# taz.de -- Freiwilliges Soziales Jahr: Helfen, für den Lebenslauf | |
> Ursula von der Leyen will die Freiwilligendienste ausbauen. Sie möchte | |
> fördern, dass Jugendliche sich für die Gesellschaft engagieren. Dabei | |
> engagieren die sich längst für sich selbst. | |
Bild: Solidarischer Individualismus – kalkulierte Hilfsbereitschaft statt Hel… | |
Julia Oschlies nennt sich selbst einen Denker. Sie achtet darauf, dass die | |
Dinge, die sie tut, für ihre Zukunft Sinn machen und einer erkennbaren | |
Ordnung folgen. Abitur, Studium, Beruf. | |
Seit kurzem macht Julia Oschlies ein Freiwilliges Soziales Jahr. Die | |
19-Jährige hat in diesem Herbst damit angefangen und so viele Freiwillige, | |
wie in ihrem Jahrgang gab es in Deutschland noch nie. | |
Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen sagt, das sei "ein Beweis | |
dafür, dass immer mehr junge Menschen in Deutschland sich für die | |
Allgemeinheit einsetzen wollen." | |
Julias Oschlies' Allgemeinheit heißt heute Julia, ist fünfeinhalb Jahr alt | |
und hat keine Lust auf Mathehausaufgaben. Das Mädchen sitzt an einem | |
Schultisch, zieht den Ärmel ihres Pullovers über die Hand und schaut Julia | |
Oschlies an. Die wiederholt: "Drei Katzenbabys liegen bei der Mutter, zwei | |
hier an der Seite – wie viele Katzenbabys sind das dann zusammen?" Julia | |
zerbricht ihren Radiergummi, dann legt sie den Kopf auf den Tisch. | |
Julia Oschlies wollte jetzt eigentlich an der Uni sein. Stattdessen | |
arbeitet sie in einem Schulprojekt der Malteser an einer katholischen | |
Schule in Berlin: Nachmittagsbetreuung, Unterstützung der Lehrer im | |
Unterricht, Hausaufgabenhilfe. Als die 19-Jährige sich nach dem Abitur im | |
Sommer für das Studium bewarb, kamen nur Absagen. "Ich habe überlegt, als | |
Überbrückung etwas Ehrenamtliches zu machen, das man in den Lebenslauf | |
integrieren kann", sagt sie. So wurde sie Freiwillige, ganz pragmatisch. | |
Mit Oschlies haben etwa 37.500 Jugendliche in diesem Jahr einen | |
Freiwilligendienst begonnen – 4500 mehr als noch vor vier Jahren. Der | |
allergrößte Teil der Jugendlichen, etwa 35.000, macht ein Freiwilliges | |
Soziales Jahr. Das FSJ gibt es seit Anfang der Sechziger Jahre, es sollte | |
persönliche und berufliche Orientierung verbinden. Noch heute arbeiten die | |
meisten FSJler für die großen Wohlfahrtsverbände etwa in Altenheimen, | |
Kindergärten oder Behinderteneinrichtungen. | |
Aber seit den Neunzigern vervielfachen sich die Möglichkeiten: Ein | |
Freiwilliges Ökologisches Jahr wurde eingeführt, unter dem Dach des FSJ | |
entstanden Freiwilligendienste in den Bereichen in Kultur, Sport und | |
Denkmalpflege, seit kurzem haben auch noch das Entwicklungsministerium und | |
das Auswärtige Amt eigene Freiwilligendienste. | |
Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat nun angekündigt, die | |
Freiwilligendienste in Deutschland auszubauen. Laut Koalitionsvertrag will | |
die schwarz-gelbe Bundesregierung unter anderem den Freiwilligenstatus | |
einheitlich gesetzlich festlegen. Was konkret geplant ist, dazu sagt man im | |
Familienministerium noch nichts. Nur das es bis Anfang 2011 geschehen sein | |
soll – bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Zivildienst voraussichtlich auf | |
sechs Monate gekürzt wird. | |
Als von der Leyen sagte, Sie werde sich um die Freiwilligendienste kümmern, | |
ging es auch darum, die Sozialverbände zu beruhigen. Viele hatten | |
