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# taz.de -- Wissenschaft und Aberglauben: Der Plural von Wahrheit
> Es tut gut, mit Aberglauben aufzuwachsen, der nicht widerlegt werden
> muss. Gerade aktuell sollte die Vielfalt von Wahrheit geschützt werden.
Bild: Für eine Wahrheit, die friedlich neben der anderen liegt
Am Vorabend des Wassertigerjahres verwandelte ich mich in meine älteste
Tante. Nicht komplett, mir blieben die schmerzenden Füße erspart und am
Stock ging ich auch nicht. Aber ansonsten war es, als wäre sie mit all
ihrem Aberglauben in mich hineingefahren. Darf man zum Jahreswechsel
putzen, oder kehrt man sonst das Glück aus der Wohnung? Galt das nur für
Kehrarbeiten am Boden, oder auch für den Abwasch? Für den Silvesterabend
oder für den Neujahrstag? Dürfte ich Wäsche machen? Müsste ich Rot tragen?
Oder war eh alles egal, weil ich mir am Morgen den Pony nachgeschnitten
hatte und mein Glück somit längst mit den Haarspitzen im Abfluss
heruntergespült?
Ich bin mit Aufklärung, Wissenschaften und Aberglauben aufgewachsen. Ich
hatte immer mehrere Wahrheiten. Die älteste Tante kennt gefühlt tausend
Sitten und Bräuche. Sie weiß, wo um die Zuckerrohrstangen ein rotes Band
gebunden wird, welche Süßspeise das Brautpaar zuerst essen soll, wie man
sich vor bösen Geistern schützt. Sie weiß detaillierte, komplizierte Dinge,
die mir oft wahllos, aber immer schön und richtig erschienen.
Ich wollte das nie hinterfragen. Es tat gut, das nicht zu tun, eine zweite
Wahrheit zu haben, die nicht bewiesen oder widerlegt werden musste. Weil
sie sich ohnehin nicht logisch erklären ließ und sich zugleich niemandem
aufdrängte, sich nie über andere Erkenntnis erhob oder jemanden verletzte.
Weil sie friedlich neben der ersten lag.
Es ist schwer geworden, mehrere Wahrheiten zu behaupten, während
[1][Menschen Verschwörungstheorien verfallen] und Desinformation
Gesellschaften und Menschenleben gefährdet. Glaubensfragen sind schon lange
ein anfälliges Narrativ für feindliche Übernahmen. Zu viele, auch hier,
[2][behaupten, alles sei gelogen]: Wissenschaft, Politik, Medien. Sie
sagen, sie seien die Einzigen, die nicht blind folgten, die gesund
zweifelten, und die echte, „alternative Wahrheit“ gefunden hätten. Dass sie
sich dabei selbst widersprechen, ist egal, weil das nicht der Zweck ihrer
Erzählung ist. Der Zweck ist Umsturz, Aushöhlung, „Widerstand“ (auch so e…
gekaperter Begriff) gegen „die da oben“.
## Schützend vor den Zweifel werfen
Gerade jetzt will ich mich schützend vor den Zweifel werfen. Und vor meinen
evidenzfreien Aberglauben. Vor Akkupressurpunkte gegen Magenschmerzen, vor
den Glauben an Geister und unbedingt auch stellenweise vor den Zweifel an
staatlichen Institutionen und Machtverteilung in diesem Land. Zumindest
Letzteres brauchen wir, unbedingt.
Das Infragestellen, die gedankliche (Über-)Dehnung, die Rumträumerei – sie
sind nicht das Gegenteil wissenschaftlicher Erkenntnis und Rationalität.
Auch wenn es sich heute oft so anfühlt. Aber wenn verantwortungsbewusst und
präzise angewandt, erinnern sie uns bestenfalls daran, dass wir nicht alles
wissen können, und gehören so zu den wichtigsten Mitteln, die wir zum
Wachsen haben. Gerade deshalb sollten wir Wege finden, sie uns nicht nehmen
zu lassen.
2 Feb 2022
## LINKS
[1] /Verschwoerungstheorien-unterm-Tannenbaum/!5821041
[2] /Umgang-mit-Corona-Leugnerinnen/!5810614
## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
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Verschwörungsmythen und Corona
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