Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Ruhe im Heulen der Sirenen
> Die ukrainische Stadt Dnipro nimmt gerade viele Landsleute auf, die aus
> umkämpfteren Gebieten geflüchtet sind. Die Lage ist entspannter – noch.
Bild: Fast friedlich: Nur die Fahnen zeugen auf diesem Bild vom Ausnahmezustand…
Dnipro taz | Von [1][Mariupol] bis Dnipro sind es 350 Kilometer. Heute
verbindet die Straße zwischen den beiden Städten zwei Welten, die durch den
Krieg getrennt wurden. In den letzten Tagen hat Dnipro (bis 2016 hieß die
Stadt Dnipropetrowsk, Anm. d. Redaktion) mehrere Tausend Flüchtlinge aus
Mariupol, Wolnowacha, Sewerodonezk und Wuhledar aufgenommen und sich in
einen großen Umschlagplatz für unglückliche, kriegsmüde Menschen
verwandelt. Sie haben es geschafft, einer wirklichen Hölle zu entkommen, in
die sich ihre Heimatstädte verwandelt haben. Und sie wollen von hier aus
weiter – nach Westen.
„Wir sind am 15. März aus Mariupol losgefahren. Bis Saporischschja haben
wir lange 14 Stunden gebraucht. Dort haben wir übernachtet, dann sind wir
weiter Richtung Dnipro gefahren“, erzählt Olga Gorbatschenko. Sie hat mit
ihrer sechsjährigen Tochter fast drei Wochen unter Beschuss verbracht. Noch
heute zuckt sie bei jedem scharfen Geräusch zusammen, etwa wenn eine Tür
laut zugeschlagen wird oder ein Auto schnell anfährt.
„Wir wurden im Freiwilligenhauptquartier von Dnipro sehr freundlich
empfangen. Man hat uns erst einmal etwas zu essen angeboten. Aber das
wichtigste war, dass man uns eine Schlafmöglichkeit in einer alten Pension
zur Verfügung gestellt hat. Fünf Tage können wir dort kostenlos bleiben.
Aber ich glaube, wir halten das gar nicht aus und fahren weiter – nach
Westen. Verstehen Sie, ich weiß ja gar nicht genau, ob der Krieg bis Dnipro
kommen wird oder nicht. Ich möchte kein Risiko mehr eingehen. Noch ein
zweites Mal möchte ich nicht erleben, [2][was ich in Mariupol erlebt habe,]
ich kann einfach nicht mehr.“
Dieser Meinung sind viele, die heute das relativ ruhige, fast friedliche
Dnipro erreichen. Die Stadt ist jetzt ein Transitpunkt zwischen dem
lodernden Osten und dem zur Zeit noch friedlichen Westen der Ukraine. „Wir
nehmen Tausende Flüchtlinge pro Tag auf. Und wir sind darauf vorbereitet“,
erzählt der Leiter der Territorialverteidigung von Dnipro, Gennadi Korban.
„Wir haben das Chaos an den Bahnhöfen gemeistert. Jetzt läuft der Prozess
der Weiterfahrten organisiert ab.“
## Plötzlich Panik
Am 11. März war am Bahnhof von Dnipro plötzlich Panik ausgebrochen. An
diesem Tag hatten die russischen Aggressoren am frühen Morgen den Flughafen
von Dnipro angegriffen. Auch in eine Schuhfabrik waren Raketen
eingeschlagen. Das war der erste Raketenangriff auf die Stadt. Und die
Einwohner Dnipros, die auf so eine Entwicklung nicht vorbereitet waren,
eilten zum Bahnhof, Menschenmassen verließen die Stadt.
Die Panik hat sich wieder gelegt. [3][Und zusätzliche Züge nach Westen],
deren Zahl mehrfach dringend aufgestockt werden musste, sind jetzt nicht
mehr gefragt. Die meisten von ihnen wurden bereits wieder gestrichen, und
zur Zeit fahren nur zwei Züge von Dnipro nach Westen – nach Chop (Stadt im
Südwesten, im Dreiländereck Ukraine, Ungarn und der Slowakei, Anm. d.
