein Telefongespräch‘ war ein Satz, den wir öfter hörten.“ Lockerheit
und offene Worte erlebten die deutschen Besucher*innen nur noch bei
Treffen in der privaten Datscha.
## Als „ausländische Agenten“ definiert
Es sei immer schwieriger geworden, die Arbeit fortzusetzen, berichten
Liegmann und Baasch. Die Gesetze in Russland verschärften sich, die
regionalen Behörden verloren ihre Macht an zentrale Strukturen, die dem
Präsidenten unterstellt sind. [3][NGOs, die mit ausländischen Gruppen
zusammenarbeiteten], konnten als „ausländische Agenten“ definiert werden.
Ein lokaler Bürgermeister, der Missstände ändern und als Kandidat für eine
Präsidentschaftswahl antreten wollte, „wurde unter fadenscheinigen Gründen
zu Hause verhaftet und in Unterwäsche abgeführt“, erzählt Liegmann.
Er versteht aber auch, warum viele Russ*innen ihren Dauerpräsidenten
verehren: „2000 gab es in Archangelsk nur Müll und kaputte Straßen, und
wirklich jeder war betrunken. Das hat sich unter Wladimir Putin in wenigen
Jahren geändert. Das rechnen ihm viele hoch an.“
Dennoch wuchs der politische Druck, und der Blick auf die Besuche der
Deutschen änderte sich. Ein Beitrag des lokalen Fernsehens zeigt eine
deutsche Gruppe in einer Sonder-Kita für gehörlose und schwer hörende
Kinder in Archangelsk. Die deutschen Gäste seien „sehr erstaunt“, denn in
Deutschland gebe es nichts dergleichen, sagt der Sprecher. Dort würden
Gehörlose in normale Kitas gehen – so, wie der Sprecher es betont, klingt
Inklusion wie ein Mangel, nicht wie eine Errungenschaft, und als würden die
Deutschen sich hier abschauen, wie es richtig geht.
Martin Liegmann schwankt zwischen Lachen und Seufzen, als er diese
Übersetzung hört: „Jahrelang hat die Gehörlosenschule in Schleswig Material
und Fachleute rübergeschickt, um die Lage für die Kinder dort zu
verbessern.“
## Dann kam der Krieg
Durch die guten Kontakte zu den städtischen und staatlichen Behörden gelang
es, bis Anfang 2022 Geld an Partnerorganisationen zu schicken, ohne dass
die als „ausländische Agenten“ eingestuft wurden. Die letzte Zahlung ging
im Januar ab. Dann kam der Krieg. „Geld überweisen ist unmöglich“, sagt
Liegmann. Ob es überhaupt gewollt wäre, ist ein Streitpunkt im Verein.
Seit Beginn des Krieges, der in Russland nicht so genannt werden darf, sind
die Gespräche abgebrochen. Aus Sorge, russische Gesprächspartner*innen
in Schwierigkeiten zu bringen, hat auch die taz auf einen Anruf bei einer
der Partnerorganisationen verzichtet.
„Zurzeit möchte ich mit keiner Organisation, keiner Behörde, keinem Verein
dort arbeiten“, sagt Wolfgang Baasch. „Wir müssen warten, bis der Krieg zu
Ende ist, und dann weitersehen.“
Neue Verträge machen lehne er ab – laufende Projekte weiter zu
unterstützen, wäre denkbar. Liegmann tut es „in der Seele weh“, den Konta…
zu verlieren. Aber er weiß: „Es ist ein Break, und es wird Jahre dauern,
bis es wieder heilt.“
Vielleicht passiert es auch nie. Denn die russische Regierung zeigt sich –
gerade jetzt – spendabel gegenüber den lange vernachlässigten Gruppen,
erwartet dafür aber auch Dankbarkeit. So erhielt die Gehörloseninitiative
einen neuen Bus. „Direkt aus dem Fonds des Präsidenten, sozusagen von Putin
persönlich“, sagt Liegmann ironisch. „Wir müssen uns wohl darüber klar
werden, dass die Führung in Russland keine selbst organisierte
Zivilgesellschaft will, nur eine kontrollierte.“
15 Apr 2022
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Archangelsk
[2] https://www.kinderschutzbund-oh.de/
[3] /NGO-Mitarbeiterin-zur-Arbeit-in-Russland/!5848015
## AUTOREN
Esther Geißlinger
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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