# taz.de -- Für und Wider zu Gesellschaftsjahr: Soziale Verpflichtungen | |
> Auf eine Wehrpflichtdebatte folgt der Vorschlag eines Gesellschaftsjahres | |
> für alle. Würden junge Menschen und Einrichtungen davon profitieren? | |
Bild: Ein Freiwilligendienstleistender mit Bewohnerin einer Seniorenwohnanlage … | |
## Ja. | |
Der Anlass ist der Falsche, klar. Dass die CDU-Politikerin Serap Güler im | |
Spiegel ein „verpflichtendes [1][soziales Gesellschaftsjahr]“ vorschlägt, | |
hat nämlich erst mal nichts damit zu tun, dass [2][Care-Berufe] aufgewertet | |
werden sollen. Sondern es ist Nebenprodukt einer erneuten Debatte über die | |
Wehrpflicht. | |
Letztere findet Güler unsinnig. [3][Sie schreibt]: „Was wir stattdessen | |
brauchen, ist ein verpflichtendes soziales Gesellschaftsjahr für alle | |
jungen Menschen, die ihren Schulabschluss in Deutschland machen – | |
unabhängig von Geschlecht und Staatsbürgerschaft.“ Ihre Hoffnung: Dem | |
Fachkräftemangel im Sozialen könne begegnet werden, indem man Jugendliche | |
früher an den Bereich heranführt. Also: Aus der Schule direkt rein in | |
Pflege, Kita, Stadtteilverein. Ein Jahr anpacken, dann erst raus in die | |
„Freiheit“. Oh nee, stöhnt nicht nur meine (männliche) Generation, die bis | |
2011 noch gezwungenermaßen zivil diente – oder alles unternahm, um | |
ausgemustert zu werden. | |
Pflichten nerven, das macht die Sache aber nicht weniger wichtig. Wir | |
verpflichten junge Menschen zu so viel – Sportunterricht, Wandertage ins | |
Museum, Thomas Mann lesen. Wir begreifen das als Grundbildung. | |
Solidarisches Fürsorgen etwa nicht? Nö. Machen schließlich die Frauen. | |
Die Idee ist nicht neu, sie steht schon länger auf den Flipcharts vor allem | |
der CDU. Schon 2019 hatte die damalige CDU-Chefin Annegret | |
Kramp-Karrenbauer das „verpflichtende soziale Jahr“ statt Wehrpflicht | |
vorgeschlagen. Zu Beginn der Pandemie forderte der bayerische | |
Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) eine | |
Sozialdienst-Pflicht. Es ist also nicht gerade eine sozialistisch geprägte | |
Debatte. Kommt alles von den Konservativen, diesen ewigen | |
Spielverderber*innen einer unbeschwerten Jugend. Linksliberale dagegen | |
neigen zur Anti-Autorität, setzen auf intrinsische Motivation. Auf diese | |
Weise entsteht aber eine Schere bei sozialen Tätigkeiten. Simpel gesagt: | |
Soziales Engagement muss man sich leisten können – Care-Arbeit wird immer | |
prekärer. | |
„Warum sollten wir nicht versuchen“, schreibt Güler, „diese für den | |
gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtigen Bereiche in ihrer Personalnot | |
punktuell zu entlasten und junge Menschen mit sozialen Berufen näher | |
bekannt zu machen?“ Ja, warum nicht? | |
Ein Jahr ist dafür zu viel. Vielleicht ist der Zeitpunkt nach dem | |
Schulabschluss auch falsch gewählt. Eingehegt in die Schulzeit wäre besser. | |
Also, erstes Halbjahr Neunte (vorausgesetzt, alle Schulgänge dauern | |
mindestens zehn Jahre) ist ein soziales Praktikum dran, im Klassenverband, | |
begleitet mit Lern-Blocks wie in der dualen Ausbildung. Natürlich ersetzen | |
15-Jährige keine Fachkraft. Sie sollen lernen und helfend zuarbeiten. Das | |
gäbe Auszeit vom Notendruck, manche könnten endlich mal zeitweise „die | |
Besten“ sein, mit Sorge-Skills glänzen. | |
Ideal wäre, wenn wir Erwachsenen mitziehen. Pause von der Erwerbsarbeit | |
zwischen 30 und 50 für ein soziales Jahr, mit Grundeinkommen vom Staat. | |
Eltern- und Pflegezeiten wären anrechenbar. | |
Peter Weissenburger | |
Nein. | |
