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# taz.de -- Ukrainisch-russisches Tanzpaar: Der Krieg tanzt mit
> Anna und Artur aus Bochum gehören zur Weltspitze in den
> lateinamerikanischen Tänzen. Was der Angriff Russlands auf die Ukraine
> für sie bedeutet.
Bild: Anna Salita und Artur Balandin trainieren in Bochum zwei Tage vor der Deu…
Bochum/Berlin taz | Berlin-Siemensstadt, es ist Samstag, der 19. März. In
wenigen Minuten beginnt in der Mehrzweckhalle die Deutsche Meisterschaft in
den lateinamerikanischen Tänzen. Zwischen den Basketballkörben ist
Parkettboden ausgelegt, auf den Tischen am Rand liegen blau-gelbe Läufer.
Anna Salita trägt einen seidenen Mantel über ihrem Kleid, nur die
funkelnden Armreifen verraten, dass es extravagant ist. Nervös schreitet
sie auf und ab. Auch ihr Partner Artur Balandin wirkt angespannt. Seine
Blicke schweifen durch den Raum, ohne an etwas haften zu bleiben.
Das Paar belegt aktuell Platz sechs der Weltrangliste für
lateinamerikanische Tänze, ganz oben auf dem Treppchen waren sie bei
Deutschen Meisterschaften aber noch nie. Die beiden, Ende 20, haben eine
harte Zeit hinter sich.
Wegen der Pandemie wurden viele Turniere verschoben oder abgesagt.
Tanzunterricht, wovon sie leben, war auch lange nur eingeschränkt möglich.
Dann schien sich alles langsam wieder zu normalisieren. Im Oktober 2021
reisten sie zur Europameisterschaft nach Sardinien, wenige Wochen später
zur Weltmeisterschaft nach Pforzheim. Und im Januar flogen sie ein paar
Tage nach Moskau, um ihren Trainer zu treffen. Hallo Leben, hallo Welt.
Doch dann kam der Morgen des 24. Februar. Anna bekam eine
Whatsapp-Nachricht von ihrer Mutter. „Bei Oma ist Krieg“, stand darin. Oma
lebt bei Cherson in der Ukraine.
Anna und Artur wollten am nächsten Tag ins Trainingslager nach Slowenien
fliegen. Wie in Trance machten sie mit den Vorbereitungen weiter und
packten, die Tickets waren gebucht, der Trainingsplan musste eingehalten
werden.
Zwei Tage vor der Deutschen Meisterschaft. Anna und Artur sitzen im
Vereinslokal des [1][T.T.C. Rot-Weiss-Silber] in Bochum. Der T.T.C. ist ein
Name im deutschen Tanzsport, um das Paar herum stehen jede Menge Pokale.
Sie füllen eine Vitrine, zwei Regalbretter und fast den ganzen Tresen der
Holzbar.
„Wir konnten uns das ganze Ausmaß der Tragödie noch nicht richtig
vorstellen“, erzählt Artur und rückt die Flasche Wasser, die vor ihm steht,
von sich weg. Die beiden tragen Schwarz, Basecap, Lederjacke, Sneaker.
Durchtrainiert und mit ebenmäßigen Gesichtszügen sehen sie unwirklich
perfekt aus. Wenn da nicht die dunklen Schatten unter den Augen wären. Und
die fahrigen Bewegungen. Es ist aber nicht die Deutsche Meisterschaft, die
ihnen keine Ruhe lässt, sondern die Sorge um Annas Angehörige in der
Ukraine.
Wie ernst es ist, hätten sie erst begriffen, als mehr und mehr
Schreckensnachrichten eintrafen, sagt Artur, und dann sei ihr Trainer zwei
Tage früher als geplant aus Slowenien nach Moskau zurückgeflogen, gerade
noch rechtzeitig, bevor Slowenien den Luftraum für russische Maschinen
schloss.
„Seitdem hat sich unser Leben komplett auf den Kopf gestellt“, sagt Anna,
dann versagt ihr kurz die Stimme. „Ich bin beruflich viel am Handy, aber
dass es eines Tages notwendig sein würde, jede Stunde bei meiner Familie
nachzuhorchen, ob sie noch lebt, ob sie genug zu essen hat, Wasser und
Strom, das hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Sie kämpft mit den
Tränen.
