| # taz.de -- Ukrainisch-russisches Tanzpaar: Der Krieg tanzt mit | |
| > Anna und Artur aus Bochum gehören zur Weltspitze in den | |
| > lateinamerikanischen Tänzen. Was der Angriff Russlands auf die Ukraine | |
| > für sie bedeutet. | |
| Bild: Anna Salita und Artur Balandin trainieren in Bochum zwei Tage vor der Deu… | |
| Bochum/Berlin taz | Berlin-Siemensstadt, es ist Samstag, der 19. März. In | |
| wenigen Minuten beginnt in der Mehrzweckhalle die Deutsche Meisterschaft in | |
| den lateinamerikanischen Tänzen. Zwischen den Basketballkörben ist | |
| Parkettboden ausgelegt, auf den Tischen am Rand liegen blau-gelbe Läufer. | |
| Anna Salita trägt einen seidenen Mantel über ihrem Kleid, nur die | |
| funkelnden Armreifen verraten, dass es extravagant ist. Nervös schreitet | |
| sie auf und ab. Auch ihr Partner Artur Balandin wirkt angespannt. Seine | |
| Blicke schweifen durch den Raum, ohne an etwas haften zu bleiben. | |
| Das Paar belegt aktuell Platz sechs der Weltrangliste für | |
| lateinamerikanische Tänze, ganz oben auf dem Treppchen waren sie bei | |
| Deutschen Meisterschaften aber noch nie. Die beiden, Ende 20, haben eine | |
| harte Zeit hinter sich. | |
| Wegen der Pandemie wurden viele Turniere verschoben oder abgesagt. | |
| Tanzunterricht, wovon sie leben, war auch lange nur eingeschränkt möglich. | |
| Dann schien sich alles langsam wieder zu normalisieren. Im Oktober 2021 | |
| reisten sie zur Europameisterschaft nach Sardinien, wenige Wochen später | |
| zur Weltmeisterschaft nach Pforzheim. Und im Januar flogen sie ein paar | |
| Tage nach Moskau, um ihren Trainer zu treffen. Hallo Leben, hallo Welt. | |
| Doch dann kam der Morgen des 24. Februar. Anna bekam eine | |
| Whatsapp-Nachricht von ihrer Mutter. „Bei Oma ist Krieg“, stand darin. Oma | |
| lebt bei Cherson in der Ukraine. | |
| Anna und Artur wollten am nächsten Tag ins Trainingslager nach Slowenien | |
| fliegen. Wie in Trance machten sie mit den Vorbereitungen weiter und | |
| packten, die Tickets waren gebucht, der Trainingsplan musste eingehalten | |
| werden. | |
| Zwei Tage vor der Deutschen Meisterschaft. Anna und Artur sitzen im | |
| Vereinslokal des [1][T.T.C. Rot-Weiss-Silber] in Bochum. Der T.T.C. ist ein | |
| Name im deutschen Tanzsport, um das Paar herum stehen jede Menge Pokale. | |
| Sie füllen eine Vitrine, zwei Regalbretter und fast den ganzen Tresen der | |
| Holzbar. | |
| „Wir konnten uns das ganze Ausmaß der Tragödie noch nicht richtig | |
| vorstellen“, erzählt Artur und rückt die Flasche Wasser, die vor ihm steht, | |
| von sich weg. Die beiden tragen Schwarz, Basecap, Lederjacke, Sneaker. | |
| Durchtrainiert und mit ebenmäßigen Gesichtszügen sehen sie unwirklich | |
| perfekt aus. Wenn da nicht die dunklen Schatten unter den Augen wären. Und | |
| die fahrigen Bewegungen. Es ist aber nicht die Deutsche Meisterschaft, die | |
| ihnen keine Ruhe lässt, sondern die Sorge um Annas Angehörige in der | |
| Ukraine. | |
| Wie ernst es ist, hätten sie erst begriffen, als mehr und mehr | |
| Schreckensnachrichten eintrafen, sagt Artur, und dann sei ihr Trainer zwei | |
| Tage früher als geplant aus Slowenien nach Moskau zurückgeflogen, gerade | |
| noch rechtzeitig, bevor Slowenien den Luftraum für russische Maschinen | |
