| # taz.de -- Journalistin über Pressefreiheit: „Ich bewundere die KollegInnen… | |
| > Medien in Russland haben es schwer. Tamina Kutscher betreibt die | |
| > Plattform „dekoder“, die den Kampf der unabhängigen Medien auf Deutsch | |
| > protokolliert. | |
| Bild: 27. Februar, Antikriegsdemo in St. Petersburg | |
| taz: Frau Kutscher, mit welchem Gefühl lesen Sie derzeit die [1][Texte der | |
| unabhängigen russischen Medien], die Sie [2][auf Deutsch ins Netz stellen]? | |
| Tamina Kutscher: Wir finden uns auf einmal in einer andere Welt wieder, und | |
| so geht es auch sehr vielen russischen Kollegen. Viele stellen sich jetzt | |
| ganz laut die Frage nach der eigenen Verantwortung. Das merkt man an den | |
| Beiträgen und wenn man direkt mit den Leuten spricht. | |
| Warum stellen sich jetzt ausgerechnet diese Leute die Frage nach der | |
| Schuld? | |
| Die stellen sich nicht nur unabhängige Journalistinnen und Journalisten, | |
| die höre ich gerade unter zahlreichen liberal gesinnten Russinnen und | |
| Russen, die sagen: Ich will diesen Krieg nicht. Und sie fragen sich: Haben | |
| wir etwas versäumt? Haben wir die Menschen nicht erreicht mit dem, was wir | |
| berichten? Habe ich im persönlichen Umgang mit Freunden und Familie nicht | |
| klar genug gemacht, wie gefährlich diese ganze Entwicklung ist? Es ist eine | |
| Mischung aus Schuld und Scham und Schock. | |
| Wie frei können denn die unabhängigen Medien in Russland gerade arbeiten? | |
| Die Medienaufsichtsbehörde hat sich noch einmal an einzelne unabhängige | |
| Medien [3][wie die Nowaja Gaseta] gewandt und darauf hingewiesen, dass eben | |
| nicht von Krieg gesprochen werden darf, sondern nur von einer | |
| Spezialoperation. Inzwischen wurde in die Duma eine Gesetzesinitiative | |
| eingebracht, wonach das Verbreiten von Falschinformation über die | |
| „militärische Spezialoperation“ mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft | |
| werden soll. | |
| Wie hat die Nowaja Gaseta darauf reagiert? | |
| Sie hat eine Umfrage unter den LeserInnen und Lesern gemacht, wie sie sich | |
| denn jetzt verhalten soll und alle meinten: Bitte informiert uns weiter – | |
| die Bezeichnungen sind doch egal. Ein Leser hat vorgeschlagen, sie sollten | |
| das perfektionieren und wenn von „Krieg und Frieden“ von Tolstoi die Rede | |
| ist, sollten sie von „Spezialoperation und Frieden“ reden. Gerade wurde | |
| bekannt, dass der Direktorenrat beschlossen hat, den Radiosender Echo | |
| Moskwy zu schließen. Das ist ein GAU für die Medienfreiheit in Russland. | |
| Der Online-TV-Sender Doshd war am Dienstag in Russland nicht mehr | |
| erreichbar. Der Chefredakteur von Doshd hat erklärt, das Land gemeinsam mit | |
| einzelnen Redakteuren zu verlassen, sie seien in Sorge um ihre persönliche | |
| Sicherheit. | |
| Welche Berichterstattung ist angesichts des Drucks überhaupt möglich? | |
| Die Medien versuchen, diesen Druck transparent zu machen. Alexei | |
| Wenediktow, der Chefredakteur des nun verbotenen Radiosenders Echo Moskwy, | |
| hat in einem Interview sinngemäß gesagt: „Damit das Interview, das ich hier | |
| gerade gebe, auf der Seite bleiben kann, sprechen wir, wie es von uns | |
| verlangt wird, von der Spezialoperation.“ Natürlich stellen sich viele | |
| unabhängige Medien und Journalisten die Sinnfrage, und es wird mir auch | |
| erzählt, dass einige überlegen, das Land zu verlassen. Aber man merkt auch, | |
| dass viele dieser Medien an einem Tag so viele Aufrufe haben wie sonst in | |
| einem Monat. Es gibt zum Beispiel auf der Seite der Nowaja Gaseta eine | |
| Karte, auf der Truppenbewegungen zu sehen sind, die über eine Million Mal | |
| aufgerufen wurde. Man muss aber auch dazu sagen, dass dieser Teppich der | |
| Desinformation durch staatliche Medien sehr schwer wiegt. Da muss man erst | |
| mal herausfinden und dazu müssen erst mal irgendwo Zweifel entstehen. | |
| Sehen Sie die kommen | |
| Ich kann mir vorstellen, dass je länger dieser Krieg geht, desto lauter | |
| auch die Zweifel werden. Weil die Menschen natürlich mehr und mehr | |
| mitbekommen werden, dass die Soldaten ja gar nicht nur im Donbass sind. Und | |
| da ist dann vielleicht die Mutter eines Soldaten, der in Gefangenschaft | |
| oder gefallen ist. Und dann wollen die Menschen auch mehr Informationen | |
| haben. | |
| Gibt es derzeit die Möglichkeit für diese Medien, unabhängig zu | |
