| # taz.de -- Landtagswahlen im Saarland: Eine Hürde für die Demokratie | |
| > Im Saarland gingen 22,3 Prozent der gültigen Stimmen an Parteien, die an | |
| > der Fünfprozenthürde scheiterten. Es ist Zeit, das Wahlrecht zu | |
| > reformieren. | |
| Bild: Uta Sullenberger, Vorsitzende der Grünen im Saarland, drückt ihrer Part… | |
| Die Grünen sind fast schon zu bemitleiden. 22.598 Saarländer:innen | |
| machten bei der Landtagswahl am Sonntag ihr Kreuz bei der Partei. 22.621 | |
| hätten gereicht, um die Fünfprozenthürde zu knacken. [1][Doch am Ende | |
| fehlten eben 23 Stimmen.] Die Grünen kamen nur auf 4,99502 Prozent und | |
| werden auch im kommenden Landtag nicht vertreten sein. | |
| Ist das gerecht? Muss man deswegen die Fünfprozenthürde infrage stellen? | |
| Nein, denn knappe Wahlergebnisse wird es immer geben. Bei jedem Wahlsystem. | |
| Solche Resultate sind sogar gut für die Demokratie, denn sie beweisen, dass | |
| tatsächlich jede Stimme zählt, jedes Votum am Ende den Ausschlag geben | |
| kann. | |
| Das Problem sind nicht die 23 fehlenden Stimmen der Grünen, es ist viel | |
| größer: Es sind die 100.738 Stimmen der Wähler:innen, die im neuen Landtag | |
| nicht repräsentiert sein werden, weil sie für eine der 15 Parteien votiert | |
| haben, die an der Fünfprozenthürde gescheitert sind. Insgesamt kommen sie | |
| auf 22,3 Prozent der gültigen Stimmen. Fast jede Vierte war am Ende wertlos | |
| – so viele wie noch nie. So wird Demokratie ihrem hohen Anspruch nicht mehr | |
| gerecht, repräsentativ zu sein. | |
| Bisheriger Rekordhalter war nach Angaben des Analyseportals | |
| [2][wahlrecht.de] die Hamburger Bürgerschaftswahl 1997. Damals fielen 19,2 | |
| Prozent aller Stimmen unter den Tisch – unter anderem, weil die | |
| rechtsextreme DVU ähnlich knapp wie diesmal die Grünen scheiterte. Auch bei | |
| der Bundestagswahl 2013 gab es ein ähnlich zweifelhaftes Ergebnis. Da | |
| blieben mehr als 15 Prozent der Wählenden stimmlos im Parlament – was die | |
| Macht der regierenden Großen Koalition noch vergrößerte. | |
| Natürlich mag man sich freuen, wenn Extremisten wie der DVU die Tür vor der | |
| Nase zugeknallt wird. Aber es wäre äußerst bedenklich, ja geradezu | |
| gefährlich, das Wahlsystem von möglicherweise unliebsamen Ausgängen | |
| abhängig zu machen. Zudem zeigt das Saarland gerade, dass es ja zum | |
| kompletten Gegenteil des Gewünschten führen kann: die Extremisten der AfD | |
| sitzen im Parlament. Grüne, FDP, Linke, Tierschützer und Freie Wähler aber | |
| sind draußen. | |
| Diesen fünf Parteien würden ohne Fünfprozenthürde jeweils ein bis zwei | |
| Parlamentssitze zustehen – wenn man die Sitze nach dem im Saarland üblichen | |
| [3][D’Hondt-Verfahren] unter allen Angetretenen verteilen würde. Wäre das | |
| ein Drama? Na gut, vielleicht für die SPD, denn die hätte dann im neuen | |
| Landtag anders als jetzt doch keine absolute Mehrheit und müsste sich einen | |
| Koalitionspartner suchen. Aber ein Wahlsystem, das Parteien, die nur 43,5 | |
| Prozent aller Stimmen bekommen, eine absolute Mehrheit im Parlament | |
| zuschustert, muss sich eh fragen lassen, ob das gerecht sein kann. | |
| ## Die Fünfprozenthürde verzerrt Wahlergebnisse | |
| Als die Fünfprozenthürde in den jungen Jahren der Bundesrepublik eingeführt | |
| wurde, wurde diese mit den Erfahrungen aus der Weimarer Republik begründet. | |
| Da hatten sich bis zu 14 Parteien im Reichstag gedrängelt, eine enorme | |