| schloss. | |
| „Seitdem hat sich unser Leben komplett auf den Kopf gestellt“, sagt Anna, | |
| dann versagt ihr kurz die Stimme. „Ich bin beruflich viel am Handy, aber | |
| dass es eines Tages notwendig sein würde, jede Stunde bei meiner Familie | |
| nachzuhorchen, ob sie noch lebt, ob sie genug zu essen hat, Wasser und | |
| Strom, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Sie kämpft mit den | |
| Tränen. | |
| Und jetzt tanzen? | |
| Anna ist auf der Halbinsel Krim geboren und in einem kleinen Dorf nahe der | |
| südukrainischen Hafenstadt Cherson aufgewachsen. Weil ihre Mutter damals in | |
| den letzten Zügen des Medizinstudiums steckte, schickten die Eltern sie zur | |
| Großmutter. Kartoffeln pflanzen, Kühe melken: „Ich war so ein richtiges | |
| Dorfkind“, sagt Anna und lacht. Sie liebte das geräumige Haus, mit den | |
| Hunden und Katzen zu spielen und mit den anderen Kindern in die | |
| Kastanienbäume zu steigen. „Als ich hörte, dass wir uns auf eine große | |
| Reise machen, habe ich mich in einer Scheune voller Weizen versteckt“, sagt | |
| Anna. „Ich wollte, dass sie mich nicht finden und wir nirgendwohin fahren.“ | |
| Aber die Eltern hatten entschieden, im Rahmen des | |
| Kontingentflüchtlings-Abkommens nach Deutschland auszuwandern, um Anna und | |
| ihrer Schwester eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Eltern des Vaters | |
| waren Juden, deshalb gab es die Option. Anna war 8, als das Ruhrgebiet ihre | |
| neue Heimat wurde. | |
| Auch Artur war 8, als er nach Nordrhein-Westfalen zog. Aus der russischen | |
| Stadt Chabarowsk nahe der chinesischen Grenze. Sein Vater arbeitete dort | |
| als Flugzeug-Navigator, aber der Beruf war mit dem Aufkommen von | |
| Navigationssystemen in Cockpits am Aussterben. Also sagte die Familie ihrer | |
| Heimatstadt Lebewohl und folgte dem Großvater, der aufgrund seiner | |
| jüdischen Wurzeln nahe Angehörige nachholen durfte. | |
| Rund 20 Jahre später sitzen Anna und Artur in dem etwas in die Jahre | |
| gekommenen Flachbau ihres Clubs, nebenan eine Autowerkstatt, gegenüber eine | |
| Shell-Tankstelle. Sie sollen darüber Auskunft geben, wie sich der Krieg auf | |
| ihre eigene, ganz persönliche russisch-ukrainische Beziehung auswirkt, | |
| obwohl das doch eigentlich noch nie ein Thema zwischen ihnen war, obwohl | |
| sie sich als Weltbürger:innen verstehen. Schöne Scheiße. | |
| Doch – Stichwort Zeitenwende – es spielt eben wieder eine Rolle, ob man | |
| russische oder ukrainische Wurzeln hat, deutscher Pass hin oder her. Jeden | |
| Moment kann der neue Unterschied wieder auf sich aufmerksam machen. Nicht | |
| nur, wenn am Tanzflächenrand Menschen, die russisch sprechen, offen | |
| angefeindet werden, was Artur bei Tanzwettbewerben schon öfters mitbekommen | |
| hat. Sondern vor allem, wenn Anna wieder Whatsapp-Nachrichten aus der | |
| Ukraine bekommt. | |
| Die Familie ihrer Mutter, die Großeltern, die Tante, eine Cousine und ein | |
| Cousin befinden sich noch [2][in der Region um Cherson]. Die Großeltern | |
| sind für die Flucht zu alt, aber es gibt auch keine sicheren Korridore. | |
| „Drum herum ist alles besetzt“, sagt Anna. „Ein paar Straßen weiter steh… | |
