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# taz.de -- Protest gegen Putin in Berlin: Schweigen kann laut sein
> Vor der russischen Botschaft in Berlin zogen am Sonntag demonstrierende
> Menschenmassen vorbei. Da kehrte ein vielsagender Moment der Stille ein.
Bild: Eine Demonstrantin hat ihr Schild korrigiert. Nicht Russland, sondern Put…
Die Vertreter von Regierung und Opposition haben im Bundestag ihre Reden
gehalten. Da klingelt das Telefon. Man treffe sich am Neptunbrunnen vor dem
Roten Rathaus, sagt der Freund. Dort angekommen, tummeln sich am frühen
Sonntagnachmittag schon viele Menschen. Gelb-blaue Fahnen überall,
dazwischen das Weiß-Rot-Weiß der belarussischen Opposition. Auf dem
Alexanderplatz, im Schatten des Berliner Fernsehturms, hat sich auch ein
„antimilitaristischer und klassenkämpferischer“ Block versammelt, in dem
die schwarz-rote Fahne der Anarchisten weht. Einem Mann, der eine
Deutschlandfahne mitgebracht hat, wird dagegen bedeutet, dass die hier und
heute nicht angebracht sei. Er rollt sie wieder ein.
Viele Menschen halten selbstbemalte Schilder in die Luft. Die meisten
richten sich gegen Wladimir Putin, der in einem, in vielfacher Hinsicht
schiefen, historischen Vergleich hin und wieder als „Putler“ bezeichnet
wird. Einig sind sich aber alle darin: Putin soll die Aggression gegen die
Ukraine beenden. Bald stellt sich das Gefühl ein, halb Berlin sei an diesem
Sonntagmittag auf den Beinen.
Manche Protestierende bringen ihre Botschaft trotz der traurigen Lage mit
Humor vor. „Putin, sashay away!“, heißt es auf einem Pappschild. „To
sashay“ bedeutet sich geziert bewegen. In der Fernsehshow „Ru Paul's Drag
Race“ treten Drag Queens gegeneinander an. Wer in der nächsten Runde nicht
mitmachen darf, wird von Ru Paul mit den Worten „Sashay away!“ nach Hause
geschickt. Martialischer, für unsere Ohren befremdlich klingen die lauten
Sprechchöre der Ukrainer: „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“ Aber ist es
abwegig, Frauen und Männer, die mit Molotowcocktails gegen Panzer kämpfen,
als Helden zu bezeichnen?
Nach einiger Zeit wendet sich eine Frau übers Megaphon an die
Demonstranten. Wir seien zuviele, wir müssten hier bleiben, wir könnten uns
nicht in Bewegung setzen, sagt sie. Das ist für die meisten das Signal,
ebendas zu tun: Langsam ziehen die Menschen, mindestens einige Tausend,
wenn nicht deutlich mehr, vom Alexanderplatz gen Brandenburger Tor.
Zur selben Zeit findet an der Siegessäule, die an die Einigungskriege der
Preußen erinnert, [1][die große Kundgebung statt, deren Bilder um die Welt
gehen werden]. Vor einem Vierteljahrhundert demonstrierten hier
Hunderttausende bei der Love Parade unter dem halb ironisch, halb ernst
gemeinten Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“.
Es war die optimistische Zeit nach dem Mauerfall, die Zeit der
Demokratiebewegungen in Osteuropa. Sie brachten vielen die Freiheit, aber
auch den damals so genannten Turbokapitalismus. Sie brachten sehr wenigen
Menschen immensen Reichtum, einer schmalen, wenn auch wachsenden
Mittelklasse bescheidenen Wohlstand, vielen aber Armut und Unsicherheit.
Die Balkankriege brachen aus. Und langsam kehrte in vielen Ländern
Osteuropas der Autoritarismus zurück. Neue Regime konsolidierten sich, in
denen [2][Geheimdienstoffiziere] mit den schon zu Sowjetzeiten entstandenen
mafiösen Strukturen und den neuen Oligarchen paktierten.
Putin hat diese Bewegung an der Spitze des Staats nachvollzogen. Als er am
letzten Tag des Jahres 1999 von Boris Jelzin die Amtsgeschäfte übernahm,
versprach er noch, die Demokratie zu verteidigen und die bürgerlichen
Freiheitsrechte zu wahren.
Die Sonne strahlt. Der Zug bewegt sich über den Boulevard Unter den Linden.