| Vielfalt, die die Bildung der Regierungen nicht gerade vereinfacht hatte. | |
| In den Nachkriegsjahren wollte man daher vor allem eins: stabile Mehrheiten | |
| für die Regierenden. Dafür etwas weniger Vielfalt. Das wird bis heute von | |
| den Verfassungsgerichten als Begründung akzeptiert. Eine Pflicht für eine | |
| Fünfprozenthürde lässt sich daraus aber nicht ablesen. | |
| Bei Europa- und Kommunalwahlen, bei denen es weniger um Regierungsbildung | |
| geht, wurde die Hürde konsequenterweise schon weitgehend abgeschafft. Aber | |
| mittlerweile weiß man, dass Vielparteienparlamente mit Regierungsaufgaben | |
| kein Drama sein müssen. Selbst Dreiparteienkoalitionen, die vor wenigen | |
| Jahren noch als Untergang des Abendlandes galten, können geräuschlos | |
| arbeiten. Die Kompromissfindung mag etwas mühsamer sein für die | |
| Politiker:innen. Aber Demokratie wurde nicht erfunden, um es den | |
| Regierenden möglichst einfach zu machen. | |
| Wenn die zentrale Begründung für einen rabiaten Einschnitt in das Wahlrecht | |
| der Bürger:innen nicht mehr haltbar ist, wird es Zeit für eine Reform. | |
| Zumal die Fünfprozenthürde nicht nur Stimmen wertlos macht, sie verzerrt | |
| auch Wahlergebnisse. | |
| Parteien, die in Umfragen unter 5 Prozent rutschen, drohen zusätzliche | |
| Stimmenverluste, wenn ihre Wähler:innen nicht mehr an einen Erfolg | |
| glauben und dann lieber gleich für eine andere Partei stimmen. Im Saarland | |
| musste dies gerade die Linkspartei erfahren. Umfragen hatten sie bei 4 | |
| Prozent gesehen, am Ende kam sie gerade noch auf 2,6. Umgekehrt kann die | |
| Stimmabgabe für eine Partei besonders attraktiv sein, wenn die Wähler:in | |
| hoffen kann, sie über die Hürde zu heben und daher aus taktischen Gründen | |
| ihr Kreuz setzt. Das ist nicht gerecht, sondern Wahllotto. | |
| Also weg mit der Fünfprozenthürde? Das wäre konsequent. Aber vielleicht | |
| könnte man – als demokratischen Kompromiss – wenigstens mal über den | |
| [4][Vorschlag von Mehr Demokratie e. V. debattieren]. Der plädiert für eine | |
| Dreiprozenthürde und eine Ersatzstimme: Falls die bevorzugte Partei an der | |
| Sperrklausel scheitert, käme die für sie abgegebene Stimme der auf dem | |
| Wahlzettel als Ersatz angegebenen Partei zu Gute. Das hätte einen Nachteil: | |
| Am Wahlabend würde es so schnell kein klares Ergebnis geben. Das sollte es | |
| einer Demokratie, die repräsentativ sein will, wert sein. | |
| Einfach wird das nicht. Denn das größte Problem bei einer Wahlrechtsreform | |
| sitzt ausgerechnet in den Parlamenten. Die dort vertretenen Parteien | |
| müssten sich dazu durchringen, etwas Macht abzugeben. Das wird ihnen | |
| schwerfallen. | |
| Dabei sollten sie eigentlich erst mal Demut üben. Wenn mehr als 20 Prozent | |
| für Kleinstparteien stimmen, die es womöglich nicht ins Parlament schaffen, | |
| dann stimmt nicht nur beim Wahlrecht etwas nicht, sondern auch bei den | |
| großen Parteien, die diese Menschen nicht mehr erreichen. | |
| 28 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Liveticker-zur-Landtagswahl-im-Saarland/!5844276 | |
| [2] http://wahlrecht.de | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/D%E2%80%99Hondt-Verfahren | |
| [4] https://www.mehr-demokratie.de/presse/einzelansicht-pms/saarland-wahl-offen… | |
| ## AUTOREN | |
| Gereon Asmuth | |
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