angekündigt, bei einem halbjährigen Zivildienst künftig auf FSJler | |
umzusteigen. Sie forderten, in die Freiwilligendienste müsse auch das Geld | |
fließen, dass durch die Verkürzung eingespart werde. | |
Momentan fördert das Familienministerium FSJ und FÖJ mit rund 18,6 | |
Millionen Euro jährlich. Damit zahlt es eine Pauschale für die pädagogische | |
Betreuung der Freiwilligen – bei FSJlern beispielsweise 72 Euro im Monat. | |
Die Förderung ist allerdings auf knapp 19.000 Plätze begrenzt. | |
Julia Oschlies verdient 468 Euro im Monat. Ihr Trägerverband, die Malteser, | |
haben sich auf einen einheitlichen Satz für Freiwillige in ganz Deutschland | |
geeinigt. Für eine FSJlerin ist das ein Spitzenverdienst. Andere arbeiten | |
für 205 Euro im Monat, in der Regel liegt der Höchsatz bei 320 Euro. Wer | |
wieviel bekommt, hängt von Bundesland und Sozialverband ab. Aber selbst | |
Julia Oschlies kostet ihre Einsatzstelle einen Bruchteil einer festen | |
Arbeitskraft. | |
Auf die Frage, warum sie erstmals zwei FSJler eingestellt habe, antwortet | |
ihre Chefin Hendrikje Morawe: "Den Auschlag gab, das hier Personalmangel | |
herrscht." Beim Schulprojekt der Berliner Malteser ist Morawe die einzige | |
festangestellte Mitarbeiterin – dazu kommen Ehrenamtliche. "Zwei Personen | |
zusätzlich, die den ganzen Tag da sind, sind eine große Erleichterung im | |
Hinblick auf Aufsicht und Betreuung", sagt Morawe. | |
FSJler dürfen keine Arbeitsplätze ersetzen. Aber eine zweite feste | |
Mitarbeiterin sei sowieso nicht in Sicht gewesen, sagt Morawe. Sie sieht | |
die FSJ-Stelle ebenso pragmatisch wie Julia Oschlies ihre Bewerbung. | |
Hartmut Brombach, Sprecher des Bundesarbeitskreises FSJ, findet das in | |
Ordnung. Er unterstützt, dass das FSJ ein Bildungsjahr bleibt, aber er weiß | |
auch: Weder treibt die Einsatzstelle nur Freude an der pädagogischen | |
Betreuung, noch den Freiwilligen nur Altruismus. "Das ist eine Verklärung", | |
sagt Brombach. | |
Wer das FSJ nur in diese Ecke dränge, vertue die Chance, bei Gruppen, die | |
als Freiwillige unterrepräsentiert sind, dafür zu werben, was ihnen ein | |
solches Jahr bringe. Die Hälfte der FSJler sind Abiturienten, nur 12 | |
Prozent Hauptschulabsolventen oder haben keinen Schulabschluss. Viel zu oft | |
würde etwa von Politikern gesagt, die Jugendlichen wollten sich für die | |
Gesellschaft engagieren, sagt Brombach. | |
Ein Tagungsheim in Wünsdorf, einer Kleinstadt südlich von Berlin. FSJler | |
der Diakonie in Berlin und Brandenburg treffen sich hier für eine Woche zum | |
Seminar. An den Wänden des Tagungsraums im ersten Stock hängen Plakate aus | |
buntem Packpapier, mit Zeitungsausrissen beklebt, mit Filzstift | |
beschrieben. | |
An ihrem ersten Seminartag sollten die FSJler Erwartungen an das Jahr | |
aufschreiben. "Sich für die Gesellschaft engagieren" steht auf keinem | |
Plakat, einmal kommt "Menschen helfen" vor. Größer geschrieben ist: "Neue | |
Berufsfelder entdecken", "selbstständig werden", "Aufstiegschancen". | |
Paula-Marie Behrens fand diese Aufgabe kindisch. "Ich erwarte | |
intellektuelles Niveau, auch in den Methoden", sagt sie. "Wir sind alle | |
fast erwachsen." Paula-Marie Behrens, 19 Jahre, einen Ring durch die | |
Nasenscheidewand und ein Metallstäbchen durch die Augenbraue, kommt aus der | |
linken Jugendarbeit. Sie will Sonderpädagogik studieren und dafür voher | |
praktisch einen sozialen Beruf ausprobieren. "Das passt total gut in den | |
