| # taz.de -- Die Wahrheit: Nachtigall, ick hör dir trapsen … | |
| > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (144): Von famos | |
| > brauchbaren und unbrauchbaren Gesängen der schönen Nachtigall. | |
| Bild: Die Nachtigall, die Nachtigall, ja, sie ist's, wie sie singt und trinkt! | |
| Jetzt müssten langsam die männlichen Nachtigallen wieder eintrudeln und | |
| anfangen zu singen. Die Weibchen kommen etwas später – wenn die Männchen | |
| das Brutrevier klar gemacht haben. Die Bundeshauptstadt Berlin hat mit | |
| 1.300 bis 1.700 Brutpaaren eine recht hohe Nachtigallpopulation. Sie wächst | |
| laut der Berliner Naturschutzbehörde um etwa sechs Prozent jährlich. | |
| Und hier an der Freien Universität (FU) gibt es auch eine vielköpfige | |
| Nachtigallenforschung – denn seit zirka der Wende gilt Berlin als | |
| „Nachtigallhauptstadt“. Davor war es Halle. Und davor die „berühmte | |
| Nachtigallenschule von Kasan“. Aber das waren dort keine Nachtigallen, | |
| sondern ihre nordöstliche Schwesternart: Sprosser. Nachtigallen gibt es nur | |
| diesseits der Oder, die Sprosser jenseits, wie uns der Biologe Cord | |
| Riechelmann in einem Seminar an der Berliner Humboldt-Universität über | |
| „Artenbildung durch den Gesang“ mal erklärte. | |
| An der Oder haben sie eine Kontaktzone. Die Nachtigallen drängen nach | |
| Osten, gelegentlich umwerben und verpaaren sie sich dort bereits. Aber es | |
| kommt nichts dabei raus, noch nicht, meinte der Nachtigallliebhaber | |
| Riechelmann 2007. | |
| Inzwischen ist es den FU-Forschern gelungen, den Gesang „der Kinder von | |
| Nachtigallmännchen und Sprosserweibchen aufzunehmen, zuzuordnen und zu | |
| analysieren“, schreibt die FU-Nachtigallforscherin Silke Kipper in ihrem | |
| Buch „Die Nachtigall. Ein legendärer Vogel und sein Gesang“ (2022). | |
| ## Die legendäre „Sprosserschule“ | |
| Dennoch war die viel erforschte „Nachtigallschule von Kasan“ wohl eine | |
| „Sprosserschule“. Sie existiert nicht mehr, wie Jewgenia Ginsburg in ihren | |
| Erinnerungen „Marschroute eines Lebens“ 1967 berichtete. Neben allen | |
| anderen „Schandtaten“ hatten die Bolschewiken auch diese „Schule“ auf d… | |
| Gewissen – indem sie deren Eichenwald gefällt – und die Stämme nach Engla… | |
| verkauft hatten. | |
| Der sowjetische Kriegsberichterstatter Wassili Grossman schrieb in seinem | |
| „Kriegstagebuch“ 1944 über sich und die anderen Kriegsberichterstatter, die | |
| immer wieder vom Hinterland an die Front mussten: „Der unangenehmste | |
| Augenblick ist genau dieser Wechsel von den Nachtigallen zu den Flugzeugen | |
| …“ Als die Front über die Oder in Richtung Berlin wechselte, bemerkte | |
| Grossman den Unterschied im Gesang von Sprosser und Nachtigall allerdings | |
| nicht – er ist aber auch nur von Nachtigallforschern mit Aufnahmetechnik zu | |
| „hören“. | |
| Der Musiker David Rothenberg zitiert in „Stadt der Nachtigallen. Berlins | |
| perfekter Sound“ (2020) den Autor eines Buches über Nachtigallen, Oliver | |
| Pike. Dort heißt es, dass eine Nachtigall während einer Schlacht 1916 in | |
| einem französischen Wald sang, wobei ihr Lied zusammen mit der „Wucht der | |
| Einschläge“ eine „herrliche Melodie“ ergaben, „als das Bombardement st… | |
| wurde, nahm der Vogel die Herausforderung an“. | |
| In Harper Lees Südstaatendrama „Wer die Nachtigall stört“ handelt es sich | |
| um keine Nachtigall und keinen Sprosser, sondern um eine Spottdrossel | |
| (Mockingbird). Nur im Deutschen wurde daraus eine Nachtigall. | |
| Der Berliner Nachtigallenstreit, der vornehmlich zwischen Künstlern und | |
| Wissenschaftlern stattfindet, konzentriert sich auf die im dortigen | |
| Treptower Park – weil dort genug von diesen „Sehnsuchtsvögeln“ singen. Es | |
| hat sich bereits eine Nachtigallenforscherinnen-Forscherin eingestellt: | |
| Eine Soziologin, sie forscht darüber, „wie in unserer (FU)-Forschung die | |
| Technik den Ton angibt“. | |