| die Panzer. Meine Familie sieht die Raketen, hört Schüsse.“ | |
| In den ersten Tagen des Krieges seien ihre Verwandten ständig in die Keller | |
| geflüchtet, hätten Aufklappbetten zwischen die Regale mit den eingelegten | |
| Gurken und Tomaten gestellt und gewartet. Inzwischen machten sie das nur | |
| noch, erzählt Anna, wenn die Explosionen besonders heftig sind. Diese | |
| Gewöhnung findet sie besonders unerträglich. „Für meine Verwandten ist es | |
| jetzt schlimmer, wenn nichts passiert, weil sie dann nicht wissen, was | |
| kommt.“ Als sie das thematisierte, hätten die Verwandten geantwortet: „Das | |
| ist jetzt unsere neue Realität.“ Anna überlegt, wie sie das Zitat am besten | |
| übersetzen soll: „Die Bomben können explodieren, die Schüsse können falle… | |
| aber arbeiten müssen die Menschen trotzdem“, sagt sie. | |
| „Meine Oma hatte keine Milch mehr und jemand hat ihr Milch gebracht. Sie | |
| hat im Austausch Eier gegeben.“ Die Menschen seien dort enger | |
| zusammengerückt. Das mache ihr Mut, sagt Anna. Sie erzählt gerne von den | |
| Verwandten. Artur ist da zurückhaltender. Er hebt das Ganze lieber auf eine | |
| allgemeine Stufe. Während des Gesprächs wirft er Anna immer wieder besorgte | |
| Blicke zu. Als sie sich zu ihm an den Tisch setzt, flüstert er: „Ich habe | |
| Feigen und Nüsse für dich dabei.“ Doch als Anna fast zu weinen beginnt, | |
| blickt er hilflos auf seine Hände. | |
| Artur erzählt von Kolleg:innen in Kiew und Moskau, Bekanntschaften von | |
| Trainingscamps und Turnieren. Auch die Freunde in Moskau hätten Angst. | |
| Angst davor, bestimmte Sachen zu unternehmen, Angst wegen der | |
| wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen. Vor ein paar Tagen habe sie | |
| zufällig eine Werbung für Bräunungscreme gesehen, sagt Anna. Sie koste in | |
| Russland jetzt fast doppelt so viel wie vor dem Krieg. Das sei natürlich | |
| kaum noch zu bezahlen. | |
| Anna und Artur finden es schwierig, wenn jetzt überall die Forderungen laut | |
| werden, dass die russische Bevölkerung gegen den Krieg demonstrieren soll. | |
| „Der Punkt ist ja der: In erster Linie denkst du daran, dass du etwas zu | |
| essen hast“, sagt Artur. „Aber wenn die Grenzen dicht sind: Wer sind dann | |
| deine Arbeitgeber? Das sind die Leute, die sich im Land befinden. Möchtest | |
| du die verärgern?“ | |
| „Wir sagen hier aus der Möglichkeit einer freien Meinung heraus: Hey, es | |
| wäre super, wenn ihr euch dazu äußert“, sagt Anna. „Aber die Leute in | |
| Russland müssen sich zwei Mal überlegen, ob sie auf die Barrikaden gehen, | |
| auch, weil im Zweifelsfall das Leben ihrer ganzen Familie dranhängt.“ | |
| „Es ist eine kleine Gruppe, die damit angefangen hat“, sagt Artur. Deshalb | |
| dürfe man jetzt auch nicht allen Russinnen und Russen dieser Welt die | |
| Schuld an dem Angriff auf die Ukraine geben. | |
| Die beiden versuchen, ihre Verbindungen zu den Freund:innen in Russland | |
| nicht abreißen zu lassen. „Sie bekommen gerade sehr viel Hass ab“, sagt | |
| Artur. „Das geht so weit, dass der Kontakt zu ihnen abgebrochen wird.“ Auch | |
| ihr Moskauer Trainer fürchtete, dass der Krieg Auswirkungen auf ihre | |
| Beziehung haben könnte. „Da haben wir gesagt: ‚Auf gar keinen Fall, du hast | |