Redaktion) und nach Chełm (poln. Stadt zwischen der ukrainischen Grenze und
Lublin, Anm. der Redaktion).
Generell sind die Menschen in Dnipro eher ruhigere Ukrainer. Man kann sogar
sagen sorglose. Sie reagieren nicht auf das Heulen der Sirenen. Sie
beschleunigen dann nicht ihre Schritte. Sie rennen nicht zu Schutzräumen.
Auf den Spielplätzen spielen die Kinder bei Sirenengeheul ruhig weiter. Die
Flüchtlinge aus Mariupol – und davon gibt es mittlerweile viele in Dnipro –
erkennt man vor diesem Hintergrund schon von Weitem. Sobald sie Sirenen
hören, gehen sie zum Beispiel in den nächsten Supermarkt und fragen, wo
hier ein Keller sei. Die Menschen aus Dnipro reagieren auf diese „Nervösen“
bislang mit Unverständnis. Man will ihnen nur wünschen, dass sie nicht in
die Situation kommen, in der sie ihre Verhaltensmuster ändern müssen.
Die Einheimischen sagen, dass bisher nicht so viele Menschen die Stadt
verlassen haben, wie zu erwarten gewesen wäre. Gerüchten zufolge sind auch
der Oligarch Wiktor Pintschuk und andere Vertreter der Business-Elite des
Landes in Dnipro geblieben. Und dies ist nicht der einzige Faktor, der den
Menschen in Dnipro ein Gefühl der Sicherheit gibt.
„Ich glaube, es sind vor allem Vertreter der Mittelklasse weggegangen.
Einige haben ihre Geschäfte abgewickelt und sich entschieden, den Krieg an
sicheren Orten im Westen abzuwarten. Einige sind in die umliegenden Dörfer
entlang des Flusses Dnipro gefahren, in der Hoffnung, dass es dort weniger
gefährlich ist“, sagt Pjotr aus Dnipro. „Die Menschen hier haben den Krieg
noch nicht gesehen und darum möchten sie nur sehr ungern ihre Häuser und
Wohnungen verlassen. Meine reiche Nachbarin wollte auch lange nicht weg.
Ich habe sie dann überzeugt, doch zu gehen. [4][Denn die Erfahrung aus
Mariupol lehrt], dass es besser ist, auf Nummer sicher zu gehen, und sich
nicht in eine Situation zu bringen, in der es einfach nicht mehr möglich
ist, wegzugehen.“
Pjotr selber will noch nicht weg. Seine Familie ist in Sicherheit und er
hat hier einen Job. Und hofft, dass der Krieg nicht bis Dnipro kommt. Viele
in der Stadt denken wie er. Swetlana hatte Dnipro Ende Februar verlassen
und war nach Chmelnizki (in der Westukraine, Anm. d. Redaktion) zu ihrer
Schwiegermutter gefahren. Aber jetzt ist sie zurück. „Am Anfang habe ich
mich von der allgemeinen Panik anstecken lassen“, erzählt sie, „aber dann
saß ich in Chmelnizki und dachte: Hier braucht mich niemand, ich habe keine
Arbeit. In Dnipro habe ich einen Job und ruhig ist es dort auch. Ich hoffe,
dass das so bleibt. Warum sitze ich hier und störe nur? Tja, und jetzt bin
ich zurück“.
Olga glaubt an die Stärke der städtischen Verteidigung. „Wir haben hier so
eine tolle Verteidigung, einfach wow! Sie haben alle Brücken über den
Dnipro vermint. Die Territorialverteidigung ist motiviert. Wir haben auch
die Fremdenlegion hier. Und auch eine Flugabwehr. Nein, hier kommen die
Russen nicht her“, ist sie überzeugt, und wiederholt damit, was der
Bürgermeister der Stadt, Borys Filatow, fast jeden Tag in seinen
Lagebesprechungen sagt.
