# taz.de -- Ukrainisch-russisches Tanzpaar: Der Krieg tanzt mit | |
> Anna und Artur aus Bochum gehören zur Weltspitze in den | |
> lateinamerikanischen Tänzen. Was der Angriff Russlands auf die Ukraine | |
> für sie bedeutet. | |
Bild: Anna Salita und Artur Balandin trainieren in Bochum zwei Tage vor der Deu… | |
BOCHUM/BERLIN taz | Berlin-Siemensstadt, es ist Samstag, der 19. März. In | |
wenigen Minuten beginnt in der Mehrzweckhalle die Deutsche Meisterschaft in | |
den lateinamerikanischen Tänzen. Zwischen den Basketballkörben ist | |
Parkettboden ausgelegt, auf den Tischen am Rand liegen blau-gelbe Läufer. | |
Anna Salita trägt einen seidenen Mantel über ihrem Kleid, nur die | |
funkelnden Armreifen verraten, dass es extravagant ist. Nervös schreitet | |
sie auf und ab. Auch ihr Partner Artur Balandin wirkt angespannt. Seine | |
Blicke schweifen durch den Raum, ohne an etwas haften zu bleiben. | |
Das Paar belegt aktuell Platz sechs der Weltrangliste für | |
lateinamerikanische Tänze, ganz oben auf dem Treppchen waren sie bei | |
Deutschen Meisterschaften aber noch nie. Die beiden, Ende 20, haben eine | |
harte Zeit hinter sich. | |
Wegen der Pandemie wurden viele Turniere verschoben oder abgesagt. | |
Tanzunterricht, wovon sie leben, war auch lange nur eingeschränkt möglich. | |
Dann schien sich alles langsam wieder zu normalisieren. Im Oktober 2021 | |
reisten sie zur Europameisterschaft nach Sardinien, wenige Wochen später | |
zur Weltmeisterschaft nach Pforzheim. Und im Januar flogen sie ein paar | |
Tage nach Moskau, um ihren Trainer zu treffen. Hallo Leben, hallo Welt. | |
Doch dann kam der Morgen des 24. Februar. Anna bekam eine | |
Whatsapp-Nachricht von ihrer Mutter. „Bei Oma ist Krieg“, stand darin. Oma | |
lebt bei Cherson in der Ukraine. | |
Anna und Artur wollten am nächsten Tag ins Trainingslager nach Slowenien | |
fliegen. Wie in Trance machten sie mit den Vorbereitungen weiter und | |
packten, die Tickets waren gebucht, der Trainingsplan musste eingehalten | |
werden. | |
Zwei Tage vor der Deutschen Meisterschaft. Anna und Artur sitzen im | |
Vereinslokal des [1][T.T.C. Rot-Weiss-Silber] in Bochum. Der T.T.C. ist ein | |
Name im deutschen Tanzsport, um das Paar herum stehen jede Menge Pokale. | |
Sie füllen eine Vitrine, zwei Regalbretter und fast den ganzen Tresen der | |
Holzbar. | |
„Wir konnten uns das ganze Ausmaß der Tragödie noch nicht richtig | |
vorstellen“, erzählt Artur und rückt die Flasche Wasser, die vor ihm steht, | |
von sich weg. Die beiden tragen Schwarz, Basecap, Lederjacke, Sneaker. | |
Durchtrainiert und mit ebenmäßigen Gesichtszügen sehen sie unwirklich | |
perfekt aus. Wenn da nicht die dunklen Schatten unter den Augen wären. Und | |
die fahrigen Bewegungen. Es ist aber nicht die Deutsche Meisterschaft, die | |
ihnen keine Ruhe lässt, sondern die Sorge um Annas Angehörige in der | |
Ukraine. | |
Wie ernst es ist, hätten sie erst begriffen, als mehr und mehr | |
Schreckensnachrichten eintrafen, sagt Artur, und dann sei ihr Trainer zwei | |
Tage früher als geplant aus Slowenien nach Moskau zurückgeflogen, gerade | |
noch rechtzeitig, bevor Slowenien den Luftraum für russische Maschinen | |
