# taz.de -- Wie Vergangenes ins Bild gesetzt wird: Der Fotograf als Gekreuzigter | |
> Der Kunsthistoriker Peter Geimer sucht in seinem Buch „Die Farben der | |
> Vergangenheit“ nach einer Balance zwischen Aneignung und Blick aus der | |
> Distanz. | |
Bild: Nachkoloriertes Filmstill aus „They Shall Not Grow Old“: das Bild wir… | |
Wie entstehen Bilder des Vergangenen? Welche Rolle spielt die Gegenwart für | |
die Inszenierung des Malers oder Fotografen? Wie wird Nähe hergestellt, | |
wieviel Distanz benötigt? Wie gelingt es, eine Balance zwischen dem Prozess | |
der Vorstellung des nicht mehr Existierenden und dem Wissen um seine | |
Flüchtigkeit herzustellen? Diese Fragen verfolgt der Kunsthistoriker Peter | |
Geimer in seinem Buch „Die Farben der Vergangenheit. Wie Geschichte zu | |
Bildern wird“ an unterschiedlichen Beispielen aus der Historienmalerei, aus | |
der Geschichte der Panoramen, an Fotografie und Film. | |
Das dritte Kapitel etwa, „Im Fixierbad der Geschichte“, setzt sich mit | |
frühen Fotografien auseinander. Wir lernen Palästina-Reisende kennen, die | |
mit Kamera und Stativ die Orte des Kreuzwegs der Passion Christi in | |
Jerusalem aufsuchen. Da ist Louis de Clerc, der die Stationen des Kreuzwegs | |
um 1860 als leere Orte zeigt, Dokument einer Gegenwart, die kaum noch | |
Spuren dessen aufweist, was dort der Legende nach geschah und das dennoch | |
über das Abwesende die Aura des „es geschah hier“ vermittelt. Wie de Clerc | |
dafür Licht und Schatten einsetze, architektonische Details wie den Schaft | |
einer zerbrochenen Säule als Zeichen des Vergänglichen nutzte, verfolgt | |
Geimer genau. | |
Da ist Fred Holland Day, der 1898 an ebenjene Orte reiste, aber, inspiriert | |
von den Passionsfestspielen in Oberammergau, ein Reenactment inszenierte | |
und selbst den Christus am Kreuz gab. Ein erbarmungswürdiger Körper, und | |
dennoch lenkt bei ihm der Einsatz der Mimikry von der ursprünglichen | |
Geschichte ab und verwischt die Anstrengung, die Jahrhunderte zwischen dem | |
Erzählten und der Zeit des Erzählers zu überbrücken. | |
Zuletzt ist da noch der Maler James Tissot, der im Versuch der | |
Identifizierung mit dem leidenden Christus noch einen Schritt weiterging | |
und 1886 ein Bild begann, „Was unser Herr vom Kreuz aus sah“, das von oben | |
auf die zum Kreuz hochschauenden Trauernden und Spottenden blickt. Und in | |
dieser Theatralik nicht frei von Komik ist. | |
## Rekonstruktion des Vergangenen als Mission | |
Geimer ist ein guter Erzähler, der mit Vergnügen auch gerade jene Details | |
vor den Augen des Lesers ausbreitet, die das Unternehmen der Künstler, | |
ihrer Bilderzählung Authentizität zu verleihen, fragwürdig erscheinen | |
ließen. Er zitiert mit Genuss und ausführlich ihre Kritiker, aber auch aus | |
den Chroniken ihrer Detailbesessenheit. | |
Es scheint manchmal fast eine Mission, mit der die Künstler (wirklich alles | |
Männer in diesem Buch) nach den Zipfeln des Vergangenen greifen. Man liest | |
gespannt von den Recherchen etwa des Historienmalers Meissonier, der sich | |
Jahrzehnte nach Napoleons Tod dessen Uniform nachschneidern ließ, sich | |
damit selbst auf einem Holzpferd im Hinterhof im Spiegel malte und die | |
Schneelandschaft, in der die Hufe der Pferde und die Stiefel der Generäle | |
Spuren hinterlassen haben, mit Mehl, Ton und Salz modellierte. | |
Und doch wurde er ob seiner Detailversessenheit schon von Zeitgenossen wie | |
Zola als Knöpfezähler, der den Geschmack der Bourgoisie bedient, | |
verspottet. Man erfährt vom großen [1][Rechercheaufwand für die Panoramen], | |
die historischen Schlachten galten. | |
Irgendwann fällt es dann auf, dass fast alle Beispiele Geimers, wenn nicht | |
von der Passionsgeschichte, dann von militärischer Geschichte handeln. Am | |
Ende setzt er sich mit verschiedenen Strategien in Filmprojekten der | |
Gegenwart auseinander, aus filmischem und fotografischem Archivmaterial ein | |
beglaubigtes Bild der Vergangenheit nicht bloß zu dokumentieren, sondern zu | |
reanimieren. | |
## Nachkolorieren schwarzweißer Bilder | |
Dass das Nachkolorieren von schwarzweißen Bildern aus dem Imperial War | |
Museum in London etwa genutzt wurde, um emotional eine größere Nähe zu den | |
im Bild erscheinenden Soldaten aus den Grabenkämpfen des Ersten Weltkriegs | |
herzustellen, wie in Peter Jacksons [2][„They Shall Not Grow Old“], von | |
2018. | |
Geimer begegnet solchen Versuchen der Anverwandlung mit Skepsis, auch weil | |
sie Distanz und Respekt gegenüber denen vermissen lassen, mit deren Bild | |
lange nach ihrem Tod hier gearbeitet wird. | |
Aber auch, weil er bei diesen Projekten vermisst, die Spannung zwischen | |
zwei gegenläufigen Bewegungen offenzuhalten: Die Arbeit an der | |
Rekonstruktion oder Reanimation der Geschichte sollte ihr Vergangensein, | |
dass sie sich dem Zugriff entzieht, nicht überspielen. | |
18 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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