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# taz.de -- Unterwegs in Kiew: Tag für Tag Ungewissheit
> In der ukrainischen Hauptstadt macht das stete russische Kriegsgetöse die
> Menschen mürbe. Bislang blieben die Angriffe aus – doch wie lange noch?
Bild: Bangen, hoffen, Nachrichten checken: U-Bahn-Szene in Kiew, 15. Februar 20…
Kiew taz | Es bröselt und bröckelt an der Wand in der Wohnung unweit des
Sewastopol-Platzes in Kiew. Die Wand muss dringend saniert werden, mit dem
Vermieter gibt es deshalb seit Wochen Stress. Immer wieder findet dieser
dem Mieter gegenüber andere Gründe, die Reparatur aufzuschieben.
Mal ist der kalte Winter schuld, dann wieder „macht es kurz vor Neujahr
auch keinen Sinn“. Wenig später ist es dann der Frühling, auf den man
warten müsse, dann seien die Arbeitsbedingungen besser. Immer scheint der
falsche Zeitpunkt für Reparaturen zu sein.
Die ganze Ukraine verharrt derzeit in einem Wartezustand. Westliche
Politiker, Geheimdienste und Medien [1][hatten für Mittwoch dieser Woche
einen russischen Überfall prognostiziert]. Der blieb aus. Doch kann man
deshalb wieder zur Tagesordnung übergehen? Mitnichten. Die wenigsten
Ukrainer haben geglaubt, dass Russland exakt am 16. Februar einmarschieren
würde, als ließen sich Kriege mit genauem Datum Wochen vorher planen.
Aber prinzipiell schließt hier kaum einer einen Angriff aus. Der 16.
Februar ist verstrichen, doch Entwarnung bedeutet das für die Menschen
sicher nicht. Wer Geld hat, Verwandte im Ausland oder beides, setzt sich
ins Flugzeug und fliegt erst mal weg.
Die [2][ständigen Ankündigungen] eines Luftangriffs und einer
anschließenden Intervention haben bei den Menschen Spuren hinterlassen, sie
ein weiteres Mal traumatisiert. Es bedurfte eines im Fernsehen übertragenen
öffentlichen Appells von Präsident Wolodimir Selenski, um ukrainische
Oligarchen, die sich auf und davon machen wollten, von ihrem Vorhaben
abzuhalten.
## In Babyn Jar
Andere wollen bleiben, hoffen auf eine Wende im Konflikt. Dariia Hirna und
Wlad Krylewski, beide 27, hätten genug Kontakte und Möglichkeiten, um sich
für ein paar Monate ins Ausland zurückzuziehen. Sie ist Journalistin und
stammt aus dem westukrainischen Lwiw, er aus dem ostukrainischen Gorliwka.
Gorliwka wird derzeit von den von Russland unterstützten Separatisten
kontrolliert.
Kurz nach dem Beginn der Kämpfe 2014 ist Krylewski mit seiner Familie von
dort geflohen. Krylewski arbeitet in der Medienbranche, produziert Videos.
Das Paar will bleiben. Sie wollen heiraten, eine Familie gründen. „Wir
können doch nicht einfach unsere Freunde und Familie im Stich lassen“, sagt
Hirna. Sollte Kiew wirklich brennen, werde man vielleicht nach Lwiw zu
Verwandten gehen.
Nachdenklich spazieren die beiden [3][durch den Gedächtnispark Babyn Jar].
Hier sind am 29. und 30. September 1941 über 33.000 jüdische Frauen, Männer
und Kinder erschossen worden. Hirna und Krylewski bleiben einen Augenblick
stehen. „Wenn man heute die Rhetorik einiger deutscher Regierungsbeamter
hört, entsteht der Eindruck, als sei nur Russland Opfer des
Hitlerfaschismus gewesen“, sagt Dariia Hirna. Es ist der 16. Februar, der
Tag, für den der Einmarsch vorhergesagt worden war.