schloss. | |
„Seitdem hat sich unser Leben komplett auf den Kopf gestellt“, sagt Anna, | |
dann versagt ihr kurz die Stimme. „Ich bin beruflich viel am Handy, aber | |
dass es eines Tages notwendig sein würde, jede Stunde bei meiner Familie | |
nachzuhorchen, ob sie noch lebt, ob sie genug zu essen hat, Wasser und | |
Strom, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Sie kämpft mit den | |
Tränen. | |
Und jetzt tanzen? | |
Anna ist auf der Halbinsel Krim geboren und in einem kleinen Dorf nahe der | |
südukrainischen Hafenstadt Cherson aufgewachsen. Weil ihre Mutter damals in | |
den letzten Zügen des Medizinstudiums steckte, schickten die Eltern sie zur | |
Großmutter. Kartoffeln pflanzen, Kühe melken: „Ich war so ein richtiges | |
Dorfkind“, sagt Anna und lacht. Sie liebte das geräumige Haus, mit den | |
Hunden und Katzen zu spielen und mit den anderen Kindern in die | |
Kastanienbäume zu steigen. „Als ich hörte, dass wir uns auf eine große | |
Reise machen, habe ich mich in einer Scheune voller Weizen versteckt“, sagt | |
Anna. „Ich wollte, dass sie mich nicht finden und wir nirgendwohin fahren.“ | |
Aber die Eltern hatten entschieden, im Rahmen des | |
Kontingentflüchtlings-Abkommens nach Deutschland auszuwandern, um Anna und | |
ihrer Schwester eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Eltern des Vaters | |
waren Juden, deshalb gab es die Option. Anna war 8, als das Ruhrgebiet ihre | |
neue Heimat wurde. | |
Auch Artur war 8, als er nach Nordrhein-Westfalen zog. Aus der russischen | |
Stadt Chabarowsk nahe der chinesischen Grenze. Sein Vater arbeitete dort | |
als Flugzeug-Navigator, aber der Beruf war mit dem Aufkommen von | |
Navigationssystemen in Cockpits am Aussterben. Also sagte die Familie ihrer | |
Heimatstadt Lebewohl und folgte dem Großvater, der aufgrund seiner | |
jüdischen Wurzeln nahe Angehörige nachholen durfte. | |
Rund 20 Jahre später sitzen Anna und Artur in dem etwas in die Jahre | |
gekommenen Flachbau ihres Clubs, nebenan eine Autowerkstatt, gegenüber eine | |
Shell-Tankstelle. Sie sollen darüber Auskunft geben, wie sich der Krieg auf | |
ihre eigene, ganz persönliche russisch-ukrainische Beziehung auswirkt, | |
obwohl das doch eigentlich noch nie ein Thema zwischen ihnen war, obwohl | |
sie sich als Weltbürger:innen verstehen. Schöne Scheiße. | |
Doch – Stichwort Zeitenwende – es spielt eben wieder eine Rolle, ob man | |
russische oder ukrainische Wurzeln hat, deutscher Pass hin oder her. Jeden | |
Moment kann der neue Unterschied wieder auf sich aufmerksam machen. Nicht | |
nur, wenn am Tanzflächenrand Menschen, die russisch sprechen, offen | |
angefeindet werden, was Artur bei Tanzwettbewerben schon öfters mitbekommen | |
hat. Sondern vor allem, wenn Anna wieder Whatsapp-Nachrichten aus der | |
Ukraine bekommt. | |
Die Familie ihrer Mutter, die Großeltern, die Tante, eine Cousine und ein | |
Cousin befinden sich noch [2][in der Region um Cherson]. Die Großeltern | |
sind für die Flucht zu alt, aber es gibt auch keine sicheren Korridore. | |
„Drum herum ist alles besetzt“, sagt Anna. „Ein paar Straßen weiter steh… | |
die Panzer. Meine Familie sieht die Raketen, hört Schüsse.“ | |