## Cafés und Restaurants geöffnet
Dieser hatte wirklich Zeit, sich auf die Verteidigung der Stadt
vorzubereiten, im Gegensatz zum Stadtoberhaupt von Mariupol. Aus der
traurigen Erfahrung des Amtskollegen hat er gelernt und kümmert sich jetzt
in Dnipro aktiv darum, dass die Stadt Lebensmittel- und Trinkwasservorräte
für den Blockadefall hat und Luftschutzräume einrichtet. „Die ganze Stadt �…
die politischen Machthaber, die Wirtschaft und die Bürger – arbeiten
zusammen an der Verteidigung Dnipros. Unsere Stadt steht unter dem Schutz
der ukrainischen Armee und der Territorialverteidigung“, wiederholt Filatow
jeden Tag wie ein Mantra. Und die Leute glauben ihm.
Die Geschäftsleute, die am 24. Februar in einer Welle von Panik massenhaft
ihre Läden, Bars und Unternehmen geschlossen hatten, sind zurück. Alle
großen Unternehmen außer ArcelorMittal (internationaler Stahlkonzern, Anm.
d. Redaktion) haben den Betrieb wieder aufgenommen, sagt Walentin
Resnitschenko, der Chef der Dniproer Gebietsverwaltung.
In Dnipro haben Supermärkte, Einkaufszentren, Kosmetiksalons, Sportstudios,
Cafés und Restaurants geöffnet. Natürlich nicht so wie vor dem Krieg.
Einige Ladeninhaber haben ihre Geschäfte geschlossen und die Stadt
verlassen. Aber die meisten Geschäfte sind offen. Und nur Sandsäcke und die
zum Teil mit Sperrholz vernagelten Fenster deuten darauf hin, dass der
Krieg nahe ist. Der Atem der Stadt wird kühler, aber noch ist er nicht
„gefroren“.
Die Stadt ist das sichere Hinterland der Ukraine. Und gebe Gott, dass dies
auch weiterhin so sein wird.
Aus dem Russischen von [5][Gaby Coldewey]
24 Mar 2022
## LINKS
[1] /Belagerte-Stadt-in-der-Ukraine/!5842898
[2] /Belagerte-Stadt-in-der-Ukraine/!5842898
[3] /Flucht-innerhalb-der-Ukraine/!5837049
[4] /Krieg-in-der-Ukraine/!5843738
[5] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Anna Murlykina
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
Dnipropetrowsk
Mariupol
Wladimir Putin
Oligarchen
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Lesestück Recherche und Reportage
Война и мир – дневник
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kämpfe im Donbass: Flucht im Panzerwagen
Russische Angriffe auf die ukrainisch kontrollierten Teile des Donbass
nehmen zu. Hilfsorganisationen versuchen, Zivilisten zu evakuieren.
Ukrainisch-russisches Tanzpaar: Der Krieg tanzt mit
Anna und Artur aus Bochum gehören zur Weltspitze in den
lateinamerikanischen Tänzen. Was der Angriff Russlands auf die Ukraine für
sie bedeutet.
Воздушная тревога в Киеве: Звук сирены
В Киеве объявлена ​​воздушная тревога не �…
приходит сразу, ведь каждая ракета означае�…
Kriegsverbrechen in der Ukraine: Hoffnung auf Gerechtigkeit
Das Bündnis „Ukraine 5 AM Coalition“ sammelt Beweise für russische
Kriegsverbrechen. Über eine Plattform können Bürger:innen Aussagen
machen.
Sanktionen erreichen Alltag in Moskau: Abschied vom Westen
In Russlands Shoppingmalls gehen viele Lichter aus: Westliche Ketten ziehen
sich zurück. Kunden stehen stundenlang für Kleider und Kosmetik an.
Russ:innen fliehen in den Kaukasus: Fluchtpunkt Armenien
Viele russische Bürger:innen machen sich aus Furcht vor Festnahmen, der
Einberufung und den Folgen westlicher Sanktionen in den Kaukasus auf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.