Lebenslauf", sagt auch sie. Aber dahinter steckt noch mehr. | |
Behrens wollte eigentlich mit Kindern arbeiten, wie Julia Oschlies. Nun | |
kümmert sie sich in einem Heim in Potsdam um junge Erwachsene mit | |
Schwerstmehrfachbehinderungen. Bis auf Spritzen setzen macht sie dort | |
alles, was eine Pflegerin macht – Füttern, Wickeln. Einige Patienten | |
erbrechen sich aufgrund ihrer Behinderung beim Essen immer wieder, andere | |
haben sauren Kot, der stechend riecht. "Ich habe erst gedacht, ich kann das | |
nicht, aber ich wusste, wenn ich es nicht mache, macht es keiner", sagt | |
Paula-Marie Behrens. | |
Sie musste immer wieder würgen, hielt kurz den Kopf aus dem Fenster. Wenn | |
sie weinen musste, machte sie einfach weiter und sagte zu den Patienten: | |
Alles ok, es hat nichts mit dir zu tun. Dafür bekommt sie 205 Euro im | |
Monat. "Das ist keine Arbeit, die ich mein ganzes Leben machen will, aber | |
es muss Menschen geben, die sie ein Jahr lang machen", sagt die 19-Jährige. | |
Die Ausburger Sozialwissenschaftlerin Angela Eberhard hat ihre Dissertation | |
über Menschen wie Paula-Marie Behrens und Julia Oschlies geschrieben. Sie | |
befragte 700 FSJlerinnen, die fünf bis fünfzehn Jahre zuvor ihren | |
Freiwilligendienst beendet hatten. | |
Ergebnis: Das soziale Engagement ist nach dem FSJ nicht signifikant höher | |
als davor. "Auch wenn das nicht zu den heren Zielen passt: das FSJ ist ein | |
weiterer Schritt einer sowieso schon engagierten Biographie", sagt | |
Eberhard. Das bestätige für die Jugendlichen die These vom solidarischen | |
Individualismus – kalkulierte Hilfsbereitschaft statt Helferpathos. | |
Wer mehr Freiwillige wolle, müsse auch diese Deutung zulassen, sagt Harmut | |
Brombach vom Bundesarbeitskreis FSJ. Und mehr Freiwillige wollen eigentlich | |
alle. Die Oppositionsparteien überbieten sich gerade bei der Frage, wie | |
viele mehr. "Man müsste sich als ehrgeiziges Ziel setzen, die Zahl aller | |
Freiwilligendienstplätze zu verdoppeln", sagt der Kai Gehring, | |
jugendpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. "Wir wollen langfristig | |
jedem Schulabgänger, der will, einen Platz anbieten", sagt der Sönke Rix, | |
der das Thema für die SPD-Fraktion besetzt. Momentan bekommen allein die | |
großen Träger 85.000 Bewerbungen für 35.000 FSJ-Plätze. Allerdings bewerben | |
sich auch Jugendliche um mehrere Einsatzstellen. | |
Mehr Freiwillige bräuchten auch mehr Bundesförderung. "Wir haben es in der | |
großen Koalition versäumt, mehr Geld in die Hand zu nehmen", sagt Sönke | |
Rix. Gerade wenn außerhalb der Gymnasien mehr geworben werden soll, müsse | |
die Pauschale für die pädagogische Betreuung erhöht werden. Sie deckt schon | |
jetzt laut Arbeitskreis FSJ nur ein Drittel der Kosten. | |
Dass nun über die Mittel aus der Zivildienstverkürzung diskutiert werde, | |
sieht Sönke Rix als Chance für den Freiwilligendienst. "Ich glaube wir | |
könnten auch unter einer schwarz-gelben Regierung zu einer Verbesserung | |
kommen", sagt er. | |
Klare Zusagen für deutlich mehr Förderung vom Familienministerium gibt es | |
bisher noch nicht. Angekündigt hat Ursula von der Leyen aber schon, dass | |
sie sich dafür einsetzen will, dass es für alle Freiwilligen ein | |
anerkanntes Zeugnis gibt. Für die Bewerbungsmappe. | |
24 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Luise Strothmann | |
Luise Strothmann | |
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