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# taz.de -- Behäbige Demokratie in der Klimakrise: Wir hatten die besten Jahre
> Wenn das Szenario von „Don’t Look Up“ nicht Realität werden soll, brau…
> es radikale Veränderungen. Doch Politiker fürchten, abgewählt zu werden.
Bild: „Dass etwas getan werden muss und zwar sofort das wissen wir schon“ �…
„[1][Don’t Look Up]“ – natürlich hatten alle am Tisch den Film mit dem
Meteoriten gesehen, der zielgenau auf die Erde zurast, diese Satire, die
punktgenau den Zustand von Welt und Politik und Medien und Mentalitäten
abbildet: die einflussarme Wissenschaft, die machtvergessenen Amtsträger,
die Schredderung des Schreckens im Spaßfernsehen, die technokratischen
Heroes of the Universe aus dem Silicon Valley.
„Wir hatten die besten Jahre“ – ich glaube, das war der letzte Satz, beim
letzten Mahl, das Leonardo DiCaprio mit seiner Familie feiert, während die
Wände schon beben. Und natürlich waren auch alle am Tisch erschrocken
darüber, dass ihnen das Lachen nicht im Hals stecken geblieben war: Wo sind
wir gelandet, wenn Apokalypsen nicht mehr schaudern machen?
Im weiteren Verlauf des Abends ging es dann um Folgefragen wie diejenige,
warum die Eliten offiziell immer noch von 1,5 Grad reden, obwohl sie wissen
oder doch wissen könnten, dass es längst eine Illusion ist? Oder warum
Volkswirte nicht längst schon lernen, mithilfe von avancierten Algorithmen
Szenarien zu entwickeln, die präziser wären als das kulturwissenschaftliche
Murmeln von Postwachstum?
Oder: Warum gibt es noch kein Max-Planck-Institut für Transformation,
dessen Bulletins nicht so leicht abgetan werden könnten wie die
Klebeaktionen von verzweifelten 17-Jährigen auf Ruhrschnellwegen oder die
Feuilletons über das Glück-des-Weniger, das Resonanzdefizit der
Gesellschaft oder die Soziologie des Verlusts? So ging der Abend dahin, bei
Rehgulasch und Rotkohl und Rotwein, Gesprächen über die Kinder, die trotz
alledem auf einem guten Weg sind, die Planung von Radtouren auf den gut
asphaltierten Nebenstraßen in Frankreich, und irgendwann auch alten
Gedichten:
Dass etwas getan werden muss und zwar sofort
das wissen wir schon
dass es aber noch zu früh ist um etwas zu tun
dass es aber zu spät ist um noch etwas zu tun
das wissen wir schon
und dass es uns gut geht
und dass es so weiter geht
und dass es keinen Zweck hat
das wissen wir schon
und dass wir schuld sind
und dass wir nichts dafür können dass wir schuld sind
und dass wir daran schuld sind dass wir nichts dafür können
und dass es uns reicht
das wissen wir schon …
Das „Lied von denen, auf die alles zutrifft und die alles schon wissen“
endet 33 Zeilen später mit den Versen „und dass wir das schon wissen / das
wissen wir schon“. Hans Magnus Enzensberger hat es geschrieben, allerdings
schon 1967. Zehn Jahre danach forderte Jimmy Carter seine Landsleute in
landesväterlicher Freundlichkeit auf, weniger Strom zu verbrauchen, die
Häuser besser zu isolieren und nicht länger mit den großen Schlitten zu
fahren.
Er besteuerte die Ölkonzerne, gab die Umweltstudie „Global 2000“ in
Auftrag, in der zum ersten Mal von einer Klimaveränderung die Rede war. Auf
dem Dach des Weißen Hauses ließ er Sonnenkollektoren installieren. Vier
Jahre darauf demontierte Ronald Reagan die Anlage, strich das
Energiesparprogramm, entließ Hunderte von Forschern, die Windparks
verrotteten.
Unsere Generation und die unserer Kinder und Enkel – so schrieb es vor 33
Jahren der Zoologe Hubert Markl – werden zu tätigen Zeugen einer gewaltigen
Umwälzung des Lebens auf unserer Erde. „Vor unseren Augen, unter unseren
Händen geht eine erdgeschichtliche Epoche zu Ende, die viele Jahrmillionen
Bestand hatte. Nur blinder Stumpfsinn könnte sich dieser Tragik
verschließen. Was bevorsteht, ist ebenso klar erkennbar wie bitter.“ Natur
sei nun zur Kulturaufgabe geworden.
Zwanzig weitere Jahre dauerte es dann, bis sich die wissenschaftlichen
Erkenntnisse gegen die milliardenschweren Leugnungskampagnen durchgesetzt
hatten, und noch einmal ein Jahrzehnt bis zum [2][Pariser Abkommens im Jahr
2015]. Dann kamen ein paar heiße Sommer, Greta Thunberg sprach vor der UNO,
und in einem Wandelgang machte ihr die Kanzlerin klar, dass es sehr wichtig
sei, aber dass sie auch die Menschen in ihrem Wahlkreis mitnehmem müsse.
Und Friedrich Merz befand: das Mädchen sei krank.
Wir sind ein paar Jahre weiter. An die Stelle der Denunziation ist die
sozialpopulistische Rückhand getreten: Wirksame Veränderungen träfen die
Armen, allein durch Wachstum lasse sich die Transformation finanzieren, nur
moralisierende Großstadteliten mit [3][Lastenrädern] könnten so was
leisten.
Zur marktkonformen Demokratie gesellt sich so die wachstumskonforme
Klimapolitik. Deren Inkonsequenz führt zur Resignation, oder zur
[4][Radikalisierung]. Helmut Schmidt hat die lakonische Antwort auf die
Frage gegeben, warum trotz schlagender Erkenntnisse zu wenig passiere:
„Regierungen, die eine wesentliche Verringerung des Lebensstandards in Kauf
nehmen, würden abgewählt. Deswegen tun sie es nicht. Hier liegt einer der
eingeborenen Fehler der Demokratie.“
In seinem Buch „Freiheitsgrade“ schrieb der Staatsrechtler Christoph
Möllers, das System der repräsentativen Demokratie funktioniere nur mit
Politikern, die über die Freiheit verfügen, „der Gemeinschaft, die sie
repräsentieren, entgegenzutreten, um ihr zu widersprechen, sie zu belehren,
sie ‚normativ zu fordern‘“. Die ihren Wählern die Wahrheit zumuten.
Und was folgt daraus für die Wähler? Möllers: „Wer Demokratie und Freiheit
für Lebensformen hält, wird sie nicht an das System delegieren und sich
über dieses beklagen dürfen. […] Und das bedeutet vor allem anderen, in
politische Parteien einzutreten und einen relevanten Teil seiner Zeit in
diesen zu verbringen.“ Oder sich anderen Aktionsformen zuzuwenden, die den
Erkenntnissen gerecht werden. Kohärenz ist Bürgerpflicht. Aber das wissen
wir schon.
24 Feb 2022
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## AUTOREN
Mathias Greffrath
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