In den ersten Tagen des Krieges seien ihre Verwandten ständig in die Keller | |
geflüchtet, hätten Aufklappbetten zwischen die Regale mit den eingelegten | |
Gurken und Tomaten gestellt und gewartet. Inzwischen machten sie das nur | |
noch, erzählt Anna, wenn die Explosionen besonders heftig sind. Diese | |
Gewöhnung findet sie besonders unerträglich. „Für meine Verwandten ist es | |
jetzt schlimmer, wenn nichts passiert, weil sie dann nicht wissen, was | |
kommt.“ Als sie das thematisierte, hätten die Verwandten geantwortet: „Das | |
ist jetzt unsere neue Realität.“ Anna überlegt, wie sie das Zitat am besten | |
übersetzen soll: „Die Bomben können explodieren, die Schüsse können falle… | |
aber arbeiten müssen die Menschen trotzdem“, sagt sie. | |
„Meine Oma hatte keine Milch mehr und jemand hat ihr Milch gebracht. Sie | |
hat im Austausch Eier gegeben.“ Die Menschen seien dort enger | |
zusammengerückt. Das mache ihr Mut, sagt Anna. Sie erzählt gerne von den | |
Verwandten. Artur ist da zurückhaltender. Er hebt das Ganze lieber auf eine | |
allgemeine Stufe. Während des Gesprächs wirft er Anna immer wieder besorgte | |
Blicke zu. Als sie sich zu ihm an den Tisch setzt, flüstert er: „Ich habe | |
Feigen und Nüsse für dich dabei.“ Doch als Anna fast zu weinen beginnt, | |
blickt er hilflos auf seine Hände. | |
Artur erzählt von Kolleg:innen in Kiew und Moskau, Bekanntschaften von | |
Trainingscamps und Turnieren. Auch die Freunde in Moskau hätten Angst. | |
Angst davor, bestimmte Sachen zu unternehmen, Angst wegen der | |
wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen. Vor ein paar Tagen habe sie | |
zufällig eine Werbung für Bräunungscreme gesehen, sagt Anna. Sie koste in | |
Russland jetzt fast doppelt so viel wie vor dem Krieg. Das sei natürlich | |
kaum noch zu bezahlen. | |
Anna und Artur finden es schwierig, wenn jetzt überall die Forderungen laut | |
werden, dass die russische Bevölkerung gegen den Krieg demonstrieren soll. | |
„Der Punkt ist ja der: In erster Linie denkst du daran, dass du etwas zu | |
essen hast“, sagt Artur. „Aber wenn die Grenzen dicht sind: Wer sind dann | |
deine Arbeitgeber? Das sind die Leute, die sich im Land befinden. Möchtest | |
du die verärgern?“ | |
„Wir sagen hier aus der Möglichkeit einer freien Meinung heraus: Hey, es | |
wäre super, wenn ihr euch dazu äußert“, sagt Anna. „Aber die Leute in | |
Russland müssen sich zwei Mal überlegen, ob sie auf die Barrikaden gehen, | |
auch, weil im Zweifelsfall das Leben ihrer ganzen Familie dranhängt.“ | |
„Es ist eine kleine Gruppe, die damit angefangen hat“, sagt Artur. Deshalb | |
dürfe man jetzt auch nicht allen Russinnen und Russen dieser Welt die | |
Schuld an dem Angriff auf die Ukraine geben. | |
Die beiden versuchen, ihre Verbindungen zu den Freund:innen in Russland | |
nicht abreißen zu lassen. „Sie bekommen gerade sehr viel Hass ab“, sagt | |
Artur. „Das geht so weit, dass der Kontakt zu ihnen abgebrochen wird.“ Auch | |
ihr Moskauer Trainer fürchtete, dass der Krieg Auswirkungen auf ihre | |
Beziehung haben könnte. „Da haben wir gesagt: ‚Auf gar keinen Fall, du hast | |
doch nichts damit zu tun.‘“ | |
