# taz.de -- Vertrieben aus Afghanistan: Flucht über den Khyberpass | |
> Bilal Khan hat früher Touristen durch Pakistan kutschiert. Jetzt holt er | |
> mit Vanessa Juercke von der „Kabul Luftbrücke“ Menschen an der Grenze ab. | |
Bild: Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan | |
Manchmal vergisst Bilal Khan kurz, dass er auf einer besonderen Mission | |
unterwegs ist. „Das hier ist der berühmte Khyberpass“, sagt der Pakistaner | |
und lächelt. Khan, 57, sitzt in einem zehn Jahre alten weißen | |
Toyota-Reisebus und blickt aus dem Fenster. Er zeigt auf Hütten aus | |
Ziegelstein, versteckt zwischen den roten Gipfeln des pakistanischen | |
Safed-Koh-Gebirges. | |
Khan erzählt von Heroinschmugglern, die dort Drogen gegen Waffen tauschen. | |
Eigentlich betreibt er ein Reiseunternehmen – und führt Backpacker durch | |
den Basar in Rawalpindi oder picknickt mit ihnen am Khanpur-See. Dieses Mal | |
ruckelt der Reisebus aber in Richtung Afghanistan. | |
Seit die Taliban in Afghanistan an der Macht sind, kommen Khans Aufträge | |
hauptsächlich von westlichen Hilfsorganisationen: Seit letztem Sommer | |
kümmert er sich nicht mehr um Touristen, sondern um Afghanen, die sich vor | |
der regierenden Terrorgruppe nach Pakistan retten. Diesmal ist er im | |
Auftrag der deutschen Zivilorganisation „Kabul Luftbrücke“ unterwegs. | |
Mit dabei ist Vanessa Juercke, 29, eine Berliner Aktivistin. Sie vertritt | |
die Organisation in Pakistan. Die „[1][Kabul Luftbrücke]“ hat in den | |
letzten Monaten mehr als 1.400 Menschen aus Afghanistan evakuiert. Die | |
meisten sind über Torkham nach Pakistan geflohen: ein Dorf an der Grenze zu | |
Afghanistan. Auch heute fahren Khan und Juercke nach Torkham, um eine | |
Gruppe Afghanen am Grenzübergang abzuholen. | |
## Umgekippte Laster an der Straße Richtung Grenze | |
Nur etwas mehr als 50 Kilometer liegen zwischen der pakistanischen | |
Millionenstadt Peschawar und Torkham. Trotzdem braucht der Bus gut | |
anderthalb Stunden, um die Strecke zurückzulegen. Der fast 1.100 Meter hoch | |
gelegene Weg hat scharfe Kurven, an manchen Stellen blockieren umgekippte | |
Laster die Straße. | |
Morgens ist es frisch im Westen Pakistans. Khan trägt eine braune | |
Fleecejacke über seiner grauen Kurta, auf dem Kopf sitzt ein Pakol, eine | |
traditionell pakistanische Wollmütze. „Diese Strecke fahre ich mittlerweile | |
zweimal die Woche“, sagt er. Khan hat ein Frühstück dabei, verpackt in | |
Styroporboxen. Er und Juercke tunken Chapati, ein pakistanisches Brot, in | |
Kichererbsen-Curry. „Hättest du dir vor ein paar Tagen in Deutschland | |
vorstellen können, dass wir heute in einem Bus über den Khyberpass fahren, | |
vorbei an Drogenschmugglern – und dabei frühstücken?“, fragt er sie. | |
Juercke lacht. Hätte sie nicht. | |
Immer wieder fährt der Bus an knallbunt bemalten Lastern vorbei. Die | |
rollenden Kunstwerke sind Tradition in Pakistan. Andere Autos sind im Land | |
der Paschtunen kaum zu sehen. „Das ist eine andere Welt. In den Bergen | |
leben zum Teil Menschen, die ihren Stamm noch nie verlassen haben“, sagt | |
Khan. „In diesen Bergregionen gibt es auch keine Straßen. Man kommt nur zu | |
Fuß oder per Maultier dorthin.“ | |
Am Horizont ragen die Minarette einer Moschee hervor. „Siehst du die | |
goldenen Turmspitzen?“, fragt Khan. „Die Moschee steht in Afghanistan. Wir | |
sind jetzt da. | |
Torkham besteht aus Parkplätzen, einer Straße, ein paar bröckelnden | |
Ziegelbauten – und der Grenzanlage. Als Juercke und Khan aus dem Reisebus | |
steigen, drehen sich viele Köpfe um. „Können wir ein Selfie machen?“, fra… | |
ein Pakistaner Juercke. Hier ist man keine Frauen in Jeans gewohnt. Erst | |
recht nicht mit rotblonden Haaren und Piercing in der Nase. | |
Auf der Straße vor der Grenzanlage schiebt ein Mann eine ältere Frau im | |