| doch nichts damit zu tun.‘“ | |
| „Ich finde schlimm, dass es gerade so viel Wut und Hass gibt“, sagt Artur. | |
| Er würde sich wünschen, dass man seine Energie jetzt nicht darauf | |
| verschwendet, wahllos russischsprachige Menschen anzufeinden. „Das trifft | |
| meistens sowieso die Falschen. Stattdessen soll man sich lieber darauf | |
| konzentrieren, wie man helfen kann. Es gibt genug Möglichkeiten.“ | |
| Dieser neue Unterschied. Anna und Artur haben sich entschieden, dagegen an | |
| zu tanzen, auch wenn es schwerfällt. „In den ersten Tagen haben wir noch | |
| gedacht: Wie, Deutsche Meisterschaft?!“, erzählt Artur. Dass sie überhaupt | |
| stattfindet, wollte nicht in ihre Realität passen. Aber wie haben es Annas | |
| Verwandte in der Ukraine ausgedrückt? „Die Bomben können explodieren, die | |
| Schüsse können fallen, aber arbeiten müssen die Menschen trotzdem.“ | |
| Also haben sich Anna und Artur in ihre Arbeit gestürzt. Die war auch schon | |
| ohne Krieg stressig genug: Ständig neue Choreografien einstudieren, | |
| Ballettunterricht, Fitnesstraining, dann das Reisen, die Wettbewerbe, der | |
| Unterricht an verschiedenen Tanzschulen, den sie selbst geben, um sich den | |
| teuren, zum großen Teil privat finanzierten Sport leisten zu können. Jetzt | |
| hat das aber alles nochmal eine neue Dimension erreicht. | |
| Vor allem für Anna. Zum Beispiel an diesem Donnerstag. Da muss sie sich | |
| darum kümmern, dass ihr Kleid, das sie bei der Meisterschaft tragen will, | |
| rechtzeitig aus Spanien ankommt. Außerdem müssen ihr Patenkind und dessen | |
| Mutter, die vor wenigen Tagen aus Kiew zu ihnen geflüchtet sind, eine | |
| vorübergehende Bleibe beziehen. Zwischendurch immer wieder Anrufe. | |
| Mal meldet sich ein alter Bekannter, der seine Hotelzimmer an ukrainische | |
| Geflüchtete vergeben will, dann ruft die Tante eines Jungen an, er ist eben | |
| aus der Ukraine angekommen und will sein Tanztraining in Deutschland wieder | |
| aufnehmen. „Früher gab es Nachrichten, die nicht so dringend waren“, sagt | |
| Anna. „Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich alles sofort beantworten muss.“ | |
| Noch in der Woche, in der sie aus Slowenien zurückkamen, halfen sie mit, | |
| einen Hilfskonvoi in die Ukraine zu organisieren, und riefen zu Spenden | |
| auf. Es sei überwältigend gewesen, wie viel ihre Community, von der viele | |
| gar keinen persönlichen Bezug zur Ukraine haben, vorbeigebracht hätte, sagt | |
| Artur und blickt sich um. Das halbe Vereinslokal sei mit Nahrungsmitteln | |
| und Medikamenten zugestellt gewesen. | |
| Im linken Tanzsaal hat eben ein Gruppentraining für Disco Dance begonnen. | |
| Der Tanz beinhaltet cheerleaderähnliche Sprünge und scheint vor allem bei | |
| Mädchen im Teenageralter beliebt zu sein. Das jedenfalls lässt sich durch | |
| ein großes langgezogenes Fenster beobachten. Wie absurd es wirkt, sich über | |
| Krieg, Tod und Verzweiflung zu unterhalten, während im Hintergrund junge | |
| Frauen herumhüpfen. | |
| Es erinnert Anna und Artur daran, dass sie sich aufwärmen müssen. Im Saal | |
| rechts breiten sie ihre Yogamatten aus. Artur tippt auf sein Handy. Ein | |
