# taz.de -- Frauenrechte in Westafrika: Wenn ein Tabu zerbricht | |
> Valerie hat abgetrieben. Aber das darf niemand wissen. Ein Abbruch war in | |
> Benin bisher verboten. Jetzt liberalisiert das Land sein | |
> Abtreibungsgesetz. | |
Eine Wohnung im zweiten Stock in [1][Cotonou], der Wirtschafts- und | |
Hafenmetropole von Benin. Die Räume sind schlicht eingerichtet; im | |
Wohnzimmer stehen eine Couch, ein Esstisch, ein Fernseher. Die Wände sind | |
in einem hellen, weichen Gelb gestrichen. Das Mehrfamilienhaus liegt | |
zwischen dem Kreisverkehr Étoile Rouge und dem Stadion der Freundschaft an | |
einer Seitenstraße. Vom Balkon aus hat man einen guten Blick auf die | |
wenigen grünen Flächen, die im Zentrum der Stadt noch nicht bebaut sind. | |
Vom Lärm der Hauptstraße und dem ständigen Gehupe ist nichts mehr zu hören. | |
Hier lebt Valerie mit ihrer Familie. 2021 hat sie ihr erstes Kind auf die | |
Welt gebracht. Wohnung und Balkon sind ein geschützter Raum, in dem die | |
31-jährige Unternehmerin über ihr lange und gut gehütetes Geheimnis | |
sprechen kann. Als sie 21 Jahre alt war und studierte, hat sie abgetrieben. | |
Valerie, deren richtiger Name anders lautet, spricht schnell. Es klingt so, | |
als ob sie ihre Geschichte und das Erlebte zügig loswerden wolle. „Mein | |
Partner und ich haben uns damals gemeinsam dafür entschieden. Ich war | |
mitten im Studium.“ | |
Die junge Frau ist in einer katholischen Familie groß geworden. | |
Katholik*innen machen in Benin etwa ein Viertel der gut 13 Millionen | |
Einwohner*innen aus. Die Kirche verbietet den Abbruch, so wie bisher | |
auch der Staat. Erst seit 2005 ist er in seltenen Ausnahmen legal, dann, | |
wenn die Frau vergewaltigt wurde oder die Gesundheit von ihr oder ihrem | |
Kind bedroht ist. Der Wunsch, eine Ausbildung zu beenden und sogar die | |
Aussicht auf ein Stipendium für ein Auslandsstudium gehörten nicht dazu. | |
Ein neues Gesetz soll das jetzt ändern. Es sieht vor, dass Frauen auch dann | |
die Schwangerschaft abbrechen können, wenn diese eine Notlage verursacht, | |
die weder mit ihrem eigenen noch mit dem Kindeswohl vereinbar ist – | |
wirtschaftlich wie psychisch. Das Parlament hat die Neuerung bereits | |
durchgewunken. Die Ratifizierung des Verfassungsgerichts steht noch aus. | |
Sie gilt als Formsache. | |
## Ein Tabuthema im Zentrum des Interesses | |
In den vergangenen Jahren ist wohl kaum ein Thema in Benin so intensiv | |
diskutiert worden wie die geplante Liberalisierung des Abtreibungsrechts. | |
Plötzlich steht dieses Tabuthema im Zentrum der Debatten und füllt Radio- | |
und Fernsehprogramme. Bisweilen heißt es gar, es könne die Gesellschaft | |
spalten. | |
Größte Gegnerin der Liberalisierung ist die katholische Kirche. Die | |
Bischofskonferenz hat das Gesetz „mit tiefem Bedauern“ zur Kenntnis | |
genommen und bezeichnet es als „unmenschlich“. Für ein Land, in dem wie in | |
ganz Westafrika die Religion weiterhin große Bedeutung hat und ein | |
Identifikationsfaktor ist und wo Imame, Priester und Prediger | |
Meinungsführer sind, bedeutet das aber auch: Der Staat macht sich | |
unabhängig vom Einfluss der Kirchen und Moscheen und lässt sich von ihrer | |
Kritik nicht umstimmen. | |
Keine zehn Minuten von Valeries Wohnung entfernt liegen Schule und Büro der | |
Don-Bosco-Schwestern. Die katholischen Ordensfrauen und ihre | |