Und jetzt tanzen?
Anna ist auf der Halbinsel Krim geboren und in einem kleinen Dorf nahe der
südukrainischen Hafenstadt Cherson aufgewachsen. Weil ihre Mutter damals in
den letzten Zügen des Medizinstudiums steckte, schickten die Eltern sie zur
Großmutter. Kartoffeln pflanzen, Kühe melken: „Ich war so ein richtiges
Dorfkind“, sagt Anna und lacht. Sie liebte das geräumige Haus, mit den
Hunden und Katzen zu spielen und mit den anderen Kindern in die
Kastanienbäume zu steigen. „Als ich hörte, dass wir uns auf eine große
Reise machen, habe ich mich in einer Scheune voller Weizen versteckt“, sagt
Anna. „Ich wollte, dass sie mich nicht finden und wir nirgendwohin fahren.“
Aber die Eltern hatten entschieden, im Rahmen des
Kontingentflüchtlings-Abkommens nach Deutschland auszuwandern, um Anna und
ihrer Schwester eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Eltern des Vaters
waren Juden, deshalb gab es die Option. Anna war 8, als das Ruhrgebiet ihre
neue Heimat wurde.
Auch Artur war 8, als er nach Nordrhein-Westfalen zog. Aus der russischen
Stadt Chabarowsk nahe der chinesischen Grenze. Sein Vater arbeitete dort
als Flugzeug-Navigator, aber der Beruf war mit dem Aufkommen von
Navigationssystemen in Cockpits am Aussterben. Also sagte die Familie ihrer
Heimatstadt Lebewohl und folgte dem Großvater, der aufgrund seiner
jüdischen Wurzeln nahe Angehörige nachholen durfte.
Rund 20 Jahre später sitzen Anna und Artur in dem etwas in die Jahre
gekommenen Flachbau ihres Clubs, nebenan eine Autowerkstatt, gegenüber eine
Shell-Tankstelle. Sie sollen darüber Auskunft geben, wie sich der Krieg auf
ihre eigene, ganz persönliche russisch-ukrainische Beziehung auswirkt,
obwohl das doch eigentlich noch nie ein Thema zwischen ihnen war, obwohl
sie sich als Weltbürger:innen verstehen. Schöne Scheiße.
Doch – Stichwort Zeitenwende – es spielt eben wieder eine Rolle, ob man
russische oder ukrainische Wurzeln hat, deutscher Pass hin oder her. Jeden
Moment kann der neue Unterschied wieder auf sich aufmerksam machen. Nicht
nur, wenn am Tanzflächenrand Menschen, die russisch sprechen, offen
angefeindet werden, was Artur bei Tanzwettbewerben schon öfters mitbekommen
hat. Sondern vor allem, wenn Anna wieder Whatsapp-Nachrichten aus der
Ukraine bekommt.
Die Familie ihrer Mutter, die Großeltern, die Tante, eine Cousine und ein
Cousin befinden sich noch [2][in der Region um Cherson]. Die Großeltern
sind für die Flucht zu alt, aber es gibt auch keine sicheren Korridore.
„Drum herum ist alles besetzt“, sagt Anna. „Ein paar Straßen weiter steh…
die Panzer. Meine Familie sieht die Raketen, hört Schüsse.“
In den ersten Tagen des Krieges seien ihre Verwandten ständig in die Keller
geflüchtet, hätten Aufklappbetten zwischen die Regale mit den eingelegten
Gurken und Tomaten gestellt und gewartet. Inzwischen machten sie das nur
noch, erzählt Anna, wenn die Explosionen besonders heftig sind. Diese
Gewöhnung findet sie besonders unerträglich. „Für meine Verwandten ist es
jetzt schlimmer, wenn nichts passiert, weil sie dann nicht wissen, was
kommt.“ Als sie das thematisierte, hätten die Verwandten geantwortet: „Das
ist jetzt unsere neue Realität.“ Anna überlegt, wie sie das Zitat am besten
übersetzen soll: „Die Bomben können explodieren, die Schüsse können falle…
aber arbeiten müssen die Menschen trotzdem“, sagt sie.