„Ich finde schlimm, dass es gerade so viel Wut und Hass gibt“, sagt Artur. | |
Er würde sich wünschen, dass man seine Energie jetzt nicht darauf | |
verschwendet, wahllos russischsprachige Menschen anzufeinden. „Das trifft | |
meistens sowieso die Falschen. Stattdessen soll man sich lieber darauf | |
konzentrieren, wie man helfen kann. Es gibt genug Möglichkeiten.“ | |
Dieser neue Unterschied. Anna und Artur haben sich entschieden, dagegen an | |
zu tanzen, auch wenn es schwerfällt. „In den ersten Tagen haben wir noch | |
gedacht: Wie, Deutsche Meisterschaft?!“, erzählt Artur. Dass sie überhaupt | |
stattfindet, wollte nicht in ihre Realität passen. Aber wie haben es Annas | |
Verwandte in der Ukraine ausgedrückt? „Die Bomben können explodieren, die | |
Schüsse können fallen, aber arbeiten müssen die Menschen trotzdem.“ | |
Also haben sich Anna und Artur in ihre Arbeit gestürzt. Die war auch schon | |
ohne Krieg stressig genug: Ständig neue Choreografien einstudieren, | |
Ballettunterricht, Fitnesstraining, dann das Reisen, die Wettbewerbe, der | |
Unterricht an verschiedenen Tanzschulen, den sie selbst geben, um sich den | |
teuren, zum großen Teil privat finanzierten Sport leisten zu können. Jetzt | |
hat das aber alles nochmal eine neue Dimension erreicht. | |
Vor allem für Anna. Zum Beispiel an diesem Donnerstag. Da muss sie sich | |
darum kümmern, dass ihr Kleid, das sie bei der Meisterschaft tragen will, | |
rechtzeitig aus Spanien ankommt. Außerdem müssen ihr Patenkind und dessen | |
Mutter, die vor wenigen Tagen aus Kiew zu ihnen geflüchtet sind, eine | |
vorübergehende Bleibe beziehen. Zwischendurch immer wieder Anrufe. | |
Mal meldet sich ein alter Bekannter, der seine Hotelzimmer an ukrainische | |
Geflüchtete vergeben will, dann ruft die Tante eines Jungen an, er ist eben | |
aus der Ukraine angekommen und will sein Tanztraining in Deutschland wieder | |
aufnehmen. „Früher gab es Nachrichten, die nicht so dringend waren“, sagt | |
Anna. „Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich alles sofort beantworten muss.“ | |
Noch in der Woche, in der sie aus Slowenien zurückkamen, halfen sie mit, | |
einen Hilfskonvoi in die Ukraine zu organisieren, und riefen zu Spenden | |
auf. Es sei überwältigend gewesen, wie viel ihre Community, von der viele | |
gar keinen persönlichen Bezug zur Ukraine haben, vorbeigebracht hätte, sagt | |
Artur und blickt sich um. Das halbe Vereinslokal sei mit Nahrungsmitteln | |
und Medikamenten zugestellt gewesen. | |
Im linken Tanzsaal hat eben ein Gruppentraining für Disco Dance begonnen. | |
Der Tanz beinhaltet cheerleaderähnliche Sprünge und scheint vor allem bei | |
Mädchen im Teenageralter beliebt zu sein. Das jedenfalls lässt sich durch | |
ein großes langgezogenes Fenster beobachten. Wie absurd es wirkt, sich über | |
Krieg, Tod und Verzweiflung zu unterhalten, während im Hintergrund junge | |
Frauen herumhüpfen. | |
Es erinnert Anna und Artur daran, dass sie sich aufwärmen müssen. Im Saal | |
rechts breiten sie ihre Yogamatten aus. Artur tippt auf sein Handy. Ein | |
ruhiger, russischer Rap-Song schallt über die Lautsprecheranlage in den | |
Raum. Während Artur sich langsam dehnt, macht Anna ein paar kräftigende | |