„Dieses Gefühl, Russland könnte uns angreifen, haben wir schon seit
mehreren Jahren. Und seit Dezember vergangenen Jahres denken wir praktisch
jeden Tag daran“, sagt Krylewski. „Viele von uns schaffen es, die
Kriegsgefahr zu verdrängen. Tagsüber informiert man sich über den
Zivilschutz, abends geht man in die Bars und vergisst alles, was mit Krieg
zu tun hat“, sagt er.
Seine Freundin fügt hinzu: „Die ständige Ankündigung eines Krieges gegen
uns hat mich mürbe gemacht. Ich bin so ausgebrannt, ich kann nicht einmal
mehr richtig Angst haben. Ich kann mich auch nicht darüber freuen, dass
heute alles ruhig war.“
## Enttäuscht von Deutschland
Solange Russland bei seiner Tagesordnung bleibe, so lange werde auch der
psychologische Druck weiter auf den Menschen lasten. Eigentlich glaubt
Dariia Hirna nicht, dass Russland die Ukraine angreifen werde.
Die ukrainische Armee sei heute viel schlagkräftiger als 2014 und die
überwiegende Mehrheit der Gesellschaft unterstütze den Kurs Richtung Nato
und Mitgliedschaft in der Europäischen Union. „Russland kann zwar
angreifen, aber wenn die Bevölkerung mit den Besatzern nicht
zusammenarbeitet“, so Hirna, „kann sich der Besatzer nicht lange halten“.
Gleichwohl ist sie sich nicht ganz sicher. „Auch 2014 dachte ich, dass es
keine bewaffneten Kämpfe geben würde.“
Von Deutschland sind beide enttäuscht. „Sicher, Deutschland ist der Ukraine
nichts schuldig. Aber als eine führende Nation der EU ist Deutschland nicht
nur inaktiv, sondern verhindert sogar Waffenlieferungen aus anderen Ländern
an die Ukraine“, sagt Hirna. Und Krylewski findet es „merkwürdig“, dass
Deutschland, das eine grüne Energiepolitik angekündigt hat, an einer
Gaspipeline mit Russland festhalte, das eine „aggressive Besatzungspolitik
gegenüber der Ukraine“ betreibe.
Das sei eine Politik doppelter Standards. Gerade nach den Erfahrungen des
Zweiten Weltkrieges, sagt Hirna, müsse Deutschland entschlossener und
härter auftreten, um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden.
## Show must go on
Der Tag, an dem wir durch den Gedächtnispark gehen, ist kurzfristig zum
Feiertag geworden. Denn Wolodimir Selenski, vor seiner Präsidentschaft im
Showgeschäft aktiv, weiß, wie Inszenierung geht – er bestimmte den Tag, an
dem eigentlich die Ukraine hätte angegriffen werden sollen, kurzerhand zum
„Tag der Einheit“.
In allen Städten wird die ukrainische Nationalflagge gehisst, im Parlament
stehen an diesem Tag die Abgeordneten einige Minuten mit der Flagge in der
Hand. In den Schulen singen Kinder die Nationalhymne, in der Hafenstadt
Mariupol, die Selenski an diesem Tag besucht, wird am höchsten Gebäude der
Stadt die alte zerrissene Nationalflagge durch eine neue ersetzt.
Nicht überall stößt diese Art von Feiern und Show auf Gegenliebe. [4][In
einem Beitrag für das Portal gordonua.com] macht sich der Redakteur der
„Europäischen Prawda“, Serhij Sydorenko, über die Idee lustig, den
möglichen Tag eines russischen Angriffs zum Feiertag zu erklären. Ihm
erscheint dieser neue Feiertag sehr künstlich und aufgesetzt. „Patriotismus
um zehn Uhr morgens, von oben angeordnet, das kann nicht klappen“ so
Sydorenko.