Rollstuhl durch die Massen an Taxifahrern, gleichzeitig zieht er einen | |
Koffer hinter sich her. „Islamabad“, „Rawalpindi“, „Peschawar“, br�… | |
Taxifahrer. Sie sehen in der Ankunft der Ankommenden ein Geschäft, genauso | |
wie die pakistanischen Geldwechsler ein paar Meter weiter. Immer wieder | |
schlurfen Afghanen mit Gepäckwagen an ihren Straßenständen vorbei – kleine | |
Vitrinen, in denen sich Notenbündel stapeln. Eine junge Frau tritt aus der | |
Grenzanlage auf die Straße und nimmt ihren Gesichtsschleier ab. | |
## Ein Stacheldrahtgeflecht erwartet die Flüchtlinge | |
Die Grenzanlage ist ein Hunderte Meter langes Stacheldrahtgeflecht – sie | |
besteht aus sogenannten Tubes, gut zwei Meter breite, eingezäunte Gänge mit | |
dunkelgrünen Dächern. Etwa 3.000 bis 4.000 Afghanen quetschen sich jeden | |
Tag da hindurch, sagt ein Mann des pakistanischen Militärs. Staus | |
entstünden vor allem am Checkpoint der Taliban. Geflüchtete berichten immer | |
wieder, dass die Taliban dort in die Menschenmengen schlagen, um das Chaos | |
zu bändigen. Auf der pakistanischen Seite seien hingegen alle Abläufe | |
perfekt organisiert, sagt der Soldat. „Jeder Einzelne wird auf Corona | |
getestet und sogar geimpft“, sagt er. „Und wer kein gültiges Visum hat, | |
wird zurückgeschickt.“ | |
Zehn Afghanen stehen an diesem Tag auf der Evakuierungsliste der „Kabul | |
Luftbrücke“ – unter ihnen [2][Ortskräfte der Bundeswehr], | |
Frauenrechtlerinnen, Mitarbeiter der afghanischen Regierung. Menschen, die | |
von der deutschen Regierung [3][Aufnahmezusagen] bekommen haben. Juercke | |
und Khan bringen sie und ihre Familien in Pakistans Hauptstadt Islamabad in | |
verschiedenen Hotels unter, bis sie ein Visum für Deutschland bekommen. Der | |
jüngste Passagier heißt Ayhan, er ist zwei Jahre alt. | |
Als die beiden Helfer die Grenze um neun Uhr morgens erreichen, warten die | |
Familien auf der afghanischen Seite schon seit zwei Stunden auf Durchlass. | |
Juercke verfolgt auf Whatsapp ihren Live-Standort. „Sie sind nur noch 400 | |
Meter entfernt“, sagt sie. Dann die Ernüchterung. Es könnte noch bis zum | |
nächsten Morgen dauern, bis sie da sind, sagt der Soldat. Die Grenze | |
schließt täglich um 19 Uhr – wer es dann nicht durch den letzten Checkpoint | |
geschafft hat, muss zurück nach Afghanistan und sich ab fünf Uhr morgens | |
wieder anstellen. | |
Auf den Mauern über den Stacheldrahtzäunen stehen junge Männer und winken. | |
Ein Mann mit weißem Vollbart bietet an, Schuhe für umgerechnet 20 Cent zu | |
putzen. Neben ihm zerhackt ein Imbissbesitzer Kalbsfleisch auf einem | |
Holzbrett. Der Soldat flirtet ein wenig mit der Berlinerin. Woher sie | |
kommt, möchte er wissen. „Deutschland ist ein wunderschönes Land“, schwä… | |
er auf Englisch und zwinkert. Dann bringt ein junger Mann mit grüner | |
Warnweste eine Plastikbank. Sie solle doch lieber setzen, solange sie auf | |
die afghanischen Familien wartet. | |
„Wir müssen uns die Gesichter unserer Leute einprägen“, sagt Juercke zu | |
Khan und öffnet einen Ordner mit Fotos auf ihrem Handy. „Wenn sie über die | |
pakistanische Grenze kommen, haben sie keinen Empfang mehr. Dann müssen wir | |
uns erkennen, sonst verlieren wir uns.“ | |
Neun Stunden lang sitzt Juercke vor der Passkontrolle des pakistanischen | |
Militärs. Die Soldaten servieren Tee. Zwei kleine Mädchen mit vernarbten | |
Gesichtern spielen in der Grenzanlage Fangen. „Die beiden leben hier in | |
Torkham“, sagt Khan. „Sie sehen aus, als wären sie fünf Jahre alt, aber s… | |
sind schon ein paar Jahre älter. Die Mädchen sind unterernährt.“ | |
Für Bilal Khan sind die Reisen nach Torkham zwar in den letzten fünf | |
Monaten zur Routine geworden – trotzdem hat er sich noch nicht an seinen | |