„Meine Oma hatte keine Milch mehr und jemand hat ihr Milch gebracht. Sie
hat im Austausch Eier gegeben.“ Die Menschen seien dort enger
zusammengerückt. Das mache ihr Mut, sagt Anna. Sie erzählt gerne von den
Verwandten. Artur ist da zurückhaltender. Er hebt das Ganze lieber auf eine
allgemeine Stufe. Während des Gesprächs wirft er Anna immer wieder besorgte
Blicke zu. Als sie sich zu ihm an den Tisch setzt, flüstert er: „Ich habe
Feigen und Nüsse für dich dabei.“ Doch als Anna fast zu weinen beginnt,
blickt er hilflos auf seine Hände.
Artur erzählt von Kolleg:innen in Kiew und Moskau, Bekanntschaften von
Trainingscamps und Turnieren. Auch die Freunde in Moskau hätten Angst.
Angst davor, bestimmte Sachen zu unternehmen, Angst wegen der
wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen. Vor ein paar Tagen habe sie
zufällig eine Werbung für Bräunungscreme gesehen, sagt Anna. Sie koste in
Russland jetzt fast doppelt so viel wie vor dem Krieg. Das sei natürlich
kaum noch zu bezahlen.
Anna und Artur finden es schwierig, wenn jetzt überall die Forderungen laut
werden, dass die russische Bevölkerung gegen den Krieg demonstrieren soll.
„Der Punkt ist ja der: In erster Linie denkst du daran, dass du etwas zu
essen hast“, sagt Artur. „Aber wenn die Grenzen dicht sind: Wer sind dann
deine Arbeitgeber? Das sind die Leute, die sich im Land befinden. Möchtest
du die verärgern?“
„Wir sagen hier aus der Möglichkeit einer freien Meinung heraus: Hey, es
wäre super, wenn ihr euch dazu äußert“, sagt Anna. „Aber die Leute in
Russland müssen sich zwei Mal überlegen, ob sie auf die Barrikaden gehen,
auch, weil im Zweifelsfall das Leben ihrer ganzen Familie dranhängt.“
„Es ist eine kleine Gruppe, die damit angefangen hat“, sagt Artur. Deshalb
dürfe man jetzt auch nicht allen Russinnen und Russen dieser Welt die
Schuld an dem Angriff auf die Ukraine geben.
Die beiden versuchen, ihre Verbindungen zu den Freund:innen in Russland
nicht abreißen zu lassen. „Sie bekommen gerade sehr viel Hass ab“, sagt
Artur. „Das geht so weit, dass der Kontakt zu ihnen abgebrochen wird.“ Auch
ihr Moskauer Trainer fürchtete, dass der Krieg Auswirkungen auf ihre
Beziehung haben könnte. „Da haben wir gesagt: ‚Auf gar keinen Fall, du hast
doch nichts damit zu tun.‘“
„Ich finde schlimm, dass es gerade so viel Wut und Hass gibt“, sagt Artur.
Er würde sich wünschen, dass man seine Energie jetzt nicht darauf
verschwendet, wahllos russischsprachige Menschen anzufeinden. „Das trifft
meistens sowieso die Falschen. Stattdessen soll man sich lieber darauf
konzentrieren, wie man helfen kann. Es gibt genug Möglichkeiten.“
Dieser neue Unterschied. Anna und Artur haben sich entschieden, dagegen an
zu tanzen, auch wenn es schwerfällt. „In den ersten Tagen haben wir noch
gedacht: Wie, Deutsche Meisterschaft?!“, erzählt Artur. Dass sie überhaupt
stattfindet, wollte nicht in ihre Realität passen. Aber wie haben es Annas
Verwandte in der Ukraine ausgedrückt? „Die Bomben können explodieren, die
Schüsse können fallen, aber arbeiten müssen die Menschen trotzdem.“
Also haben sich Anna und Artur in ihre Arbeit gestürzt. Die war auch schon
ohne Krieg stressig genug: Ständig neue Choreografien einstudieren,
Ballettunterricht, Fitnesstraining, dann das Reisen, die Wettbewerbe, der
Unterricht an verschiedenen Tanzschulen, den sie selbst geben, um sich den
teuren, zum großen Teil privat finanzierten Sport leisten zu können. Jetzt
hat das aber alles nochmal eine neue Dimension erreicht.
