# taz.de -- Kreislaufwirtschaft und Klimakrise: Das Potenzial der Müllkippe | |
> Unser Müllproblem in den Griff zu bekommen, wäre auch fürs Klima gut. | |
> Dazu muss sich nicht nur die Abfallwirtschaft umstellen. | |
BERLIN taz | Wer Klimaschutz will, muss in den Kreislauf investieren. „Das | |
ist längst kein Thema mehr nur für die Entsorgungswirtschaft“, sagt Bärbel | |
Birnstengel, die bei der Unternehmensberatung Prognos für die | |
Abfallwirtschaft zuständig ist. „Wir müssen Produkte so gestalten und | |
nutzen, dass sie kreislauffähig werden.“ | |
Also: erst langlebige Konstruktion, dann pflegliche Nutzung, Reparatur, | |
vielleicht Secondhand-Weitergabe und schließlich Recycling von Produkten | |
statt Ex-und-hopp. So schont man knappe Ressourcen und Umwelt, aber schützt | |
auch die Atmosphäre vor noch mehr Treibhausgas. | |
Das ist Ergebnis einer neuen [1][Studie], an der Birnstengel mitgeschrieben | |
hat. Durchgeführt wurde sie im Auftrag von vier europäischen | |
Abfallwirtschaftsverbänden. Untersucht haben Birnstengel und ihre | |
Kolleg:innen zwei Szenarien: Ausgehend vom Basisjahr 2018 wurde das | |
Treibhausgas-Einsparpotenzial für 2035 für insgesamt zehn Abfallarten | |
errechnet. Konkret: Papier, Glas, Kunststoffe, Eisenmetalle, Aluminium, | |
Holz, Textilien, Altreifen, Bioabfälle und Restmüll. | |
Das erste Szenario geht davon aus, dass alle geltenden EU-weiten | |
Gesetzesvorhaben und geltenden Regulierungen [2][von den Mitgliedsländern | |
konsequent umgesetzt werden]. | |
## Potenzial nur zur Hälfte ausgeschöpft | |
Würden also beispielsweise überall 65 Prozent des Hausmülls wie | |
vorgeschrieben ins Recycling wandern, alte Elektrogeräte konsequent beim | |
Handel abgegeben und hochwertig verwertet und deutlich mehr | |
Mehrwegverpackungen etwa bei Getränken oder im Versandhandel eingesetzt, | |
dann würde die europäische Kreislaufwirtschaft im Jahr 2035 rund 150 | |
Millionen Tonnen CO2 weniger ausstoßen als 2018. | |
Zum Vergleich: Das entspricht ungefähr dem, was das deutsche Verkehrswesen | |
im Jahr 2020 an Kohlendioxid emittiert hat. Das Potenzial liegt aber noch | |
deutlich höher. Das zweite Szenario bildet das über die bisherigen Regeln | |
hinaus Machbare ab. Darin kommt es beinahe zu einer Verdoppelung des | |
positiven Klimaeffekts; der CO2-Ausstoß der Kreislaufwirtschaft würde im | |
Jahr 2035 um rund 296 Millionen Tonnen sinken. | |
Insgesamt trugen die Mitgliedsländer der EU laut Umweltbundesamt 2019 mit | |
3.610 Millionen Tonnen CO2 zur Erderwärmung bei. Ein Einsparpotenzial von | |
knapp 300 Millionen Tonnen durch weniger Müllkippen, mehr Reparaturen und | |
Mehrweg ist also groß. | |
Die Datenlage enthält allerdings Unsicherheiten, weil die | |
EU-Mitgliedstaaten die Mengen ihrer Abfälle statistisch höchst | |
unterschiedlich erfassen. Birnstengel geht etwa beim Holz von einer | |
Fehlerquote bei den Berechnungen von bis zu 10 Prozent aus, weil viele | |
Althölzer in privaten Feuerungsanlagen verheizt werden und den offiziellen | |
Abfallstrom überhaupt nicht erreichen. | |
Und wie schöpft man das Klimapotenzial der Kreislaufwirtschaft nun aus? | |
Laut Birnstengel sind drei Maßnahmen besonders vielversprechend: Erstens | |
müsse weniger Müll deponiert werden. In einigen Ländern werden noch immer | |
