| # taz.de -- Evakuierung aus Afghanistan: Platz schaffen auf rettenden Listen | |
| > In Afghanistan befinden sich noch immer viele Künstler*innen in | |
| > Lebensgefahr. Ein Netzwerk setzt sich für ihre Evakuierung ein. | |
| Bild: Archivbild von 2008. Rahraw Omarzad, der Direktor des Zentrums für Zeitg… | |
| Die [1][Chance zur Flucht] währte nur wenige Tage: Im August letzten | |
| Jahres, während der Evakuierungsoperation des Westens aus Afghanistan, | |
| machte die Bundesregierung ein Kontingent auf. Auf die sogenannte | |
| Menschenrechtsliste setzte sie Afghan*innen, die von den Taliban besonders | |
| bedroht, aber nicht als Ortskräfte unmittelbar bei deutschen Organisationen | |
| beschäftigt waren. 2.600 Personen bekamen so eine Aufnahmezusage für die | |
| Bundesrepublik – bis die Meldefrist am 31. August überraschend endete. | |
| Den Behörden gemeldet waren bis zu diesem Zeitpunkt auch 102 von 394 Namen | |
| einer Künstler*innen-Liste – erstellt durch ein Kollektiv um den Kabuler | |
| Kunstprofessor Rahraw Omarzad, den Begründer des Center for Contemporary | |
| Art Afghanistan. Die übrige Liste wurde am 1. September eingereicht, | |
| vergebens. Seitdem sucht das Team aus Künstler*innen und ihren | |
| Unterstützer*innen nach einer Lösung | |
| Seit einer Weile machen sie sich wieder Hoffnung: Da einige der | |
| Künstler*innen mit deutscher Aufnahmezusage von anderen Ländern | |
| aufgenommen wurden, entstand die Idee, dass ebendiese Künstler*innen auf | |
| ihren [2][Platz in Deutschland] verzichten könnten. Eine schriftliche | |
| Erklärung gegenüber dem Auswärtigen Amt und dem Bundesinnenministerium soll | |
| dafür sorgen, dass erneut Listenplätze frei werden und Gefährdete | |
| nachrücken können. Die Erfolgsaussichten sind allerdings unklar. | |
| ## „Ihr Leben ist in Gefahr“ | |
| Ahmad Imami ist Produzent, Regisseur und Kameramann. Der 29-Jährige | |
| studierte Film an der Universität Kabul, fing selbst an, als Schauspieler | |
| vor der Kamera zu stehen – teilweise in internationalen Produktionen wie | |
| dem deutschen Filmdrama „Zwischen Welten“. Später war er unter anderem | |
| Produktionsleiter des Herat International Women Film Festival. „In den | |
| Tagen, als die Taliban nach Kabul kamen, bat ich jeden, den ich kannte, um | |
| Evakuierung“, sagt er. Er fühlte sich, als sei die Zeit angehalten worden. | |
| „Fünf Tage lang konnte ich nicht nach draußen gehen: Ich bin ein bekannter | |
| Schauspieler. In Afghanistan erkennt mich jeder.“ | |
| Glücklicherweise sei er angerufen worden: „Ich wartete auf eine Evakuierung | |
| durch irgendwen. Frankreich war dann am schnellsten.“ Er wisse, dass | |
| Künstler*innen, die sich jetzt noch in Afghanistan aufhielten, sich mit | |
| Vorräten eingedeckt hätten und nicht nach draußen gingen: „Ihr Leben ist in | |
| Gefahr.“ Daher sei es für ihn selbstverständlich gewesen, als er von | |
| Frankreich eine Schutzzusage erhalten habe, seinen Platz in Deutschland für | |
| jemand anderen aufzugeben,. | |
| Yama Rahimi gehört zu denen, die an der Umsetzung des Plans arbeiten. Er | |
| selbst stammt aus Afghanistan und lebt seit sechs Jahren in Deutschland. | |
| Aktuell studiert er Kunst an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Seit | |
| dem 15. August hat er die Hochschule nicht mehr von innen gesehen, nicht | |
| etwa wegen der Coronapandemie, sondern weil er Evakuierungen betreut. „Ich | |
| glaube, ich arbeite sogar im Schlaf weiter. Ich träume davon“, schildert | |