Mitarbeiter*innen betreuen auf dem Markt Dantokpa, einem der größten | |
in ganz Westafrika, Mädchen, die zur Kinderarbeit gezwungen werden und | |
nicht selten auch sexuellen Missbrauch erleben. Sie betreiben mit dem | |
„[2][Maison de l’Espérance]“, auf Deutsch „Haus der Hoffnung, eine | |
Berufsschule mit Ausbildungsangeboten zur Köchin, Bäckerin oder | |
Seifenmacherin sowie das „[3][Maison du Soleil]“, das „Haus der Sonne“. | |
Es ist gilt als Zufluchtsstätte für Minderjährige, die nach Missbrauch und | |
Vergewaltigung schwanger geworden sind und nicht bei ihren Familien bleiben | |
können. Hier können sie gemeinsam mit ihren Babys die ersten Monate | |
verbringen und lernen, ihren Alltag mit dem Kind zu strukturieren. Gleich | |
nebenan erhalten sie zudem eine Ausbildung. Leiter ist Micdadou Colibaly. | |
Seiner Meinung nach zeige das Projekt, dass es Alternativen zur Abtreibung | |
gibt. „Die Mädchen akzeptieren, Leben zu schenken.“ | |
Mit scharfer Kritik am neuen Gesetz hält sich Coulibaly zurück und sagt: | |
„Ich habe den Eindruck, dass viele Details nicht beachtet worden sind.“ Bei | |
der Arbeit mit den minderjährigen Müttern sei es wichtig zu erklären, dass | |
mit einer Abtreibung große gesundheitliche Risiken verbunden seien. Der | |
Ansatz des „Maison du Soleil“ bleibe: „Wir möchten gemeinsam mit den | |
Kindern und ihren Eltern eine Lösung finden. Diesen Dialog zwischen ihnen | |
wollen wir künftig verstärken.“ | |
Zurück in der Wohnung von Valerie. Sie beugt sich auf ihrem weißen | |
Plastikstuhl nach vorne. „Die Entscheidung war damals extrem schwer. Ich | |
bin in dieser Familie und mit diesen Traditionen groß geworden.“ Ein | |
Problem war auch, dass sie sich an niemanden wenden konnte. „Meine Eltern | |
hätten es auf gar keinen Fall akzeptiert.“ | |
Eine Schwangerschaftsberatung gibt es nicht. Vor einem Jahrzehnt klärten | |
kaum Organisationen über Sexualität, Schwangerschaft und Verhütung auf. Bis | |
heute gilt das Thema als Tabu. Wenn junge Frauen – selbst volljährige – | |
Informationen einfordern, werden sie schnell abgestempelt und gelten als | |
Mädchen, die mit jedem mitgehen. Sie werden stigmatisiert, nicht etwa die | |
Männer. Das ist auch bei der Abtreibungsdebatte so. Über die Väter spricht | |
niemand. | |
Vor zehn Jahren war auch das junge Paar auf sich gestellt. Valerie musste | |
eine „avortement clandestin“ wählen, eine heimliche und illegale | |
Abtreibung, wie sie genannt wird. Zuerst ging sie zur Blutabnahme ins | |
Krankenhaus, wo sie mit einer Hebamme ins Gespräch kam. „Sie hat gesehen, | |
wie frustriert und demotiviert ich war. Ich habe ihr meine Situation | |
erklärt. Sie hat mich verstanden und mir den Kontakt eines Arztes gegeben“. | |
Wer ein bisschen in Cotonou herumfragt und diskret genug ist, bekommt | |
schnell die Namen einiger Gynäkolog*innen genannt, die zu einem | |
Abbruch bereit sind. Oder sie kennen Kolleg*innen, die ihn durchführen, und | |
vermitteln weiter. Manchmal geht das auch in Krankenhäusern, in denen auf | |
den ersten Blick nichts darauf hindeutet. Es gibt aber spezielle Räume, und | |
Krankenschwestern spüren aus Erfahrung schnell, wenn jemand versucht, nach | |
einem Schwangerschaftsabbruch zu fragen, ohne das Wort auszusprechen. | |
Häufig wird ein Preis genannt, der umgerechnet zwischen 50 und 60 Euro | |
liegt. Das ist mitunter mehr als der halbe Monatslohn einer Putzfrau oder | |