über 60 Prozent der Abfälle aus dem Hausmüll auf Müllkippen gelagert, | |
Spitzenreiter ist hier laut EU-Statistik Rumänien. | |
Die Bundesregierung müsse „den angekündigten Einsatz für ein Verbot der | |
Deponierung unbehandelter Siedlungsabfälle in Europa verstärken“, forderte | |
deshalb Peter Kurth, der sowohl dem Bundesverband der deutschen | |
Entsorgungswirtschaft BDE als auch dem europäischen Dachverband FEAD | |
vorsteht. „Hier gibt es derzeit noch Widerstand aus den Ländern mit einer | |
wenig entwickelten Kreislaufwirtschaft“, so Kurth. | |
Als zweite gewichtige Maßnahme müsse die große Abfallmenge des Industrie- | |
und Gewerbemülls in Europa den gleichen Regelungen unterworfen werden wie | |
der Hausmüll. „Alle schauen immer auf den Siedlungsabfall, dabei gibt es | |
viel mehr Abfälle, die unzureichend getrennt und verwertet werden“, sagt | |
Birnstengel. Und drittens gelte es, die gesamte Nutzungskette der Produkte | |
zu untersuchen, vom Design über die Verwendung bis zur Entsorgung. | |
## Brauchen wir weniger Konsum? | |
Solche Maßnahmen, die die Lebens- und Nutzungsdauer von Produkten erhöht, | |
[3][hat die neue grüne Umweltministerin Steffi Lemke auf dem Schirm]. | |
Jüngst sprach sie sich gegenüber der Deutschen Presse-Agentur für ein | |
„Recht auf Reparatur“ und einen neuen Index für Produkte aus. „Sinnvoll … | |
ein Reparierbarkeitsindex, auf dem man erkennen kann, wie | |
reparierfreundlich ein Produkt ist“, sagte Lemke. | |
[4][Ein jüngst veröffentlichtes Papier der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der | |
Organisation Power-Shift] warnt allerdings sowieso davor, die Erwartungen | |
an die Kreislaufwirtschaft zu hoch zu schrauben. Darin haben die beiden | |
Organisationen die Klimawirkungen der Gewinnung und Nutzung verschiedener | |
Industriemetalle wie Eisenerz, Nickel oder Zinn untersucht. | |
Nach ihren Ergebnissen müsse die Produktionsspitze für die verschiedenen | |
Metalle etwa im Jahr 2030 liegen, um das Kohlenstoffbudget für einen Stopp | |
der Erderwärmung bei 2 Grad nicht zu sprengen. „Danach muss es weniger | |
Bergbau geben und vor allem die Kreislaufnutzung der Rohstoffe | |
überwiegen“, heißt es in der Untersuchung, „im Jahr 2050 müssten – je … | |
Rohstoff – schätzungsweise 54 bis 87 Prozent der genutzten Rohstoffe aus | |
dem Recycling kommen, im Jahr 2100 dann 84 bis 100 Prozent“. | |
Das sei aufgrund von Qualitätsstandards und thermodynamischen Gesetzen | |
nicht einmal in der Theorie möglich, schreiben die Autoren. Auch sie | |
fordern ein verändertes Produktdesign, um „so nah wie möglich an die 100 | |
Prozent zu kommen“. | |
Bei ihnen gibt es jedoch ein Aber: Ohne Substitution und veränderte Konsum- | |
und Lebensstile „werden wir an dieser Stelle – vor allem in den stark | |
rohstoffkonsumierenden Gesellschaften wie Deutschland – nicht auskommen“. | |
30 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /tmp/2022-co2-saving-europe-waste-management-circular-economy.pdf | |
[2] /Abfallquoten-in-der-EU/!5747218 | |
[3] /Rohstoffpolitik-im-Koalitionsvertrag/!5817914 | |
[4] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Brosc… | |
## AUTOREN | |
Heike Holdinghausen | |
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