| ## Eine Nachtigall namens „Peking“ | |
| Die FU-Nachtigallenforscher sind schon gleich nach der Wende in das Gelände | |
| an der Spree eingefallen. Inzwischen haben sie den Gesang eines Männchens | |
| namens „Peking“ über zehn Jahre erforscht. „Jeden Herbst machte Peking s… | |
| auf den Flug ins subsaharische Afrika, um im nächsten Frühjahr | |
| zurückzukehren“ – in den Treptower Park. | |
| Silke Kipper verdankt viele ihrer „Einsichten über Nachtigallen, Peking und | |
| seinem Gesang“. Das Revier eines anderen Nachtigallmännchens nannte ihre | |
| Forschungsgruppe „PW1“ – PW hieß Plänterwald, womit eine gleichnamige | |
| DDR-Gaststätte gemeint war, die es nicht mehr gibt. Einmal kam ein | |
| „Saxofonspieler aus den USA, der meinte, dass Nachtigallen mit ihm und | |
| seinem Instrument kommunizieren“. Kipper meint damit, ohne Namen zu nennen, | |
| den künstlerisch tätigen Nachtigallforscher und merkt bitter an: „Gut | |
| möglich – aber warum musste er ausgerechnet mit dem Männchen jammen, für | |
| das wir in jener Nacht ein individuell zugeschnittenes Playbackexperiment | |
| vorgesehen hatten? Das Experiment war im Eimer, die Nacht vertan.“ | |
| Gegen Ende ihres Buches erfährt man, dass sich „der Jazzmusiker David | |
| Rothenberg im Austausch mit den Nachtigallen in der Hasenheide versuchte“ – | |
| mit Klarinette. „Während in anderen Städten viel Geld für ein organisiertes | |
| Nachtigallkonzert gezahlt wird, musste er sich in Berlin mit | |
| Interessenskonflikten mit Biolog:innen herumschlagen.“ | |
| ## Stadt der Nachtigallen | |
| Diesem Konflikt widmet Rothenberg in seinem Buch „Stadt der Nachtigallen“ | |
| mehrere Seiten. Bevor er, der Amerikaner, und eine Schar von Followern, | |
| sich dem Baum nähern, auf dem ein Nachtigallmännchen singt, und unter dem | |
| wenig später in der Nacht auch die FU-Forscher ihr Gerät für ein | |
| Playbackexperiment aufbauen wollten, hat er erst einmal unweit des | |
| sowjetischen Ehrenmals eine Diskussion mit zwei angetrunkenen Russen. Es | |
| ging darum, wer mehr Anspruch auf den Sieg über Nazideutschland hatte: die | |
| Amerikaner mit ihren 25.000 Toten oder die Russen mit 25 Millionen Toten? | |
| Beim Auspacken seiner Instrumente sieht er „unsere Freunde, die | |
| Wissenschaftlerin Silke Kipper und ihre Kollegin Sarah Kiefer“ kommen. Die | |
| schimpfen jedoch sofort los: „Was machen Sie hier, David? Das ist unser | |
| Forschungsgebiet, wie Sie wissen. Wir wollen nicht, dass Sie unsere | |
| Datensammlung verderben.“ Rothenberg verteidigt sich mit dem Argument, dass | |
| gerade dieser Vogel auf dem Baum, unter dem sie stehen, „etwas ganz | |
| Besonderes“ sei. | |
| ## Unbrauchbarer Vogel | |
| Er war zuvor schon im Treptower Park gewesen und hatte Nachtigallen etwas | |
| mit seiner Klarinette vorgespielt, auch Playbacks ihrer Gesänge. Das gab er | |
| zu, woraufhin Kipper oder Kiefer enttäuscht äußerten: „Der Vogel ist für | |
| uns nicht mehr brauchbar“, weil er ihm seinen eigenen Gesang vorspielte – | |
| „das ist ein Playbackexperiment, und das veranstalten wir gerade. […] Sie | |
| haben sich in unsere Forschungsarbeit eingemischt. Haben auf das Gehirn des | |
| Vogels eingewirkt, auf sein ästhetisches Empfinden. Wer weiß, was Ihre | |
| Musik ihm angetan hat!“ | |
| Rothenberg ist „überrascht von ihrem Zorn. Wir befinden uns hier nicht | |
| gerade in unberührter Natur oder? Vor wenigen Stunden war dieser Platz | |
| überschwemmt von russischen Liedern, mit denen das Ende des 2. Weltkriegs | |
| gefeiert wurde.“ Sie streiten eine Weile über die Wirkung von fremden | |
| Liedern und vom eigenen Gesang auf die Nachtigallmännchen. Irgendwann | |
| „seufzt Kipper: ‚Ich gebe mich geschlagen.‘ Sie wendet sich geknickt ab u… | |
| murmelt: ‚Verdorben, verdorben, wieder ein Experiment verdorben.‘“ | |
| 2 May 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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