| ruhiger, russischer Rap-Song schallt über die Lautsprecheranlage in den | |
| Raum. Während Artur sich langsam dehnt, macht Anna ein paar kräftigende | |
| Sit-ups. Von außen betrachtet wirkt es so, als ob in diesem Moment alles | |
| von ihnen abfällt, als seien sie weit entfernt, in ihrer eigenen Welt. | |
| Deutschland, das sei für sie das Land der automatischen Schiebetüren, | |
| Einkaufschips und Busfahrpläne gewesen, hatte Anna erzählt. Sie habe sich | |
| als Achtjährige unheimlich unter Druck gesetzt, um alles, was auf sie | |
| einstürmte, zu verstehen. Die Förderklasse, in der sie mit den anderen | |
| zugezogenen Kindern Deutsch büffelte, konnte sie bereits nach drei Monaten | |
| wieder verlassen. Es habe dann aber schon noch eine Weile gedauert, bis sie | |
| im regulären Unterricht mitgekommen sei. | |
| Getanzt hatte Anna schon in der Ukraine. Neben der Schule. Volkstanz, dazu | |
| ein paar Basics in Ballett und Standardtanz. | |
| In Deutschland machte sie weiter, probierte einiges aus und blieb dann bei | |
| den lateinamerikanischen Tänzen hängen. Und das, obwohl sie die Probestunde | |
| in traumatischer Erinnerung hat. „Ich wusste nicht, was man anhaben muss, | |
| also habe ich das Aufwärmen auf Socken mitgemacht.“ Aber das Parkett war | |
| ziemlich rutschig, mitten im Laufen knallte sie hin. Sie lief zu ihrer | |
| Mutter ins Foyer, aber die schickte sie wieder zurück. „Und das Tanzen | |
| selbst hat mir dann unfassbar viel Spaß gemacht“, sagt Anna. | |
| Auch Artur kam durch seine Mutter zum Tanzen. Die hatte ihn, kaum in | |
| Deutschland angekommen, zum Russisch-Unterricht angemeldet, damit er seine | |
| Muttersprache nicht vergisst. Im Kurs gab es ein Mädchen, das einen | |
| Tanzpartner suchte. „Und weil ich in dem Alter fast alles gemacht habe, was | |
| mir meine Mama vorschlug, habe ich gesagt: Warum nicht?“ In der | |
| Kindertanzgruppe traf er dann auf Anna. | |
| „Sie machte vor dem Training ganz alleine im Saal einen Spagat“, sagt | |
| Artur. „Da dachte ich: Oha, alles klar.“ Aber zunächst tanzten sie | |
| getrennt. Anna hatte ein Jahr Leistungsvorsprung. Erst mit 18 ergab sich | |
| die Gelegenheit, beide waren gleichzeitig tänzerisch solo. Allerdings sagte | |
| der Trainer, sie würden nicht zusammenpassen. Also bereiteten sie eine | |
| Choreografie vor, und als sie fertig mit dem Vortanzen waren, soll er | |
| gesagt haben: „Na ja, vielleicht funktioniert es doch.“ | |
| Und: Warum hat es dann funktioniert? | |
| „Meine Mutter meint, dass wir schon in der Kindergruppe die einzigen beiden | |
| Verrückten waren, die es wirklich wollten“, sagt Anna. Sie erinnert sich | |
| daran, wie sie sich nach der Schule immer mit Artur an der Bushaltestelle | |
| traf, um direkt zum Training zu fahren. „Es gab für uns nichts anderes als | |
| Tanzen, aber es hat uns keiner dazu gezwungen, das war der ausschlaggebende | |
| Punkt.“ | |
| Artur startet auf seinem Handy ein Video, das bei ihrer Kür bei der | |
| Weltmeisterschaft 2019 in Moskau entstanden ist. Man sieht, wie er und Anna | |
| sich zu melancholischer Klaviermusik durch einen altehrwürdigen Saal | |
| bewegen. „Das war im Kreml“, sagt Artur. Ein einmaliges, vielleicht sogar | |
| das größte Erlebnis ihrer bisherigen Tanzkarriere, denn normalerweise sei | |