Sit-ups. Von außen betrachtet wirkt es so, als ob in diesem Moment alles | |
von ihnen abfällt, als seien sie weit entfernt, in ihrer eigenen Welt. | |
Deutschland, das sei für sie das Land der automatischen Schiebetüren, | |
Einkaufschips und Busfahrpläne gewesen, hatte Anna erzählt. Sie habe sich | |
als Achtjährige unheimlich unter Druck gesetzt, um alles, was auf sie | |
einstürmte, zu verstehen. Die Förderklasse, in der sie mit den anderen | |
zugezogenen Kindern Deutsch büffelte, konnte sie bereits nach drei Monaten | |
wieder verlassen. Es habe dann aber schon noch eine Weile gedauert, bis sie | |
im regulären Unterricht mitgekommen sei. | |
Getanzt hatte Anna schon in der Ukraine. Neben der Schule. Volkstanz, dazu | |
ein paar Basics in Ballett und Standardtanz. | |
In Deutschland machte sie weiter, probierte einiges aus und blieb dann bei | |
den lateinamerikanischen Tänzen hängen. Und das, obwohl sie die Probestunde | |
in traumatischer Erinnerung hat. „Ich wusste nicht, was man anhaben muss, | |
also habe ich das Aufwärmen auf Socken mitgemacht.“ Aber das Parkett war | |
ziemlich rutschig, mitten im Laufen knallte sie hin. Sie lief zu ihrer | |
Mutter ins Foyer, aber die schickte sie wieder zurück. „Und das Tanzen | |
selbst hat mir dann unfassbar viel Spaß gemacht“, sagt Anna. | |
Auch Artur kam durch seine Mutter zum Tanzen. Die hatte ihn, kaum in | |
Deutschland angekommen, zum Russisch-Unterricht angemeldet, damit er seine | |
Muttersprache nicht vergisst. Im Kurs gab es ein Mädchen, das einen | |
Tanzpartner suchte. „Und weil ich in dem Alter fast alles gemacht habe, was | |
mir meine Mama vorschlug, habe ich gesagt: Warum nicht?“ In der | |
Kindertanzgruppe traf er dann auf Anna. | |
„Sie machte vor dem Training ganz alleine im Saal einen Spagat“, sagt | |
Artur. „Da dachte ich: Oha, alles klar.“ Aber zunächst tanzten sie | |
getrennt. Anna hatte ein Jahr Leistungsvorsprung. Erst mit 18 ergab sich | |
die Gelegenheit, beide waren gleichzeitig tänzerisch solo. Allerdings sagte | |
der Trainer, sie würden nicht zusammenpassen. Also bereiteten sie eine | |
Choreografie vor, und als sie fertig mit dem Vortanzen waren, soll er | |
gesagt haben: „Na ja, vielleicht funktioniert es doch.“ | |
Und: Warum hat es dann funktioniert? | |
„Meine Mutter meint, dass wir schon in der Kindergruppe die einzigen beiden | |
Verrückten waren, die es wirklich wollten“, sagt Anna. Sie erinnert sich | |
daran, wie sie sich nach der Schule immer mit Artur an der Bushaltestelle | |
traf, um direkt zum Training zu fahren. „Es gab für uns nichts anderes als | |
Tanzen, aber es hat uns keiner dazu gezwungen, das war der ausschlaggebende | |
Punkt.“ | |
Artur startet auf seinem Handy ein Video, das bei ihrer Kür bei der | |
Weltmeisterschaft 2019 in Moskau entstanden ist. Man sieht, wie er und Anna | |
sich zu melancholischer Klaviermusik durch einen altehrwürdigen Saal | |
bewegen. „Das war im Kreml“, sagt Artur. Ein einmaliges, vielleicht sogar | |
das größte Erlebnis ihrer bisherigen Tanzkarriere, denn normalerweise sei | |
dieser Saal nicht für jeden zugänglich: Doch an diesem Tag tanzten Anna und | |
