# taz.de -- Russisch-orthodoxe Kirche in Hamburg: Bloß nicht von Krieg sprechen | |
> Russ*innen und Ukrainer*innen beten und helfen in Hamburg gemeinsam. | |
> Eine offene Positionierung vermeidet die russisch-orthodoxe Kirche aber. | |
Bild: Die Türen sind für alle offen: russisch-orthodoxe Kirche in Hamburg | |
HAMBURG taz | Die blau-gelbe Flagge der Ukraine ist zu sehen von den | |
Treppen der Kirche des heiligen Johannes von Kronstadt: Das Tuch weht vom | |
Hamburger Oberlandesgericht jenseits der Straße. Auf dem Tschaikowskyplatz, | |
auf dem die Kirche steht, erinnert dagegen nichts an den Krieg, mahnt kein | |
Schild zum Frieden. In der russisch-orthodoxen Kirche – laut ihrer Homepage | |
ist sie die größte in Deutschland – beten Menschen aus verschiedenen | |
Nationen, darunter Russ*innen und Ukrainer*innen. | |
Seit Beginn des Krieges ist die Gemeinde Anlaufstelle für Geflüchtete, | |
Mitglieder sammeln Spenden und organisieren Hilfe. Doch über den Krieg | |
sprechen wollen die Offiziellen nicht: Über „die politische Position eines | |
jeden, ob Geistlicher oder Gemeindemitglied, wird in der Kirche nicht | |
diskutiert“, sagt der Kirchenvorsteher, Erzpriester Sergey Baburin. Dumm | |
nur, dass sich ausgerechnet sein höchster Vorgesetzter in Moskau nicht | |
daran hält. | |
Die aus hellen Steinen gemauerte Kirche erinnert mit dem Turm in der Mitte | |
an eine trutzige Burg. Der ungewöhnliche Bau wurde 1907 als evangelisches | |
Gotteshaus geweiht, im Zweiten Weltkrieg zerstört und später als | |
„Kunstkirche“ genutzt. 2004 übergab die evangelische Gemeinde das Haus an | |
die russisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, der Mutterkirche | |
für Menschen in Russland und der Ukraine. | |
An diesem Spätnachmittag ruft keine Glocke zum Gottesdienst, der wegen der | |
Fastenzeit unter der Woche stattfindet. Hinter einem kleinen Vorraum öffnet | |
sich der runde Kirchenraum. Ohne Bänke oder Stühle wirkt er weitläufig, | |
gleichzeitig aber intim durch die gerundeten Geländer der Empore, die den | |
Raum wie ausgebreitete Arme umschließen. An der Bildwand, der Ikonostase, | |
die das Kirchenschiff vom Altarraum abtrennt, leuchten Gemälde in warmen, | |
pastelligen Farben wie Lachsrosa, Orange und zartem Grün. Golden glänzen | |
die Kerzenständer und die Heiligenscheine auf den Ikonen an den Wänden. | |
## In der Kirche spielt Nationalität keine Rolle | |
Ein Priester in einem violetten Umhang trägt ein Pult in die Mitte des | |
Raums und beginnt in einem voll-tönenden Sprechgesang aus der Bibel zu | |
lesen. Er spricht Kirchenslawisch, eine liturgische Sprache, die heutige | |
Russisch- oder Ukrainisch-Sprechende ähnlich gut verstehen wie Deutsche | |
einen mittelhochdeutschen Text. | |
Zwei Frauen begleiten die Worte des Predigers mit Gesang. Ein Dutzend | |
Gläubige, vor allem Frauen, steht im Raum verteilt. Im Verlauf des | |
Gottesdienstes kommen weitere dazu, andere verlassen die Kirche – kommen | |
und gehen ist in orthodoxen Kirchen nicht ungewöhnlich. Einige Gläubige | |
zünden Kerzen an, bekreuzigen sich. Der Priester steht meistens mit dem | |
Rücken zur Gemeinde, ein Mittler zwischen Menschen und Gott. | |
Rund 2.000 Mitglieder hat die Gemeinde, viele sind in den vergangenen | |
Jahren aus Russland oder der Ukraine zugewandert. Spielt das aktuell eine | |
Rolle? Nein, antwortet Baburin: „Wenn man die Kirche betritt, bleibt die | |
Nationalität vor den Pforten, der Glaube vereint die Menschen.“ | |
Er kommuniziert schriftlich mit der taz, ein Interview lehnte er mit | |
Hinweis auf die laufende Fastenzeit ab. Großen Wert legt er auf das, was | |
