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# taz.de -- Die Wahrheit: Sie leuchten grün im Dunkeln
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (141):
> Meeresnacktschnecken handeln beim Schnackseln aus, wer Männchen und wer
> Weibchen ist.
Bild: Elysia cholortica: So könnte auch eine Platte von Madonna oder Björk he…
Bei den Meeresnacktschnecken handelt es sich um zwei „Pflanzentiere“:
Costasiella kuroshimae heißt die eine und die mit ihr verwandte Elysia
chlorotica. Erstere sieht aus wie ein wandelnder Kaktus, manchmal auch wie
ein kleines Schaf. Letztere hat das Aussehen eines geäderten Blattes.
Beides sind hermaphroditische Nacktschnecken. Bevor sie sich paaren, müssen
sie also aneinandergeschmiegt erst ausmachen, wer Männchen und wer Weibchen
sein soll. Meistens wollen beide das Männchen sein: Das ist danach weniger
anstrengend.
Costasiella lebt auf einer Fächeralge, die auch ihre Nahrungsgrundlage ist.
Sie verdaut die Pflanze jedoch nicht ganz, sondern integriert ihre
zellulären Chloroplasten (altgr. für „grün“ und „geformt“) in ihren …
wo diese weiter Photosynthese betreiben und damit Nahrung für die Schnecke
produzieren. Costasiella wird also quasi von Sonnenenergie angetrieben und
ist dazu grün geworden, was sie zu einem Mischwesen aus Tier und Pflanze
macht. Man nennt das Kleptoplastie (Chloroplasten-Diebstahl).
Die nur sieben Milimeter groß werdende Costasiella kuroshimae wurde 1993
vor der Küste der japanischen Insel Kuroshima entdeckt. UniGuide nennt sie
„die entzückendsten Meeresschnecken des Ozeans“, IFLScience spricht von
„süßen Meeresschnecken“. Solch Begeisterung hat zur Folge, dass es im
Internet mehr Videos und Fotos von der Schnecke gibt als Lebenswissen über
sie, ihre Popularität bewirkt zudem, dass viele Aquarianer scharf auf
dieses winzige grüne Mischwesen sind, das leuchtet, wenn es im Dunkeln
angestrahlt wird.
Die ähnlich grüne blattförmige Meeresschnecke Elysia integriert ebenfalls
die Chloroplasten ihrer Futterpflanze (der Alge Vaucheria litorea). Sie
lebt im Brackwasser an der nordamerikanischen Ostküste und wird bis zu 30
Milimeter groß. Die Biologin Lisa Signorile schreibt (in: „Missgeschicke
der Evolution“, 2014), dass die „photosynthetische Elysia“ mit ihrer rauen
Zunge Algen abraspelt, deren „Chloroplasten, die Kohlenstoff und
Sonnenlicht in Traubenzucker (Glucose) verwandeln“, von „Spezialzellen“ in
ihrem Darm aufgenommen werden.
## Keine Kleptoplastie
Der Biologe William Martin von der Universität Düsseldorf meint jedoch,
dass dieser Vorgang keine „Kleptoplastie“ (Entwendung von Chloroplasten)
ist. Elysia verschluckt die Chloroplasten quasi ungewollt mit, und dann
leben sie noch eine Weile grünschimmernd in ihr, „sie kann aber genauso
auch im Dunkeln leben“.
Die Biologin Mary Rumpho von der Universität von Maine berichtete dagegen
in den Proceedings der US-Akademie der Wissenschaften: „Elysia muss nur in
ihrer Jugend fressen – und versorgt sich anschließend zum Teil mit
Sonnenlicht über die ‚gekidnappten‘ Chloroplasten.“ Rumpho hatte sich
gefragt: „Überleben die Chloroplasten ganz von alleine innerhalb der
fremden tierischen Umgebung – oder hat die Schnecke gar DNA aus dem Kern
der Algen übernommen, um eine passende Umgebung für die Photosynthese der
Chloroplasten zu schaffen?“
Dann fand die Biologin heraus: „Elysia hat im Erbgut von Vaucheria
gewildert. Ein Vergleich des tierischen mit dem pflanzlichen Gen brachte
eine hundertprozentige Übereinstimmung.“ Damit wäre die pflanzliche
Herkunft der für die Photosynthese notwendigen DNA im Genom der Schnecke
eindeutig geklärt. „Diese Übertragung ist unter dem Namen horizontaler
Gentransfer bereits vielfach bekannt, kommt allerdings meist bei Bakterien
vor, bei höheren Organismen ist sie selten.“
## Horizontaler Gentransfer
Dem New Scientist gestand Rumpho später: „Wir wissen nicht, wie dieser
horizontale Gentransfer möglich ist.“ Sie vermutet, dass Viren das
Pflanzen-Gen übertragen haben. Das Gen fand sich auch in den
Geschlechtszellen der Schnecken, die diese Erbanlage damit vermutlich an
ihre Nachkommen weitergeben. „So ausgestattet, kann auch der
Schneckennachwuchs von der Photosynthese profitieren.“
Dass es auf vergleichbarem Weg grüne Menschen geben könnte, erwartet die
Schneckenforscherin laut n-tv nicht: „Unser Verdauungssystem zerlegt die
Nahrung weitgehend komplett: Zellen, Chloroplasten und DNA“, sagte sie.