eines Fahrers. Für junge Mädchen, die noch in der Ausbildung sind, ist die | |
Summe immens hoch. | |
## Heimliche Abtreibung: 200 tote Frauen | |
Den düsteren, kaum ausgestatteten Raum wird Valerie nicht vergessen. Ein | |
Bett gab es, einen kleinen Tisch, sie und den Arzt. „Es dauerte 15, | |
vielleicht 20 Minuten, und es war weg.“ Die Angst kam danach. Was passiert, | |
wenn es Komplikationen gibt, eine spätere Schwangerschaft nicht mehr | |
möglich ist? Die zwei Wochen nach dem Eingriff waren von ständig nagenden | |
Fragen geprägt. Ein Aufklärungsgespräch hatte es zuvor nicht gegeben. „Ich | |
bekam Medikamente und sollte mich zwei Wochen später im Krankenhaus erneut | |
untersuchen lassen.“ Es war alles in Ordnung, die Erleichterung groß. | |
Die hohen Risiken, die bisher mit der heimlichen Abtreibung verbunden | |
gewesen sind, waren nach Regierungsangaben ein Grund für die | |
Liberalisierung. Es wird geschätzt, dass in Benin jährlich mindestens 200 | |
Frauen an den Folgen einer Abtreibung gestorben sind. Die Dunkelziffer | |
dürfte durchaus höher liegen. In ländlichen Regionen, in denen es kaum | |
Zugang zu Krankenstationen gibt, wird auch mit pflanzlichen Präparaten | |
abgetrieben. Die Dosierung ist Erfahrungssache. Woraus sich das Mittel | |
zusammensetzt, weiß nur die Herstellerin oder der Hersteller. Kommt es zu | |
einem Notfall, liegt das nächste Krankenhaus mitunter Dutzende Kilometer | |
entfernt. | |
Was Valerie in den Tagen vor dem Abbruch vor allem beschäftigt hat, war | |
ihre Zukunft. Sie wollte studieren, einen Beruf erlernen und eigenes Geld | |
verdienen. „Ich kann mein Studium nicht mit einer Schwangerschaft | |
fortsetzen. Das schwirrte immerzu durch meinen Kopf“, sagt sie. Bis heute | |
wird in manchen afrikanischen Ländern Teenager-Müttern der weitere | |
Schulbesuch verweigert. Wer ein Kind auf die Welt bringt, hat keinen Platz | |
mehr auf der Schulbank. Tansania beispielsweise hat dieses Verbot erst im | |
November letzten Jahres gestrichen. | |
Doch Schülerinnen kommen auch ohne Verbot nach der Entbindung häufig nicht | |
mehr zurück. Die Eltern untersagen die Teilnahme am Unterricht und fordern | |
stattdessen, dass die junge Mutter Geld verdient. Zudem ist es schwer, eine | |
Betreuung für das Kind zu finden. Nach Informationen des beninischen | |
Ministeriums für technische, berufliche und Sekundarbildung gibt es | |
jährlich rund 2.500 Fälle von Schwangerschaften an Schulen. | |
[4][Raïmath Djibril Moriba] wird leidenschaftlich und laut bei diesem | |
Thema. Auch sie hat in den vergangenen Wochen an zahlreichen | |
Diskussionsrunden teilgenommen. Gerade ist sie von einer Reise durchs Land | |
zurück nach Cotonou gekehrt. In das kleine Büro der Juristin, Unternehmerin | |
und Gründerin der nichtstaatlichen Organisation „Engagierte Frauen für die | |
Entwicklung“ führt eine schmale Wendeltreppe. Im Fernsehen läuft ein | |
Nachrichtenprogramm, auf dem Schreibtisch liegt neben ihrem Laptop der | |
Koran. | |
Moribas erklärtes Ziel ist es, die Emanzipation der beninischen Frauen zu | |
fördern, wirtschaftlich, sozial und rechtlich. „Wir wollen Frauen, die die | |
Entwicklung selbst in die Hand nehmen und für unser Land von zusätzlichem | |
Wert sind.“ Das neue Gesetz sei ein wichtiger Schritt dazu, sagt die | |
Juristin. „Es schützt Frauen, und darauf können wir stolz sein.“ Sie erle… | |