Artur dort, wo einige ihrer größten Idole getanzt hatten. „Uns hat | |
besonders gefreut, dass wir als deutsches Paar so warm empfangen wurden, | |
obwohl die russische Bevölkerung eigentlich eher patriotisch ist“, sagt | |
Anna. | |
Sie sind jetzt fertig mit dem Aufwärmen. Anna zerrt an ihrem Zopfgummi. Es | |
hat sich in ihren Haaren verfangen. Artur kommt zu Hilfe und zieht geduldig | |
Strähne für Strähne heraus. Bevor Anna in die Riemchensandalen mit den | |
hohen Absätzen schlüpft, rollt sie ihre Fußsohlen über einen kleinen, | |
orangenen Ball, dabei wischt sie gedankenverloren über ihren | |
Handybildschirm. Ob sie gerade eine Nachricht von ihrer Familie aus der | |
Ukraine bekommen hat? | |
Artur macht einen Samba an. Mit den schnellen, lebenslustigen Rhythmen | |
verändert sich auch die Stimmung im Saal. Artur tippelt ein paar Schritte | |
vor, schwingt die Hüfte, dann fliegt er fast durch den Raum, Anna dreht | |
sich erst langsam, dann immer schneller um die eigene Achse. | |
Mal tanzen die beiden für sich alleine, dann greift seine Hand nach ihrer, | |
wirbelt sie links herum, rechts herum, in einem irren Tempo. Dann brechen | |
sie plötzlich ab. | |
„Wenn du das am Anfang machst, musst du mir auch aus dem Weg gehen“, sagt | |
Anna. „Gerade bestimmst du, wann wir anfangen und dann muss ich anderthalb | |
Minuten überbrücken“, sagt Artur. „Das ist nicht, was ich spüre“, sagt | |
Anna. | |
Sie versuchen, die Schrittfolge noch einmal zu tanzen. Anna gibt den Takt | |
vor: „A one, a two, a three“, dann zählt sie auf Russisch weiter. | |
Sie: „Ich fange an.“ | |
Er: „–“ | |
Es hakt wieder. | |
Er: „Das ist genau, was du gesagt hast.“ | |
Sie: „Willst du mich verarschen?“ | |
Er lacht, sie rollt mit den Augen. | |
Er: „Möchtest du es zu einem neuen Lied probieren?“ | |
Früher war es so, dass der Mann führte und die Frau folgte, erzählen Anna | |
und Artur später, aber diese Zeiten seien lange vorbei. Für die beiden ist | |
das Tanzen ein Aushandlungsprozess und da gehören Diskussionen einfach | |
dazu. | |
„Wir wollen keine Lösung finden, die auf Kosten des anderen geht. Wir | |
versuchen, eine Lösung zu finden, die uns beiden gut tut“, sagt Anna. | |
„Unsere Mentalität ist sehr leistungsorientiert“, erzählt sie. „Wenn El… | |
ihr Kind zu einer Freizeitaktivität anmelden, dann wollen sie, dass es auch | |
etwas lernt. Das kenne ich von meiner Mutter und das kennt sie von ihren | |
Eltern aus Sibirien.“ | |
Sibirien? Da wird es auf einmal wieder kompliziert. Weil nicht nur ihre | |
Mutter andere Wurzeln hat, sondern auch die von Artur. Annas Mutter ist in | |
Russland geboren, Arturs Mutter stammt aus der Ukraine. | |
„Rein geschichtlich betrachtet sind Russland und die Ukraine zwei | |
verbrüderte Nationen“, sagt Artur. „Das macht das Ganze umso tragischer.“ | |
Zwar könnten die meisten Menschen in der Ukraine auch Russisch, im | |
Gegensatz zu den Menschen in Russland, von denen kaum jemand Ukrainisch | |
verstehe. Aber abgesehen davon gebe es viele Gemeinsamkeiten zwischen den | |
beiden Ländern. Und in der Alltagskultur kaum einen Unterschied. | |
„Wir essen mehr oder weniger dasselbe, hören dieselbe Musik und gucken | |