Vielleicht spielte sie damit auf den Biologen Chuck Fisher von der Penn
State University an, der die Idee verfolgt, „Menschen photosynthetische
Algen unter die Haut zu setzen“. Das würde die Menschheit noch bunter
machen. Aber wichtiger wäre, „dass diese kleinen Symbionten den Großteil
der Nahrung produzieren würden, die wir brauchen“. Außer Frage bleibt, ob
wir den Chloroplasten überhaupt einen Platz unter der Haut bieten können,
der ihnen zusagt.
Der Chloroplasten-Diebstahl hat zudem Elysia nicht nur Glück gebracht. Sie
hat ein „entsetzliches Geheimnis“, meint der US-Biologe und Mediziner Frank
Ryan in seinem Buch über die „Macht der Viren in der Evolution:
‚Virolution‘“ (2010). Ihr kurzes Leben sähe so aus: „Die Wärme des
Frühlings erweckt die im Jahr zuvor geborenen Schnecken aus ihrer
winterlichen Starre“. Daraufhin legen sie „große Mengen an Eiern“, aus
denen nach rund einer Woche Larven schlüpfen. Diese treiben im Flachwasser
und suchen nach ihrer Alge, auf der sie sich „festsetzen“ und ihre
„Metamorphose zu winzigen Schnecken abschließen“. Durch das Abraspeln der
Alge dehnt sich ihr Verdauungstrakt aus – „bis die Chloroplasten direkt
unter der Haut eine durchgängige Schicht bilden. Sobald dies erreicht ist,
bilden die Schnecken ihren Mund zurück und schalten auf reinen Solarbetrieb
um“, das heißt: Sie beziehen ihre Energie ausschließlich von den
Chloroplasten. Diese wären eigentlich „auf eine kontinuierliche Versorgung
mit Proteinen angewiesen“, die sie aus den Zellkernen der Alge bekämen.
## Wichtige Gene
Aber Elysia kann auch für sie sorgen, denn irgendwann übertrugen sich
„wichtige Gene“ vom Zellkern der Alge in den Zellkern der Schnecke. Ryan
ebenso Rumpho nehmen an, dass diese Übertragung durch Viren geschah,
Retroviren, die seitdem in Elysia leben. Unklar ist noch, wie die Viren das
bewerkstelligten. Man beobachtete jedoch, wie die Viren sich in den
Zellkernen von Elysia versammeln und von dort aus durch ihre „inneren
Organe und Gewebe wandern“.
„Aber die Geschichte nimmt noch eine letzte Wendung“: Wenn Elysia aus der
Winterstarre erwacht ist und ihre Eier abgelegt hat, vermehren sich ihre
bislang „unschädlichen Viren explosionsartig“. Die Schnecke wird krank –
und stirbt. „Das ist kein Einzelfall: Man hat diese Massenvermehrung in
allen sterbenden Schnecken beobachtet. So, als hätten die Viren einen
abrupten Sinneswandel durchgemacht“ – vom Freund zum Feind, der eine ganze
Schneckengeneration auslöscht. Ryan nennt das eine „aggressive Symbiose“.
Die Massenvermehrung von Elysias-Viren muss jedoch nicht in Verbindung mit
ihrem Tod stehen: Auch Landschnecken sterben nach dem Ablaichen, wie unter
anderem die Ökonomin Elisabeth Tova Bailey berichtete (in: „Das Geräusch
einer Schnecke beim Essen“, 2016). Und sowieso werden laut Nabu wenigstens
die kleinen „Bauchfüßer“ in der Regel „kaum älter als ein Jahr“.
14 Mar 2022
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Die Wahrheit
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Meeresbiologie
Tiere
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