| er. | |
| Tausende Nachrichten erreichten ihn täglich, er beantworte jede davon: „Ich | |
| weiß, wie die Menschen sich fühlen. Daher möchte ich für sie da sein, auch | |
| wenn sie manchmal mehrfach dieselbe Frage stellen, weil sie so unter Stress | |
| stehen.“ Erst vor sechs Jahren ist Rahimi selbst aus Afghanistan nach | |
| Deutschland gekommen. Die Menschen, deren Evakuierung er jetzt begleitet | |
| und denen er beratend zur Seite steht, kennt er alle persönlich. „Die | |
| ersten 102 Namen, die wir auf die Liste gesetzt haben, das waren alles | |
| Leute, die ich von meiner Mitarbeit am Center for Contemporary Art in Kabul | |
| kannte.“ Schnell seien es mehr geworden und dennoch sei kein Name darunter, | |
| hinter dem er nicht das Gesicht kenne. | |
| ## Die Bundesregierung reagiert zurückhaltend | |
| Die meisten von ihnen seien inzwischen in Sicherheit oder hätten zumindest | |
| eine Aufnahmezusage von Deutschland erhalten. Dafür ist er dankbar. Dennoch | |
| wünscht sich der Kunststudent, dass noch mehr Menschen in Sicherheit | |
| gebracht würden: „Es gibt mehr Menschen, die noch dort sind und sich in | |
| großer Gefahr befinden, gerade auch weitere Künstler.“ Eine Gruppe | |
| Kunststudent*innen habe durch ein neu geschaffenes Kontingent von | |
| Studienplätzen an seiner Hochschule evakuiert werden können. Doch das sei | |
| noch lange nicht genug. | |
| Wie geht es jetzt weiter? Die Bundesregierung reagiert zurückhaltend. Aus | |
| dem Auswärtigen Amt heißt es, die Verzichtserklärungen seien eingegangen | |
| und durch das Bundesinnenministerium geprüft worden: „Mit der | |
| Verzichtserklärung ist die jeweilige Aufnahmezusage nach Paragraf 22 | |
| AufenthG erloschen und nicht mehr gültig. Die gewünschte konkrete | |
| Nachbesetzung ist jedoch nicht möglich, da nur Schutzersuchen | |
| berücksichtigt werden konnten, die der Bundesregierung bis 31.08.21 bekannt | |
| wurden.“ Außerdem sei das Auswärtige Amt mit dem Innenministerium und | |
| anderen Akteuren im Gespräch zu dem von der Ampelkoalition geplanten | |
| Aufnahmeprogramm. | |
| Der Berliner Rechtsanwalt Michael Mai war Rechtsreferendar an der Akademie | |
| der Künste und ist nun an den Evakuierungsbemühungen beteiligt. Er hat auch | |
| die Verzichtserklärung entworfen. Die Antwort aus dem Außenministerium | |
| macht ihm zumindest etwas Hoffnung – für die wenigen unter den 102 | |
| Künstler*innen, die der Regierung am 31. August schon gemeldet worden | |
| waren. | |
| Aber auch für alle anderen fordert Mai eine Lösung. „Es wäre wünschenswer… | |
| dass auf das Festhalten am Stichtag verzichtet wird und vielmehr anhand der | |
| aktuellen Gefährdungslage entschieden, wer hier nachrücken darf“, sagt der | |
| Anwalt. „Dabei sollte auch mit einbezogen werden, welche Verschärfung der | |
| Gefährdungslage sich für Familienmitglieder – also der erweiterten | |
| Kernfamilie – derer ergibt, die bereits evakuiert wurden und sich hier in | |
| Deutschland – endlich – frei und öffentlich äußern können.“ | |
| Infos zur Verzichtserklärung gibt es bei der Organisation [3][Artists at | |
| Risk]. Zuständig sind Marita Muukkonen ([email protected]) und | |
| Ivor Strodolsky ([email protected]). | |
| 4 Feb 2022 | |
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| [2] /Afghanistan-Konferenz-in-Oslo/!5830064 | |
| [3] https://artistsatrisk.org/?lang=en | |
| ## AUTOREN | |
| Lena Reiner | |
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