neuen Job gewöhnt. „Diese Arbeit macht etwas mit dir“, meint er. „Schon | |
nach den ersten paar Trips hat meine Frau gesagt: ‚Du wirst anders.‘ Und | |
auch ich merke, dass mich manche Erlebnisse nicht richtig loslassen.“ Khan | |
erzählt von einer Evakuierung, bei der ihm ein Junge mit blutenden Armen | |
aus der Grenzanlage entgegenkam. „Er hat sich in Afghanistan all seine | |
Tattoos abgeschnitten“, sagt Khan. „Sonst hätten ihn die Taliban vielleicht | |
umgebracht. Mit solchen Ängsten kommen die Menschen hier an.“ | |
Das Hupen von genervten Autofahrern, die sich durch die Massen an | |
Taxifahrern quetschen, dröhnt durch die Tubes. Immer wieder sucht Juercke | |
in den Warteschlangen nach den Gesichtern von den Fotos auf ihrem Handy. | |
Die Whatsapp-Verbindung ist abgebrochen, sie könnten also schon in Pakistan | |
sein. Aber niemand kommt auf sie zu. | |
Gegen 16 Uhr leert sich die Passkontrollstelle. Der Muezzin ruft zum Gebet. | |
Die Mitarbeiter verlassen die Schalter und laufen mit Teppichen unterm Arm | |
auf den großen Parkplatz vor der Grenzanlage. Etwa 50 Männer knien sich hin | |
und beten in Richtung der Minarette auf der afghanischen Seite der Grenze. | |
Nach ein paar Minuten gehen sie zurück an die Arbeit. „Wo beten die | |
Frauen?“, fragt Khan einen der Männer. „Die müssen zu Hause beten“, | |
antwortet er. | |
Die Gipfel der Berge verschwinden langsam im Dunkeln. Juercke und Khan | |
werden nervös. Bald schließt die Grenze. Die freundlichen Soldaten in den | |
neongrünen Westen können nicht helfen, sagen sie. Die Taliban allein | |
kontrollieren, wer Afghanistan verlassen darf und wer nicht. | |
Einerseits empfangen die Pakistaner täglich Tausende Afghanen, zeigen | |
Verständnis für ihre Todesangst – andererseits seien aber auch „viele | |
Taliban gar nicht so schlimm, wie man denkt“, sagt ein Soldat. „Sie wollen | |
es besser machen als vor 20 Jahren“, meint er, „sie wollen eine friedliche | |
Regierung aufbauen.“ Viele Pakistaner sympathisieren mit der Terrorgruppe, | |
haben sogar Respekt vor ihrer schnellen Machtergreifung im Sommer letzten | |
Jahres. Immerhin kommen einige Taliban genau aus dieser Gegend. | |
Gegen 18 Uhr kommen die ersten aus der Gruppe auf Juercke zu. „Bist du | |
Vanessa?“, fragt eine Frau mit müden Augen und lächelt. An der Hand hält | |
sie einen kleinen Jungen. Es ist Ayhan, der jüngste Passagier. „Ich bin | |
froh, dass ihr es geschafft habt“, sagt Juercke erleichtert. Nach und nach | |
führt Bilal Khan die Familien zu dem weißen Reisebus, vorbei an den | |
Taxifahrern und Geldwechslern. Im Bus versorgt er die evakuierten Afghanen | |
mit Wasserflaschen und Curry. | |
Um kurz vor 19 Uhr kommt die letzte Frau aus der Gruppe bei Vanessa Juercke | |
an. „Tut mir leid, dass ich so spät bin“, sagt sie. Zwölf Stunden habe sie | |
an der Grenze ausgeharrt. Fast hätten die Taliban sie nicht mehr | |
durchgelassen. „Ich habe einfach behauptet, dass mein Mann schon auf der | |
pakistanischen Seite ist und ich zu ihm muss.“ Die junge Frau lacht. „Das | |
stimmt natürlich nicht. Ich reise allein, aber so haben sie mich noch | |
durchgewinkt.“ | |
Die meisten Passagiere schlafen bereits, als der Toyota-Reisebus endlich | |
den Parkplatz verlässt. Nur der zweijährige Ayhan ist aufgeregt und | |
klettert auf den Sitzen herum. Es geht nach Islamabad, über den | |
[4][Khyberpass], vorbei an bunten Lastern und Drogenschmugglern. Und die | |
goldenen Turmspitzen verschwinden hinter ihnen am Horizont. | |
3 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kabulluftbruecke.de/ | |
[2] /Ortskraefte-der-Bundeswehr-in-Afghanistan/!5814740 | |
[3] /Verzweifelte-Ortskraefte-in-Afghanistan/!5815312 | |
[4] https://www.britannica.com/place/Khyber-Pass | |
## AUTOREN | |
Kathrin Braun | |
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