dieselben Filme“, sagt Anna. Sie und Artur sprechen miteinander Deutsch und | |
Russisch, nach wie vor. | |
Es fühlt sich jetzt manchmal nur komisch an, zu tanzen. Das hat Anna ihren | |
Verwandten in Cherson auch vor dem Wettbewerb um die Deutsche Meisterschaft | |
erzählt. Doch die hätten sie ermutigt anzutreten, erzählt sie. „Wir senden | |
dir Stärke und sind bei dir“, schrieben sie. | |
Die Liebe zum Tanzen ist in beiden Ländern so groß wie in Deutschland die | |
Liebe zum Fußball. Dabei geht es nicht nur um Ballett, sondern auch um | |
Volkstänze, Standardtänze und lateinamerikanische Tänze. „Ob auf | |
Stadtfesten oder bei Familienfeiern: Es wird eigentlich immer getanzt und | |
das schon von Kindesbeinen an“, sagt Anna. | |
Artur sagt, fast jede osteuropäische Mutter möchte, dass ihr Kind tanzt. | |
Weil es beim Tanzen lerne, wie es sich zu bewegen hat – und wie ein Mann | |
mit einer Frau umgeht und andersherum. | |
Vor allem über das Fernsehen wird die Leidenschaft weitergetragen. „In | |
Russland wie in der Ukraine wird in den Nationalnachrichten berichtet, wenn | |
ein Paar bei der Europameisterschaft im Finale steht“, sagt Anna. Und | |
getanzt wird in beiden Ländern bis in die höchsten Kreise. Wolodimir | |
Selenski [3][gewann 2006 beim ukrainischen Pendant von „Let’s Dance“]. | |
Zwei Tage nach dem Gespräch im Tanzclub: die Deutsche Meisterschaft. Auf | |
dem Weg zu dem großen Sportzentrum im Berliner Stadtteil Siemensstadt kommt | |
man an einem Containerdorf vorbei, vor dem viele Autos mit ukrainischem | |
Kennzeichen stehen. Vor dem verwinkelten Gebäude des Sportzentrums sind | |
viele festlich gekleidete Leute zu sehen. | |
Es herrscht großer Andrang. Bevor es hineingeht, wird noch schnell die | |
FFP2-Maske übergezogen. Drinnen sieht man Kinder in ein Schwimmbecken | |
springen, links geht es in eine Mehrzweckhalle. Über der Tanzfläche hängen | |
Lampions, die in den späteren Abendstunden blau und gelb leuchten. | |
Eine alte Frau bringt belegte Brötchen und Streuselkuchen an die Tische, | |
später gibt es Sekt. Die Atmosphäre ist eine bizarre Mischung aus | |
Kaffeeklatsch und Glamour. Als Anna hereinkommt, hat ihr Gesicht einen | |
bronzefarbenen Teint, vier Stunden dauert das Schminken, hat sie erzählt. | |
Es ist auffällig, wie viele im Saal einen osteuropäischen Hintergrund | |
haben. Etliche Namen der Tanzpaare deuten darauf hin, immer wieder hört man | |
im Publikum Satzfetzen, die slawisch klingen. „Dawai! Dawai!“, rufen sie | |
später, um ihre Favoriten anzufeuern. Es gebe in Deutschland Tanzclubs, in | |
denen finde der Unterricht komplett auf Russisch statt, erzählt eine | |
Fotografin, die mit am Tisch sitzt. | |
Bevor es losgeht, bittet der Moderator, sich für eine Gedenkminute zu | |
erheben. Er verurteilt den russischen Angriffskrieg im Namen des Deutschen | |
Tanzsportverbands aufs Schärfste. „Unsere Gedanken sind bei den Opfern und | |
ihren Angehörigen“, sagt er. „Gewalt und Krieg dürfen keinen Platz haben.… | |
Die Menschen applaudieren. | |
Der Wettbewerb beginnt, viele Tanzpaare tragen blau-gelbe Schleifen an | |
ihren Kostümen. Anna und Artur haben die Startnummer 5. Die Paare treten in | |