| dieser Saal nicht für jeden zugänglich: Doch an diesem Tag tanzten Anna und | |
| Artur dort, wo einige ihrer größten Idole getanzt hatten. „Uns hat | |
| besonders gefreut, dass wir als deutsches Paar so warm empfangen wurden, | |
| obwohl die russische Bevölkerung eigentlich eher patriotisch ist“, sagt | |
| Anna. | |
| Sie sind jetzt fertig mit dem Aufwärmen. Anna zerrt an ihrem Zopfgummi. Es | |
| hat sich in ihren Haaren verfangen. Artur kommt zu Hilfe und zieht geduldig | |
| Strähne für Strähne heraus. Bevor Anna in die Riemchensandalen mit den | |
| hohen Absätzen schlüpft, rollt sie ihre Fußsohlen über einen kleinen, | |
| orangenen Ball, dabei wischt sie gedankenverloren über ihren | |
| Handybildschirm. Ob sie gerade eine Nachricht von ihrer Familie aus der | |
| Ukraine bekommen hat? | |
| Artur macht einen Samba an. Mit den schnellen, lebenslustigen Rhythmen | |
| verändert sich auch die Stimmung im Saal. Artur tippelt ein paar Schritte | |
| vor, schwingt die Hüfte, dann fliegt er fast durch den Raum, Anna dreht | |
| sich erst langsam, dann immer schneller um die eigene Achse. | |
| Mal tanzen die beiden für sich alleine, dann greift seine Hand nach ihrer, | |
| wirbelt sie links herum, rechts herum, in einem irren Tempo. Dann brechen | |
| sie plötzlich ab. | |
| „Wenn du das am Anfang machst, musst du mir auch aus dem Weg gehen“, sagt | |
| Anna. „Gerade bestimmst du, wann wir anfangen und dann muss ich anderthalb | |
| Minuten überbrücken“, sagt Artur. „Das ist nicht, was ich spüre“, sagt | |
| Anna. | |
| Sie versuchen, die Schrittfolge noch einmal zu tanzen. Anna gibt den Takt | |
| vor: „A one, a two, a three“, dann zählt sie auf Russisch weiter. | |
| Sie: „Ich fange an.“ | |
| Er: „–“ | |
| Es hakt wieder. | |
| Er: „Das ist genau, was du gesagt hast.“ | |
| Sie: „Willst du mich verarschen?“ | |
| Er lacht, sie rollt mit den Augen. | |
| Er: „Möchtest du es zu einem neuen Lied probieren?“ | |
| Früher war es so, dass der Mann führte und die Frau folgte, erzählen Anna | |
| und Artur später, aber diese Zeiten seien lange vorbei. Für die beiden ist | |
| das Tanzen ein Aushandlungsprozess und da gehören Diskussionen einfach | |
| dazu. | |
| „Wir wollen keine Lösung finden, die auf Kosten des anderen geht. Wir | |
| versuchen, eine Lösung zu finden, die uns beiden gut tut“, sagt Anna. | |
| „Unsere Mentalität ist sehr leistungsorientiert“, erzählt sie. „Wenn El… | |
| ihr Kind zu einer Freizeitaktivität anmelden, dann wollen sie, dass es auch | |
| etwas lernt. Das kenne ich von meiner Mutter und das kennt sie von ihren | |
| Eltern aus Sibirien.“ | |
| Sibirien? Da wird es auf einmal wieder kompliziert. Weil nicht nur ihre | |
| Mutter andere Wurzeln hat, sondern auch die von Artur. Annas Mutter ist in | |
| Russland geboren, Arturs Mutter stammt aus der Ukraine. | |
| „Rein geschichtlich betrachtet sind Russland und die Ukraine zwei | |
| verbrüderte Nationen“, sagt Artur. „Das macht das Ganze umso tragischer.“ | |
| Zwar könnten die meisten Menschen in der Ukraine auch Russisch, im | |
| Gegensatz zu den Menschen in Russland, von denen kaum jemand Ukrainisch | |
| verstehe. Aber abgesehen davon gebe es viele Gemeinsamkeiten zwischen den | |