Vor allem für Anna. Zum Beispiel an diesem Donnerstag. Da muss sie sich
darum kümmern, dass ihr Kleid, das sie bei der Meisterschaft tragen will,
rechtzeitig aus Spanien ankommt. Außerdem müssen ihr Patenkind und dessen
Mutter, die vor wenigen Tagen aus Kiew zu ihnen geflüchtet sind, eine
vorübergehende Bleibe beziehen. Zwischendurch immer wieder Anrufe.
Mal meldet sich ein alter Bekannter, der seine Hotelzimmer an ukrainische
Geflüchtete vergeben will, dann ruft die Tante eines Jungen an, er ist eben
aus der Ukraine angekommen und will sein Tanztraining in Deutschland wieder
aufnehmen. „Früher gab es Nachrichten, die nicht so dringend waren“, sagt
Anna. „Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich alles sofort beantworten muss.“
Noch in der Woche, in der sie aus Slowenien zurückkamen, halfen sie mit,
einen Hilfskonvoi in die Ukraine zu organisieren, und riefen zu Spenden
auf. Es sei überwältigend gewesen, wie viel ihre Community, von der viele
gar keinen persönlichen Bezug zur Ukraine haben, vorbeigebracht hätte, sagt
Artur und blickt sich um. Das halbe Vereinslokal sei mit Nahrungsmitteln
und Medikamenten zugestellt gewesen.
Im linken Tanzsaal hat eben ein Gruppentraining für Disco Dance begonnen.
Der Tanz beinhaltet cheerleaderähnliche Sprünge und scheint vor allem bei
Mädchen im Teenageralter beliebt zu sein. Das jedenfalls lässt sich durch
ein großes langgezogenes Fenster beobachten. Wie absurd es wirkt, sich über
Krieg, Tod und Verzweiflung zu unterhalten, während im Hintergrund junge
Frauen herumhüpfen.
Es erinnert Anna und Artur daran, dass sie sich aufwärmen müssen. Im Saal
rechts breiten sie ihre Yogamatten aus. Artur tippt auf sein Handy. Ein
ruhiger, russischer Rap-Song schallt über die Lautsprecheranlage in den
Raum. Während Artur sich langsam dehnt, macht Anna ein paar kräftigende
Sit-ups. Von außen betrachtet wirkt es so, als ob in diesem Moment alles
von ihnen abfällt, als seien sie weit entfernt, in ihrer eigenen Welt.
Deutschland, das sei für sie das Land der automatischen Schiebetüren,
Einkaufschips und Busfahrpläne gewesen, hatte Anna erzählt. Sie habe sich
als Achtjährige unheimlich unter Druck gesetzt, um alles, was auf sie
einstürmte, zu verstehen. Die Förderklasse, in der sie mit den anderen
zugezogenen Kindern Deutsch büffelte, konnte sie bereits nach drei Monaten
wieder verlassen. Es habe dann aber schon noch eine Weile gedauert, bis sie
im regulären Unterricht mitgekommen sei.
Getanzt hatte Anna schon in der Ukraine. Neben der Schule. Volkstanz, dazu
ein paar Basics in Ballett und Standardtanz.
In Deutschland machte sie weiter, probierte einiges aus und blieb dann bei
den lateinamerikanischen Tänzen hängen. Und das, obwohl sie die Probestunde
in traumatischer Erinnerung hat. „Ich wusste nicht, was man anhaben muss,
also habe ich das Aufwärmen auf Socken mitgemacht.“ Aber das Parkett war
ziemlich rutschig, mitten im Laufen knallte sie hin. Sie lief zu ihrer
Mutter ins Foyer, aber die schickte sie wieder zurück. „Und das Tanzen
selbst hat mir dann unfassbar viel Spaß gemacht“, sagt Anna.
Auch Artur kam durch seine Mutter zum Tanzen. Die hatte ihn, kaum in
Deutschland angekommen, zum Russisch-Unterricht angemeldet, damit er seine
Muttersprache nicht vergisst. Im Kurs gab es ein Mädchen, das einen
Tanzpartner suchte. „Und weil ich in dem Alter fast alles gemacht habe, was
mir meine Mama vorschlug, habe ich gesagt: Warum nicht?“ In der
Kindertanzgruppe traf er dann auf Anna.