| recherchieren? | |
| Derzeit werden immer mehr Seiten blockiert, Facebook und Twitter sind | |
| verlangsamt. Die Nowaja Gaseta hatte 2014 Kriegsreporter vor Ort. Aber | |
| generell existiert in diesen Medien kein Korrespondentennetzwerk wie in den | |
| großen westlichen Medien; sie sind viel kleiner und haben viel weniger | |
| Geld. Die Zahlen und Informationen kommen eher von Quellen wie CNN oder der | |
| ukrainischen Regierung. Aber es ist weniger Live-Berichterstattung von vor | |
| Ort, sondern es geht um russische Hintergründe. | |
| Zum Beispiel? | |
| Die Nowaja Gaseta hat nun zum Beispiel die Mutter eines gefallenen | |
| russischen Soldaten besucht, der nicht gesagt wurde, wo und unter welchen | |
| Umständen ihr Sohn am 24. Februar gefallen ist, und der die Leiche ihres | |
| Sohnes nicht herausgegeben wird „um keine Panik auszulösen“. Viele Texte | |
| beschäftigen sich auch mit dem Gefühl der Scham und Schuld oder der Frage: | |
| „Warum geht kaum jemand gegen den Krieg auf die Straße?“. | |
| Angesichts der Repressionen in Russland ist man fast überrascht, dass diese | |
| Medien überhaupt noch publizieren dürfen. | |
| Wir müssen davon ausgehen, dass die Tage für unabhängige Medien in Russland | |
| im Grunde gezählt sind. Es ist eine Frage der Zeit. Man muss eben dazu | |
| sagen: Diese Medien erreichen keine kritische Masse. Auch wenn sie jetzt | |
| mehr LeserInnen haben, ist das immer noch eine Minderheit. Und von | |
| staatlicher Seite wird alles getan, um sie so marginal wie möglich zu | |
| halten. Für uns als deutsche Plattform für diese Medien ist es jetzt ganz | |
| wichtig, dieses andere Russland zu zeigen und nicht nur das offizielle. | |
| Wie marginal sind diese Stimmen in Russland? | |
| [4][Unser Gründer Martin Krohs] hat das mal mit einer Sahnetorte | |
| verglichen: die ganz große Sahneschicht sind die staatlichen und | |
| staatsnahen Medien, von denen einzelne unglaubliche Reichweiten haben. Der | |
| Erste Kanal, ein staatlicher TV-Sender, erreicht nahezu jeden Haushalt in | |
| Russland. Der dünne Tortenboden, das sind die unabhängigen Medien. Und | |
| dieser Boden wurde in den letzten Jahren stark beschnitten. | |
| Wie funktionierte das? | |
| Es gab immer wieder Gesetze mit Gummiparagrafen, mit denen Medien | |
| reglementiert werden konnten. Vor allem nach den Solidaritätsprotesten für | |
| Alexei Nawalny im letzten Jahr hat man noch mal deutlich repressivere | |
| Maßnahmen gegen unabhängige Akteuren und natürlich auch Medien beobachtet. | |
| Da wurden viele Medien, aber auch einzelne Journalisten und Journalisten | |
| als sogenannte ausländische Agenten gelabelt. Das ist eine Liste, auf die | |
| immer wieder neue Namen gesetzt wurden. | |
| Was hat es für Konsequenzen, wenn man darauf steht? | |
| Es hat eindeutig stigmatisierende Wirkung: Man unterstellt diesem Medium | |
| oder dieser Person zum Schaden Russlands zu berichten und zu handeln. Es | |
| hat aber auch ganz praktische Folgen: Man muss sich als juristische Person | |
| registrieren, man muss regelmäßig Auskunft über seine Einnahmen erteilen. | |
| Alles, was man schreibt, selbst auf Facebook, muss man mit einem Absatz | |
| markieren, dass man als ausländischer Agent registriert ist. | |
| Wie halten sich diese Medien finanziell über Wasser? | |
| Das ausländische Agentengesetz, verbietet Finanzierung aus dem Ausland. | |
| Meduza, das ist eine russische Internetzeitung mit Sitz in Riga, hat darauf | |
| hingewiesen, dass sie, nachdem sie auf der Liste standen, viele | |
| Werbepartner aus Russland verloren hat. Man wird quasi zum Paria; | |
| diejenigen, die bislang mit dir zusammengearbeitet haben, sagen: „Sorry, | |
| wir finden immer noch toll, was ihr macht, aber ihr seid jetzt | |
| ausländischer Agent.“ Sie haben eine Art Ansteckungsangst. | |
| Im Westen gilt es vermutlich als Qualitätszeichen. | |
| Innerhalb der eigenen liberalen, unabhängigen Medienszene wird man auch | |
| nicht dafür geächtet, im Gegenteil, aber auf die breite Masse hat es auf | |
| jeden Fall eine abschreckende Wirkung. Als kritische Journalistin und | |
| kritischer Journalist in Russland braucht man viel Kraft. Ich bewundere die | |
| KollegInnen wirklich, wie sie es machen. | |
| 6 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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