| beiden Ländern. Und in der Alltagskultur kaum einen Unterschied. | |
| „Wir essen mehr oder weniger dasselbe, hören dieselbe Musik und gucken | |
| dieselben Filme“, sagt Anna. Sie und Artur sprechen miteinander Deutsch und | |
| Russisch, nach wie vor. | |
| Es fühlt sich jetzt manchmal nur komisch an, zu tanzen. Das hat Anna ihren | |
| Verwandten in Cherson auch vor dem Wettbewerb um die Deutsche Meisterschaft | |
| erzählt. Doch die hätten sie ermutigt anzutreten, erzählt sie. „Wir senden | |
| dir Stärke und sind bei dir“, schrieben sie. | |
| Die Liebe zum Tanzen ist in beiden Ländern so groß wie in Deutschland die | |
| Liebe zum Fußball. Dabei geht es nicht nur um Ballett, sondern auch um | |
| Volkstänze, Standardtänze und lateinamerikanische Tänze. „Ob auf | |
| Stadtfesten oder bei Familienfeiern: Es wird eigentlich immer getanzt und | |
| das schon von Kindesbeinen an“, sagt Anna. | |
| Artur sagt, fast jede osteuropäische Mutter möchte, dass ihr Kind tanzt. | |
| Weil es beim Tanzen lerne, wie es sich zu bewegen hat – und wie ein Mann | |
| mit einer Frau umgeht und andersherum. | |
| Vor allem über das Fernsehen wird die Leidenschaft weitergetragen. „In | |
| Russland wie in der Ukraine wird in den Nationalnachrichten berichtet, wenn | |
| ein Paar bei der Europameisterschaft im Finale steht“, sagt Anna. Und | |
| getanzt wird in beiden Ländern bis in die höchsten Kreise. Wolodimir | |
| Selenski [3][gewann 2006 beim ukrainischen Pendant von „Let’s Dance“]. | |
| Zwei Tage nach dem Gespräch im Tanzclub: die Deutsche Meisterschaft. Auf | |
| dem Weg zu dem großen Sportzentrum im Berliner Stadtteil Siemensstadt kommt | |
| man an einem Containerdorf vorbei, vor dem viele Autos mit ukrainischem | |
| Kennzeichen stehen. Vor dem verwinkelten Gebäude des Sportzentrums sind | |
| viele festlich gekleidete Leute zu sehen. | |
| Es herrscht großer Andrang. Bevor es hineingeht, wird noch schnell die | |
| FFP2-Maske übergezogen. Drinnen sieht man Kinder in ein Schwimmbecken | |
| springen, links geht es in eine Mehrzweckhalle. Über der Tanzfläche hängen | |
| Lampions, die in den späteren Abendstunden blau und gelb leuchten. | |
| Eine alte Frau bringt belegte Brötchen und Streuselkuchen an die Tische, | |
| später gibt es Sekt. Die Atmosphäre ist eine bizarre Mischung aus | |
| Kaffeeklatsch und Glamour. Als Anna hereinkommt, hat ihr Gesicht einen | |
| bronzefarbenen Teint, vier Stunden dauert das Schminken, hat sie erzählt. | |
| Es ist auffällig, wie viele im Saal einen osteuropäischen Hintergrund | |
| haben. Etliche Namen der Tanzpaare deuten darauf hin, immer wieder hört man | |
| im Publikum Satzfetzen, die slawisch klingen. „Dawai! Dawai!“, rufen sie | |
| später, um ihre Favoriten anzufeuern. Es gebe in Deutschland Tanzclubs, in | |
| denen finde der Unterricht komplett auf Russisch statt, erzählt eine | |
| Fotografin, die mit am Tisch sitzt. | |
| Bevor es losgeht, bittet der Moderator, sich für eine Gedenkminute zu | |
| erheben. Er verurteilt den russischen Angriffskrieg im Namen des Deutschen | |
| Tanzsportverbands aufs Schärfste. „Unsere Gedanken sind bei den Opfern und | |
| ihren Angehörigen“, sagt er. „Gewalt und Krieg dürfen keinen Platz haben.… | |