in Debatten allerdings häufig, dass es anders interpretiert wird. „Der | |
Staat will doch gar nicht, dass Frauen ständig abtreiben. Auch definiert | |
das Gesetz die Gründe für eine Abtreibung klar. Er möchte schlichtweg | |
nicht, dass es Frauen schlecht geht.“ Auch Gott wolle das nicht, ist sich | |
die Muslimin sicher: „Er sagt doch nicht: Schenkt Leben und sterbt.“ | |
Die Debatte offenbart aber noch etwas anderes: Es mangelt an | |
Sexualaufklärung für Teenager. Dafür sind bis heute meist | |
Nichtregierungsorganisationen wie die von Raïmath Djibril Moriba zuständig. | |
Zwar gibt es ein schulisches Pilotprojekt, das 2018 an 60 Schulen begann. | |
Damit erreicht wird bisher aber nur ein winziger Bruchteil der Betroffenen. | |
Für die Juristin ist deshalb klar: Wenn es der Regierung wirklich ernst mit | |
dem neuen Gesetz ist, muss mehr Aufklärung her. „Mädchen wie Jungen müssen | |
lernen: Sexualität ist etwas Sensibles und nichts für jemandem ohne die | |
entsprechende Reife.“ Während die Eltern sich bis heute nicht trauen, über | |
Sexualität zu sprechen, würden ihre Kinder sich im Internet informieren. | |
Ein denkbar schlechter Weg, findet Moriba. | |
Auch Valerie wusste wenig, als sie zum ersten Mal schwanger wurde. „Wir | |
waren jung, es war meine erste Beziehung.“ Über Verhütungsmethoden, etwa | |
die Anti-Baby-Pille, hatte niemand mit ihr gesprochen. Wer in einer der | |
zahlreichen Apotheken die „Pille danach“ kaufen will – sie liegt offen in | |
vielen Regalen aus –, muss viel Mut aufbringen oder eine ältere Freundin | |
dazu überreden. Das habe sich bis heute nicht geändert. | |
Eins dürfe bei der Debatte allerdings nicht vergessen werden, findet | |
Valerie: „Es sind nicht nur junge Mädchen, die einen Abbruch durchführen | |
lassen. Es sind genauso verheiratete Frauen.“ Von zehn Frauen seien es vier | |
bis fünf, schätzt sie. Die Gründe dafür seien unterschiedlich: kein fester | |
Partner, eine andere Lebensplanung, nicht noch ein Kind und immer wieder | |
wirtschaftliche Schwierigkeiten. Unterschiedlichen Statistiken zufolge | |
bringt jede beninische Frau zwischen 4,8 und 5,6 Kinder zur Welt. | |
Valerie steht auf, geht zum Geländer und blickt auf die Straße. Schräg | |
gegenüber dem Haus liegt eine Grundschule. Es ist Pause, und die Kinder | |
machen ordentlich Lärm. „Es gibt zu viele Mädchen und Jungen, um die sich | |
niemand richtig kümmert und für die kein Geld da ist. Frauen werden mit | |
ihren Kindern alleine gelassen und schaffen es nicht einmal, ausreichend | |
Essen zu kaufen. Babys haben nicht einmal eine Decke oder eine Mütze, die | |
sie vor der Sonne schützt.“ | |
Als eine Mitarbeiterin ihr im vergangenen Jahr sagte, sie wolle die | |
Schwangerschaft beendeten, hatte Valerie viel Verständnis. „Es war klar, | |
dass sie mit ihrem Gehalt nicht noch ein Kind ernähren kann. Das wäre | |
einfach nicht gegangen. Das neue Gesetz wird die Probleme verringern, die | |
wir in der Gesellschaft haben“, davon ist Valerie überzeugt. | |
6 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Cotonou | |
[2] https://www.missionegiovanifma.org/portfolio/benin-cotonou-maison-de-lesper… | |
[3] https://blogs.donboscovolunteers.de/marieluisescheckenbach/2018/04/07/das-m… | |
[4] https://leleaderinfobenin.net/info-benin-projet-de-loi-sur-la-repression-de… | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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