Auch wenn [4][Serap Güler] den Vorschlag als eine Win-win-Situation | |
verkaufen möchte, ist das Gegenteil der Fall. Wer soziale Arbeit zu einem | |
Zwang macht, landet am Ende in einer Lose-lose-Situation. | |
An meiner Schule gab es in der 11. Klasse ein verpflichtendes | |
Sozialpraktikum. Für zwei Wochen sollten wir Schüler:innen unentlohnt in | |
einen sozialen Beruf hineinschnuppern. Diejenigen, die von einem | |
Medizinstudium träumten, sahen in dem verpflichtenden Praktikum eine erste | |
Chance zur Optimierung des Lebenslaufs und verbrachten ihre Zeit im | |
Krankenhaus, andere vielleicht eine willkommene Abwechslung vom | |
Schulalltag; doch die meisten hatten keinen Bock und entschieden sich dann | |
meist für den Kindergarten als Arbeitsort. Vermutlich, weil sie dachten, | |
das sei am wenigsten Arbeit. Dementsprechend fiel dann auch das Feedback | |
der Erzieher:innen aus, das an unsere Lehrer:innen weitergegeben | |
wurde. Denn statt einer Hilfe hatten sie mit nörgeligen Teenagern, die im | |
Weg standen, eine zusätzliche Belastung am Arbeitsplatz. | |
Ähnlich stelle ich mir das bei einem verpflichtenden sozialen Jahr nach | |
Schulabschluss vor. Denn auch wenn es selbstverständlich einzelne Personen | |
gibt, die sich durch ein Pflichtjahr für einen sozialen Beruf begeistern | |
könnten, sollte man sich fragen, wer von so einer Verpflichtung wirklich | |
profitiert? Die ohnehin schon überarbeitete Pfleger:in, die in ihren | |
Überstunden nun auch noch missmutige 18-Jährige herumkommandieren soll? Die | |
Schulabgänger:in, deren Zukunftspläne aufgehalten werden? Oder die zu | |
pflegende Person, die sich mit einer unausgebildeten Hilfskraft | |
konfrontiert sieht? | |
Richtige Gewinner:innen scheint es bei einer Verpflichtung also nur | |
wenige zu geben. Der Verdacht, dass auch diese Forderung nach einem | |
verpflichtenden sozialen Jahr wieder nur ein Plan ist, mit der sich noch | |
mehr Menschen als billige Arbeitskräfte ausbeuten lassen, ist also nicht | |
von der Hand zu weisen. | |
Lösungen, um die [5][anhaltende Care-Krise in Deutschland] zu beenden, | |
liegen ganz woanders. Auf den Fachkräftemangel im Gesundheits- und | |
Pflegewesen sollte mit fairen Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen, die | |
auch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Lohnarbeit garantieren, | |
reagiert werden. | |
Menschen lassen sich besser für soziale Berufe begeistern, wenn aus der | |
Pflicht ein Angebot wird. Allen Menschen – egal wie alt sie sind – sollte | |
also die Chance gegeben werden, sich für 12 Monate sozial engagieren zu | |
können. Wer auf ein regelmäßiges Einkommen angewiesen ist, kann nicht | |
einfach mal für ein Jahr aus der Lohnarbeit aussteigen, um in einem Hospiz | |
oder in der Obdachlosenhilfe zu arbeiten. Eine Win-win-Situation wäre es, | |
wenn [6][bestehende Programme wie das FSJ] oder der | |
Bundesfreiwilligendienst mit genügend Geld ausgestattet werden. Damit | |
jede:r, die oder der Lust hat, die Angebote in Anspruch nehmen kann. | |
Carolina Schwarz | |
14 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-Aufruestung/!5835458 | |
[2] /Ungerechte-Verteilung-von-Sorge/!5839488 | |
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wehrpflicht-wir-muessen-sozial-a… | |
[4] /Serap-Gueler-ueber-Vorstoss-aus-Berlin/!5747792 | |
[5] /Ungerechte-Verteilung-von-Sorge/!5839488 | |
[6] /Freiwilliges-Soziales-Jahr/!5152011 | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
Peter Weissenburger | |
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