„Sie machte vor dem Training ganz alleine im Saal einen Spagat“, sagt
Artur. „Da dachte ich: Oha, alles klar.“ Aber zunächst tanzten sie
getrennt. Anna hatte ein Jahr Leistungsvorsprung. Erst mit 18 ergab sich
die Gelegenheit, beide waren gleichzeitig tänzerisch solo. Allerdings sagte
der Trainer, sie würden nicht zusammenpassen. Also bereiteten sie eine
Choreografie vor, und als sie fertig mit dem Vortanzen waren, soll er
gesagt haben: „Na ja, vielleicht funktioniert es doch.“
Und: Warum hat es dann funktioniert?
„Meine Mutter meint, dass wir schon in der Kindergruppe die einzigen beiden
Verrückten waren, die es wirklich wollten“, sagt Anna. Sie erinnert sich
daran, wie sie sich nach der Schule immer mit Artur an der Bushaltestelle
traf, um direkt zum Training zu fahren. „Es gab für uns nichts anderes als
Tanzen, aber es hat uns keiner dazu gezwungen, das war der ausschlaggebende
Punkt.“
Artur startet auf seinem Handy ein Video, das bei ihrer Kür bei der
Weltmeisterschaft 2019 in Moskau entstanden ist. Man sieht, wie er und Anna
sich zu melancholischer Klaviermusik durch einen altehrwürdigen Saal
bewegen. „Das war im Kreml“, sagt Artur. Ein einmaliges, vielleicht sogar
das größte Erlebnis ihrer bisherigen Tanzkarriere, denn normalerweise sei
dieser Saal nicht für jeden zugänglich: Doch an diesem Tag tanzten Anna und
Artur dort, wo einige ihrer größten Idole getanzt hatten. „Uns hat
besonders gefreut, dass wir als deutsches Paar so warm empfangen wurden,
obwohl die russische Bevölkerung eigentlich eher patriotisch ist“, sagt
Anna.
Sie sind jetzt fertig mit dem Aufwärmen. Anna zerrt an ihrem Zopfgummi. Es
hat sich in ihren Haaren verfangen. Artur kommt zu Hilfe und zieht geduldig
Strähne für Strähne heraus. Bevor Anna in die Riemchensandalen mit den
hohen Absätzen schlüpft, rollt sie ihre Fußsohlen über einen kleinen,
orangenen Ball, dabei wischt sie gedankenverloren über ihren
Handybildschirm. Ob sie gerade eine Nachricht von ihrer Familie aus der
Ukraine bekommen hat?
Artur macht einen Samba an. Mit den schnellen, lebenslustigen Rhythmen
verändert sich auch die Stimmung im Saal. Artur tippelt ein paar Schritte
vor, schwingt die Hüfte, dann fliegt er fast durch den Raum, Anna dreht
sich erst langsam, dann immer schneller um die eigene Achse.
Mal tanzen die beiden für sich alleine, dann greift seine Hand nach ihrer,
wirbelt sie links herum, rechts herum, in einem irren Tempo. Dann brechen
sie plötzlich ab.
„Wenn du das am Anfang machst, musst du mir auch aus dem Weg gehen“, sagt
Anna. „Gerade bestimmst du, wann wir anfangen und dann muss ich anderthalb
Minuten überbrücken“, sagt Artur. „Das ist nicht, was ich spüre“, sagt
Anna.
Sie versuchen, die Schrittfolge noch einmal zu tanzen. Anna gibt den Takt
vor: „A one, a two, a three“, dann zählt sie auf Russisch weiter.
Sie: „Ich fange an.“
Er: „–“
Es hakt wieder.
Er: „Das ist genau, was du gesagt hast.“
Sie: „Willst du mich verarschen?“
Er lacht, sie rollt mit den Augen.
Er: „Möchtest du es zu einem neuen Lied probieren?“
Früher war es so, dass der Mann führte und die Frau folgte, erzählen Anna
und Artur später, aber diese Zeiten seien lange vorbei. Für die beiden ist
das Tanzen ein Aushandlungsprozess und da gehören Diskussionen einfach
dazu.
„Wir wollen keine Lösung finden, die auf Kosten des anderen geht. Wir
versuchen, eine Lösung zu finden, die uns beiden gut tut“, sagt Anna.