Die Staatsbibliothek hat die ukrainische Flagge gehisst. Nirgends ist
Polizei zu sehen, doch der Demonstrationszug ist diszipliniert. Er zeigt,
dass Menschen sich auch ohne Autoritäten oder gar „große Führer“ geordnet
zu gemeinsamem Handeln zusammenfinden können. An der Kreuzung
Friedrichstraße stehen nun doch einige Polizeiautos und blockieren den Weg,
der an der Russischen Botschaft vorbei führt. Der Lindwurm der
Demonstrierenden biegt rechts ab, dann links und wieder links. So kehrt er
kurz vor der russischen Botschaft wieder auf den Boulevard zurück.
Und dann, direkt vor der Botschaft der Russischen Föderation, wird es
plötzlich still.
Auf der linken Fahrbahn gehen Demonstranten von der Siegessäule kommend
Richtung Osten. Auf unserer, der rechten Fahrbahn bewegen sich
Demonstranten weiter Richtung Brandenburger Tor nach Westen. Dazwischen
jeweils kleine Gruppen von Touristen. Auf dem Mittelstreifen Menschen, die
vor der Botschaft Präsenz zeigen. Zusammen sind es Tausende, aber es ist
still. Das ist wohl nur eine Momentaufnahme, aber sie macht nachdenklich.
Schweigen kann laut sein. Wer sein Nichteinverstandensein schweigend
ausdrückt, nimmt dem Angesprochenen jeden Vorwand, den Protestierenden als
hysterisch oder gewalttätig hinzustellen. Schweigen kann hart sein. Wer
schweigt, verweigert dem anderen eine Erklärung. Hier gibt es ja auch
nichts zu erklären. Die Wahrheit ist für alle sichtbar. Man kann sich über
die Ursachen streiten, aber nicht darüber, wer in diesem Konflikt der
Aggressor ist.
Die Stille vor der Botschaft, die durch vereinzelte laute Rufe noch
deutlicher zu vernehmen ist, erscheint aber auch als Ausdruck von Trauer
und Respekt. In diesen Tagen sterben Ukrainerinnen und Ukrainer, Kinder und
Alte, Frauen und Männer. Es sterben aber auch junge russische Soldaten, die
zum Teil gar nicht zu wissen scheinen, dass sie von Putin in einen
Angriffskrieg geschickt worden sind. Angesichts des Schreckens, dass das
möglich ist, mag lautes Geschrei deutscher Demonstranten an diesem Ort, an
diesem Tag den Leuten unangebracht erscheinen.
Hin und wieder sind auf der Straße Russinnen und Russen zu sehen, die zum
Ausdruck bringen, dass auch sie gegen diesen Krieg sind. Sie werden
freundlich aufgenommen, zum Teil mit Beifall bedacht. Diese Demonstration
richtet sich nicht gegen die Russinnen und Russen, sondern gegen Putin und
seinen Krieg. Sie drückt – ohne dass es gesagt würde – auch Solidarität …
den Russinnen und Russen aus, die in St. Petersburg oder Nowosibirsk
protestieren, und jenen ihrer Landsleute, die sich wegen der Repressionen
des Staatsapparats nicht trauen, auf die Straße zu gehen.
## Kein Land litt mehr unter dem deutschen Terror
Das Schweigen vieler vor der Botschaft der Russischen Föderation hat auch
eine historische Dimension. Seit 1837 befand sich hier die
Kaiserlich-Russische Gesandtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand das
symmetrische Gebäude, das den Hauptsitz der diplomatischen Vertretung der
Sowjetunion in der DDR beherbergte.
Als Folge des von deutschen Militärs und vielen deutschen Bürgern bis zum
Schluss mitgetragenen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion starben dort
ungefähr 26 Millionen Menschen. Kein Land litt mehr unter dem deutschen
Terror. Russland verlor 13 Prozent, die Ukraine 16 Prozent ihrer
Bevölkerung.
Es war die Rote Armee, die 1945 Berlin befreite. Als auf dem Reichstag die
rote Fahne gehisst wurde, war der Große Vaterländische Krieg, wie er in der
Sowjetunion genannt wurde, für alle sichtbar gewonnen. Die Terrorherrschaft
der Nationalsozialisten war zu Ende.
Es steht uns gut an, das nicht zu vergessen. Auch wenn lautstark gegen
Putins Krieg protestiert wird, muss diese Stille ihren Platz haben. Also
gehen wir ruhig weiter zum Brandenburger Tor. Dort steht ein Mann mit einem
Schild, auf dem zu lesen ist: „Put in jail.“
1 Mar 2022
## LINKS
[1] /Grossdemonstration-in-Berlin/!5835038
[2] /Russland-und-seine-Nachbarn/!5835229
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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