All die, die trotz des ausgebliebenen russischen Angriffs nicht erleichtert
aufatmen, scheinen leider recht zu bekommen. Die Nachrichtenlage spricht
nicht für eine Entspannung. Verteidigungsminister Olexi Resnikow und
Präsident Selenski erklärten, sie können nicht erkennen, dass sich die
russischen Truppen von der Grenznähe zurückziehen würden.
Gleichzeitig eskalieren die Kämpfe wieder an der „Kontaktlinie“ im Donbass.
[5][So berichtet das russische Portal gazeta.ru] unter Berufung auf Quellen
in den „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk, die ukrainische Seite
haben am frühen Donnerstag zivile Ziele in den von den „Volksrepubliken“
kontrollierten Ortschaften Kominternowo, Oktjabr, Nowolaspa, Solotoe-5,
Nischnee Losowoje und Sokolniki beschossen.
## Der Plan mit Donezk und Lugansk
Ukrainische Einheiten würden aus Granatwerfern und Mörsern zivile Ziele
beschießen. Dagegen berichtet das ukrainische Portal nv.ua, am
Donnerstagmorgen hätten die „russischen Besatzungskräfte“ die von Kiew
kontrollierte Ortschaft Staniza Lugansk beschossen und dabei auch einen
Kindergarten getroffen. Zwei Lehrkräfte seien leicht verletzt worden.
Am Freitag trat Verteidigungsminister Olexi Resnikow [6][Gerüchten
entgegen], die Ukraine würde versuchen, die von den Separatisten
kontrollierten Gebiete mit Gewalt zurückzuerobern. Sorgen machen der
Ukraine Gebietsansprüche der „Volksrepubliken“ auf weitere Teile des
Donbass. Denn die Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk sind größer als die
Gebiete, die die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk kontrollieren.
Doch der Plan ist, die beiden Verwaltungsgebiete komplett an sich zu
reißen. 2019 verabschiedeten beide „Republiken“ Gesetze, in denen sie ihren
Anspruch auf die gesamten Verwaltungsgebiete beanspruchen. Dies bedeutet,
dass zum Beispiel die Industriestadt Mariupol nach Lesart der Separatisten
ebenfalls zur „Volksrepublik Donezk“ gehören müsse.
Und mit ihrer Bestimmung der „Unverletzlichkeit der Grenzen“ in diesen
Gesetzen machen sie deutlich, dass sie notfalls auch bereit sind, jene
Grenzen mit militärischer Gewalt festzusetzen.
Im Lauf des Freitags spitzte sich die Lage fast minütlich zu. [7][Moskau
kündigte zunächst eine Militärübung für Samstag an], Russland zog immer
weiter Soldaten zusammen. Von nun schon bis zu 190.000 russischen
Militärangehörigen an den Grenzen sprach der US-Botschafter bei der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Michael
Carpenter. Für die Ostukraine bewertet die OSZE die Kämpfe als die
schwersten seit 2015.
Der Wartezustand geht weiter, auch in der Wohnung am Sewastopol-Platz. Die
Sache mit dem bröckelnden Putz will der eingangs erwähnte Vermieter erst
mal nicht angehen. „Wozu soll man jetzt diese Stellen nachbessern? Wenn
Putin in zwei Wochen kommt, dann ist vielleicht die ganze Wand weg“, sagt
er, ehe er die Miete einstreicht und von dannen zieht.
18 Feb 2022
## LINKS
[1] /Konflikt-zwischen-Russland-und-Ukraine/!5831196
[2] /Russische-Truppen-an-Grenze-zur-Ukraine/!5836078
[3] /Gedenken-an-die-Toten-von-Babyn-Jar/!5803898
[4] https://gordonua.com/blogs/sergey-sidorenko/chtoby-pridumat-takoy-den-edine…
[5] https://www.gazeta.ru/politics/2022/02/17/14545057.shtml
[6] https://detector.media/infospace/article/196627/2022-02-18-reznikov-zaklyka…
[7] /Nachrichten-in-der-Ukraine-Krise/!5836254
## AUTOREN
Bernhard Clasen
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