„Unsere Mentalität ist sehr leistungsorientiert“, erzählt sie. „Wenn El…
ihr Kind zu einer Freizeitaktivität anmelden, dann wollen sie, dass es auch
etwas lernt. Das kenne ich von meiner Mutter und das kennt sie von ihren
Eltern aus Sibirien.“
Sibirien? Da wird es auf einmal wieder kompliziert. Weil nicht nur ihre
Mutter andere Wurzeln hat, sondern auch die von Artur. Annas Mutter ist in
Russland geboren, Arturs Mutter stammt aus der Ukraine.
„Rein geschichtlich betrachtet sind Russland und die Ukraine zwei
verbrüderte Nationen“, sagt Artur. „Das macht das Ganze umso tragischer.“
Zwar könnten die meisten Menschen in der Ukraine auch Russisch, im
Gegensatz zu den Menschen in Russland, von denen kaum jemand Ukrainisch
verstehe. Aber abgesehen davon gebe es viele Gemeinsamkeiten zwischen den
beiden Ländern. Und in der Alltagskultur kaum einen Unterschied.
„Wir essen mehr oder weniger dasselbe, hören dieselbe Musik und gucken
dieselben Filme“, sagt Anna. Sie und Artur sprechen miteinander Deutsch und
Russisch, nach wie vor.
Es fühlt sich jetzt manchmal nur komisch an, zu tanzen. Das hat Anna ihren
Verwandten in Cherson auch vor dem Wettbewerb um die Deutsche Meisterschaft
erzählt. Doch die hätten sie ermutigt anzutreten, erzählt sie. „Wir senden
dir Stärke und sind bei dir“, schrieben sie.
Die Liebe zum Tanzen ist in beiden Ländern so groß wie in Deutschland die
Liebe zum Fußball. Dabei geht es nicht nur um Ballett, sondern auch um
Volkstänze, Standardtänze und lateinamerikanische Tänze. „Ob auf
Stadtfesten oder bei Familienfeiern: Es wird eigentlich immer getanzt und
das schon von Kindesbeinen an“, sagt Anna.
Artur sagt, fast jede osteuropäische Mutter möchte, dass ihr Kind tanzt.
Weil es beim Tanzen lerne, wie es sich zu bewegen hat – und wie ein Mann
mit einer Frau umgeht und andersherum.
Vor allem über das Fernsehen wird die Leidenschaft weitergetragen. „In
Russland wie in der Ukraine wird in den Nationalnachrichten berichtet, wenn
ein Paar bei der Europameisterschaft im Finale steht“, sagt Anna. Und
getanzt wird in beiden Ländern bis in die höchsten Kreise. Wolodimir
Selenski [3][gewann 2006 beim ukrainischen Pendant von „Let’s Dance“].
Zwei Tage nach dem Gespräch im Tanzclub: die Deutsche Meisterschaft. Auf
dem Weg zu dem großen Sportzentrum im Berliner Stadtteil Siemensstadt kommt
man an einem Containerdorf vorbei, vor dem viele Autos mit ukrainischem
Kennzeichen stehen. Vor dem verwinkelten Gebäude des Sportzentrums sind
viele festlich gekleidete Leute zu sehen.
Es herrscht großer Andrang. Bevor es hineingeht, wird noch schnell die
FFP2-Maske übergezogen. Drinnen sieht man Kinder in ein Schwimmbecken
springen, links geht es in eine Mehrzweckhalle. Über der Tanzfläche hängen
Lampions, die in den späteren Abendstunden blau und gelb leuchten.
Eine alte Frau bringt belegte Brötchen und Streuselkuchen an die Tische,
später gibt es Sekt. Die Atmosphäre ist eine bizarre Mischung aus
Kaffeeklatsch und Glamour. Als Anna hereinkommt, hat ihr Gesicht einen
bronzefarbenen Teint, vier Stunden dauert das Schminken, hat sie erzählt.
Es ist auffällig, wie viele im Saal einen osteuropäischen Hintergrund
haben. Etliche Namen der Tanzpaare deuten darauf hin, immer wieder hört man
im Publikum Satzfetzen, die slawisch klingen. „Dawai! Dawai!“, rufen sie
später, um ihre Favoriten anzufeuern. Es gebe in Deutschland Tanzclubs, in
denen finde der Unterricht komplett auf Russisch statt, erzählt eine
Fotografin, die mit am Tisch sitzt.