| Die Menschen applaudieren. | |
| Der Wettbewerb beginnt, viele Tanzpaare tragen blau-gelbe Schleifen an | |
| ihren Kostümen. Anna und Artur haben die Startnummer 5. Die Paare treten in | |
| ausgelosten Gruppen gegeneinander an und präsentieren ihre Choreografien. | |
| Samba, Rumba, Cha-Cha-Cha, Paso Doble und Jive. Jede Tanzeinlage dauert | |
| maximal zwei Minuten, dann ist schon die nächste Gruppe dran. | |
| Anna sieht in ihrem zitronengelben Kleid mit der gefiederten Schleppe wie | |
| eine moderne Flamenco-Tänzerin aus, Artur tritt mit seinem schlichten | |
| schwarzen Outfit unprätentiös in den Hintergrund. Im Gegensatz zu so | |
| manchem anderen Paar sind sie perfekt aufeinander eingespielt. Ihre | |
| Bewegungen sind präzise, fließend, filigran. Während sie eine große Eleganz | |
| ausstrahlt, haben seine Sprünge und Drehungen etwas Schelmenhaftes. Die | |
| beiden schaffen es von der Vorrunde über das Viertel- und Halbfinale bis | |
| ins Finale. | |
| Sie tanzen die einstudierten Schrittfolgen in den fünf Tänzen jede Runde | |
| aufs Neue so, als wäre es ihr erster Tanz. Und lächeln – immer. | |
| Doch das ist ihr Job. Die Tänze bieten Zerstreuung und sie verkörpern | |
| Träume, die ihr Publikum gerade dringender denn je nötig hat. Auch die | |
| zierliche Frau mit der Nerzstola erzählt, dass ihre Mutter gerade im | |
| Bombenhagel in der Ukraine festsitzt. „Ich denke die ganze Zeit an euch“, | |
| sagt die Nachbarin am Tisch während einer Pause. Man spürt, wie wohltuend | |
| dieser Austausch ist. | |
| „Dann wollen wir mal“, sagt der Moderator und ruft die sechs Paare für das | |
| Finale aufs Parkett. Wieder Samba, Rumba, Cha-Cha-Cha, Paso Doble, Jive. | |
| Mit ungeübtem Auge sind die Unterschiede zwischen den Paaren kaum | |
| erkennbar. Während die Konkurrenz beim Paso Doble vielleicht eine Spur | |
| ausdrucksstärker ist, wirken Anna und Artur bei der Rumba ein wenig | |
| verliebter. Favoriten an diesem Abend sind wie schon seit 2015 Khrystyna | |
| Moshenska und Marius-Andrei Balan. Bis auf ein Mal haben sie in jedem Jahr | |
| den Titel gewonnen, auch international sind sie extrem erfolgreich. Heute | |
| gewinnen sie wieder. Anna Salita und Artur Balandin werden Zweite. | |
| Bei der Siegerehrung tragen beide Frauen die ukrainische Flagge um die | |
| Schultern. Danach umarmen sich Anna Salita und Khrystyna Moshenska lange. | |
| Am nächsten Tag im Frühstücksraum des Hotels. Auf dem riesigen | |
| Fernsehbildschirm an der Wand läuft NTV mit News aus der Ukraine, Anna | |
| sitzt etwas ermattet im Trainingsanzug am Tisch. Die ukrainische | |
| Nationalflagge würde sie sich normalerweise nicht umhängen. „Wir leben in | |
| Deutschland, wir repräsentieren Deutschland, aber es war uns wichtig, | |
| Solidarität zu zeigen“, sagt sie. „Einerseits fühlt es sich komisch an, | |
| dass solche Veranstaltungen gerade stattfinden, andererseits haben wir für | |
| die Menschen in der Ukraine getanzt.“ | |
| Sie ist froh, dass ihre Eltern, die beim Wettbewerb waren, währenddessen | |
| kleine Handyvideos nach Cherson geschickt haben. So konnten ihre Verwandten | |
| wenigstens ein bisschen dabei sein. | |
| 2 Apr 2022 | |
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