die Gemeinde für die Geflüchteten aus der Ukraine leistet: Mehrere Tausend | |
Euro Spenden wurden bisher gesammelt, Ehrenamtliche begleiten | |
Neuankömmlinge zu Ämtern, bieten Unterkunft, sammeln Kleidung und sonstige | |
Alltagsgegenstände, betreuen Kinder. Zwei Familien hat die Gemeinde im | |
Gemeindehaus untergebracht, Deutsch- und Integrationskurse sind geplant. | |
„Wir tun unser Bestes, nach unseren Kräften und nach unserem Gewissen“, | |
schreibt Baburin. Er freue sich, dass sich Deutsche aus dem Viertel in der | |
Gemeinde melden und ihre Hilfe anbieten. | |
Denn natürlich spürt die Kirche, dass die Menschen aus Russland zurzeit | |
unter Generalverdacht stehen. „Eklig, unwürdig und ziemlich | |
mittelalterlich“ nennt Baburin einige Vorfälle, die Mitglieder der Gemeinde | |
betreffen. Die Kirche selbst, fügt er hinzu, habe keine Angriffe erlebt: | |
„Das bedeutet uns viel. Wir dürfen glauben, dass wir hier doch angekommen | |
sind und unsere Umgebung weiß, wie wir uns positionieren.“ | |
Nach der Predigt dreht der Priester sich zur Gemeinde um und erklärt in | |
modernem Russisch den Sinn des Bibeltextes und die Bedeutung der | |
Fastenzeit. In Tagen der Not, „einer Krankheit etwa“, würden Menschen | |
besonders intensiv beten, sagt er. So seien in Deutschland während des | |
Zweiten Weltkriegs die Kirchen voll gewesen, danach aber nicht mehr. Das | |
sei falsch, sagt der Priester. Er rät zum Gebet, tief und intensiv. | |
Notlage und Krieg – die Begriffe sind gefallen, aber den aktuellen Konflikt | |
erwähnt der Priester nicht. Schwierig zu verstehen aus deutscher Sicht: | |
Eigentlich müsste es den Menschen in der Kirche doch gehen wie den Figuren | |
in der englischen TV-Serie „Fawlty Towers“: „Don’t mention the war“, | |
beschwört da der Hotelchef sein Personal. Das klappt nicht, alle sprechen | |
ausschließlich über den Krieg. Aber reden, ohne das entscheidende Wort zu | |
nennen, ist eine alte Technik aus Sowjetzeiten, wie in dem Witz von dem | |
Dissidenten, der sich nach einem Freund erkundigt und zur Antwort bekommt: | |
„Ach, der? Der geht nicht, der steht nicht, der liegt nicht.“ | |
## Schulterschluss mit Putin | |
Doch während die Vertreter der Orthodoxie in Deutschland um Frieden beten, | |
aber davor zurückscheuen, eine Seite als schuldig zu betrachten, sieht das | |
im Mutterland Russland anders aus. | |
Wie eng der Schulterschluss zwischen dem Ex-KGB-Mann Wladimir Putin und dem | |
[1][orthodoxen Patriarchen Kirill I.] inzwischen ist, beschreibten | |
zahlreiche Expert*innen, etwa die frühere ARD-Korrespondentin Golineh Atai | |
in ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ oder der Religionssoziologe | |
Detlef Pollack aus Münster, den die Nachrichtenagentur Evangelischer | |
Pressedienst zitiert. | |
Der [2][Moskauer Patriarch] meldete sich auch selbst zu Wort: In einer | |
Predigt am 6. März schwadronierte der 75-Jährige über „sogenannte Werte“ | |
und „schwule Paraden“, die die Bevölkerung im Donbass „ertragen“ müss… | |
Gay Pride ist demnach offenbar ein Grund, einen Krieg anzufangen. | |
Wie gehen Kirchenvertreter in Deutschland mit solchen Aussagen um? „Für die | |
Priester ist der der religiöse Aspekt dessen, was der Patriarch sagt, | |
bindend. Er kann sich aber zu vielen Themen äußern, er hat seine eigene | |
Meinung“, schreibt Baburin. | |
Dann verweist er wieder auf das, was nun praktisch getan werden muss, und | |
freut sich über alle, die Hilfe anbieten. Aktuell sucht die orthodoxe | |
Gemeinde Plätze für 50 Kinder, darunter Kleinstkinder, die aus der Ukraine | |
geflohen sind. | |
22 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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