Bevor es losgeht, bittet der Moderator, sich für eine Gedenkminute zu
erheben. Er verurteilt den russischen Angriffskrieg im Namen des Deutschen
Tanzsportverbands aufs Schärfste. „Unsere Gedanken sind bei den Opfern und
ihren Angehörigen“, sagt er. „Gewalt und Krieg dürfen keinen Platz haben.…
Die Menschen applaudieren.
Der Wettbewerb beginnt, viele Tanzpaare tragen blau-gelbe Schleifen an
ihren Kostümen. Anna und Artur haben die Startnummer 5. Die Paare treten in
ausgelosten Gruppen gegeneinander an und präsentieren ihre Choreografien.
Samba, Rumba, Cha-Cha-Cha, Paso Doble und Jive. Jede Tanzeinlage dauert
maximal zwei Minuten, dann ist schon die nächste Gruppe dran.
Anna sieht in ihrem zitronengelben Kleid mit der gefiederten Schleppe wie
eine moderne Flamenco-Tänzerin aus, Artur tritt mit seinem schlichten
schwarzen Outfit unprätentiös in den Hintergrund. Im Gegensatz zu so
manchem anderen Paar sind sie perfekt aufeinander eingespielt. Ihre
Bewegungen sind präzise, fließend, filigran. Während sie eine große Eleganz
ausstrahlt, haben seine Sprünge und Drehungen etwas Schelmenhaftes. Die
beiden schaffen es von der Vorrunde über das Viertel- und Halbfinale bis
ins Finale.
Sie tanzen die einstudierten Schrittfolgen in den fünf Tänzen jede Runde
aufs Neue so, als wäre es ihr erster Tanz. Und lächeln – immer.
Doch das ist ihr Job. Die Tänze bieten Zerstreuung und sie verkörpern
Träume, die ihr Publikum gerade dringender denn je nötig hat. Auch die
zierliche Frau mit der Nerzstola erzählt, dass ihre Mutter gerade im
Bombenhagel in der Ukraine festsitzt. „Ich denke die ganze Zeit an euch“,
sagt die Nachbarin am Tisch während einer Pause. Man spürt, wie wohltuend
dieser Austausch ist.
„Dann wollen wir mal“, sagt der Moderator und ruft die sechs Paare für das
Finale aufs Parkett. Wieder Samba, Rumba, Cha-Cha-Cha, Paso Doble, Jive.
Mit ungeübtem Auge sind die Unterschiede zwischen den Paaren kaum
erkennbar. Während die Konkurrenz beim Paso Doble vielleicht eine Spur
ausdrucksstärker ist, wirken Anna und Artur bei der Rumba ein wenig
verliebter. Favoriten an diesem Abend sind wie schon seit 2015 Khrystyna
Moshenska und Marius-Andrei Balan. Bis auf ein Mal haben sie in jedem Jahr
den Titel gewonnen, auch international sind sie extrem erfolgreich. Heute
gewinnen sie wieder. Anna Salita und Artur Balandin werden Zweite.
Bei der Siegerehrung tragen beide Frauen die ukrainische Flagge um die
Schultern. Danach umarmen sich Anna Salita und Khrystyna Moshenska lange.
Am nächsten Tag im Frühstücksraum des Hotels. Auf dem riesigen
Fernsehbildschirm an der Wand läuft NTV mit News aus der Ukraine, Anna
sitzt etwas ermattet im Trainingsanzug am Tisch. Die ukrainische
Nationalflagge würde sie sich normalerweise nicht umhängen. „Wir leben in
Deutschland, wir repräsentieren Deutschland, aber es war uns wichtig,
Solidarität zu zeigen“, sagt sie. „Einerseits fühlt es sich komisch an,
dass solche Veranstaltungen gerade stattfinden, andererseits haben wir für
die Menschen in der Ukraine getanzt.“
Sie ist froh, dass ihre Eltern, die beim Wettbewerb waren, währenddessen
kleine Handyvideos nach Cherson geschickt haben. So konnten ihre Verwandten
wenigstens ein bisschen dabei sein.
2 Apr 2022
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[1] https://www.ttc-bochum.de/
[2] /Ukraine-in-der-Gegenoffensive/!5843972
[3] https://www.express.de/politik-und-wirtschaft/lets-dance-ukraine-praesident…
## AUTOREN
Anna Fastabend
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