ausgelosten Gruppen gegeneinander an und präsentieren ihre Choreografien. | |
Samba, Rumba, Cha-Cha-Cha, Paso Doble und Jive. Jede Tanzeinlage dauert | |
maximal zwei Minuten, dann ist schon die nächste Gruppe dran. | |
Anna sieht in ihrem zitronengelben Kleid mit der gefiederten Schleppe wie | |
eine moderne Flamenco-Tänzerin aus, Artur tritt mit seinem schlichten | |
schwarzen Outfit unprätentiös in den Hintergrund. Im Gegensatz zu so | |
manchem anderen Paar sind sie perfekt aufeinander eingespielt. Ihre | |
Bewegungen sind präzise, fließend, filigran. Während sie eine große Eleganz | |
ausstrahlt, haben seine Sprünge und Drehungen etwas Schelmenhaftes. Die | |
beiden schaffen es von der Vorrunde über das Viertel- und Halbfinale bis | |
ins Finale. | |
Sie tanzen die einstudierten Schrittfolgen in den fünf Tänzen jede Runde | |
aufs Neue so, als wäre es ihr erster Tanz. Und lächeln – immer. | |
Doch das ist ihr Job. Die Tänze bieten Zerstreuung und sie verkörpern | |
Träume, die ihr Publikum gerade dringender denn je nötig hat. Auch die | |
zierliche Frau mit der Nerzstola erzählt, dass ihre Mutter gerade im | |
Bombenhagel in der Ukraine festsitzt. „Ich denke die ganze Zeit an euch“, | |
sagt die Nachbarin am Tisch während einer Pause. Man spürt, wie wohltuend | |
dieser Austausch ist. | |
„Dann wollen wir mal“, sagt der Moderator und ruft die sechs Paare für das | |
Finale aufs Parkett. Wieder Samba, Rumba, Cha-Cha-Cha, Paso Doble, Jive. | |
Mit ungeübtem Auge sind die Unterschiede zwischen den Paaren kaum | |
erkennbar. Während die Konkurrenz beim Paso Doble vielleicht eine Spur | |
ausdrucksstärker ist, wirken Anna und Artur bei der Rumba ein wenig | |
verliebter. Favoriten an diesem Abend sind wie schon seit 2015 Khrystyna | |
Moshenska und Marius-Andrei Balan. Bis auf ein Mal haben sie in jedem Jahr | |
den Titel gewonnen, auch international sind sie extrem erfolgreich. Heute | |
gewinnen sie wieder. Anna Salita und Artur Balandin werden Zweite. | |
Bei der Siegerehrung tragen beide Frauen die ukrainische Flagge um die | |
Schultern. Danach umarmen sich Anna Salita und Khrystyna Moshenska lange. | |
Am nächsten Tag im Frühstücksraum des Hotels. Auf dem riesigen | |
Fernsehbildschirm an der Wand läuft NTV mit News aus der Ukraine, Anna | |
sitzt etwas ermattet im Trainingsanzug am Tisch. Die ukrainische | |
Nationalflagge würde sie sich normalerweise nicht umhängen. „Wir leben in | |
Deutschland, wir repräsentieren Deutschland, aber es war uns wichtig, | |
Solidarität zu zeigen“, sagt sie. „Einerseits fühlt es sich komisch an, | |
dass solche Veranstaltungen gerade stattfinden, andererseits haben wir für | |
die Menschen in der Ukraine getanzt.“ | |
Sie ist froh, dass ihre Eltern, die beim Wettbewerb waren, währenddessen | |
kleine Handyvideos nach Cherson geschickt haben. So konnten ihre Verwandten | |
wenigstens ein bisschen dabei sein. | |
2 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ttc-bochum.de/ | |
[2] /Ukraine-in-der-Gegenoffensive/!5843972 | |
[3] https://www.express.de/politik-und-wirtschaft/lets-dance-ukraine-praesident… | |
## AUTOREN | |
Anna Fastabend | |
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