# taz.de -- Henrik Schrat illustriert Grimms Märchen: Seinen Platz in der Welt… | |
> Der Berliner Künstler illustriert Grimms Märchen und plötzlich sieht man | |
> sie als Geschichten von Ausgestoßenen und Außenseitern. | |
Bild: Ausschnitt aus Henrik Schrats Illustration zu „Dornröschen“ | |
Es gibt Arbeit, die hebt man sich gern für die Zeit zwischen Weihnachten | |
und Neujahr auf. Zum Beispiel Grimms Märchen lesen. Warum das Arbeit ist: | |
Weil der [1][Berliner Künstler Henrik Schrat] sich vorgenommen hat, alle | |
Märchen innerhalb von fünf Jahren zu illustrieren – und dann so ein | |
Märchenbuch zu einem kleinen Kunstwerk wird. Im Dezember 2021 ist der | |
zweite Band, „Dornenrose“, erschienen. Im titelgebenden Märchen | |
„Dornröschen“, mit dem der Band beginnt, sieht man gleich, wohin die Reise | |
geht: Die 13. Fee, die nicht zur Geburt der Königstochter eingeladen ist, | |
braust mit wehendem Cape auf einem Bike mit Lkw-starken Reifen wie eine | |
Heavy-Metal-Braut auf das Schloss zu. | |
Der Text der Grimm'schen Märchen ist unverändert, in den Tuschezeichnungen | |
von Henrik Schrat aber öffnet sich neben dem Erzählraum ein zweiter Raum, | |
in den viel von unserer Gegenwart einfließt und auch von präsenten | |
Medienwelten. | |
Überall tauchen Handys auf, der Küchenjunge, dem der Koch eine Ohrfeige | |
geben will, daddelt, Bruder Lustig macht von sich ein Selfie und sieht auch | |
noch aus wie Jack Nickolson. Mit breitem Grinsen, hat er sich doch an | |
Petrus vorbei in den Himmel geschmuggelt. | |
## Ohne Tricks läuft da nichts | |
Nicht immer ist alles, was zu sehen ist, dem Text zuzuordnen. Das sehr | |
lange und abenteuerliche Märchen „Die zwei Brüder“ ist gerahmt von zwei | |
mittelalterlichen Musikanten an Harfe und Drehleier, vielleicht die | |
Erzähler*innen. Überall tummeln sich kleine Punks und jede Menge Männer und | |
Frauen in Military-Hosen, womöglich Nachfahren der entlassenen armen | |
Soldaten, die in einigen der Märchen notgedrungen durch die Welt wandern | |
und nur durch Tricks einen Platz in der sozialen Ordnung erlangen können. | |
Und ehemalige Soldaten gelten nicht zuletzt als Zuträger der Märchenstoffe | |
zu den Ohren der Brüder Grimm. | |
Im September 2021 eröffnete in [2][Frankfurt am Main ein neues | |
Romantik-Museum], in dem Henrik Schrat das Personal der Grimm'schen Märchen | |
über die Wände und die Decke eines Raums gestreut und miteinander verwoben | |
hat. Der Esel aus den Bremer Stadtmusikanten ist zugleich ein Goldesel, und | |
die Dukaten, die er scheißt, regnen in das Hemdchen des | |
Sterntaler-Mädchens. Mit diesem Museumsauftrag wurde der Zeichner | |
gewissermaßen offiziell zum Grimm-Experten geadelt. | |
Im Band „Dornenrose“ sind die Zeichnungen getuscht, viele Schattierungen | |
von Grau geben ihnen etwas Malerisches. Oft verdunkeln große Tuschewolken | |
die Seiten, Felsen türmen sich tiefschwarz, Hubschrauber kreisen über | |
schmale Schluchten. Heiter ist die Welt der Märchen nicht, auch wenn es am | |
Ende den Schelmen und den kindlichen Held*innen, die von zu Hause fliehen | |
und sich in der Wildnis beweisen müssen, oft gut geht. | |
Die Stadt und der Wald sind in Schrats Bildern zwei gegensätzliche Welten, | |
die aber hart aneinanderstoßen, in fantastischen Kombinationen: Hinter den | |
Tannen ragen gleich steile Wohntürme auf. So treibt der Zeichner | |
romantische Topoi zwar weiter, aber konfrontiert sie auch mit den | |
Entwicklungen der Gegenwart. | |
Nicht zuletzt steckt viel Berlin in den Bildern. Ein Zwerg mit Tretroller | |
gleitet am Reichstag vorbei, die Ruine der Gedächtniskirche steht anstelle | |
einer kleinen Kapelle, in die sich zwei Kinder auf der Flucht in | |
„Fundevogel“ verwandelt haben. Da stutzt man beim Lesen zunächst, aber | |
freut sich dann doch über die Stadtlandschaft, ohne Autos, durch die Füchse | |
stromern und in der Pferde grasen. Die Bilder folgen oft einem Eigensinn | |
der Bildidee und spinnen Gedanken in andere Richtungen fort. | |
5 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Grimms-Maerchen-neu-illustriert/!5738026 | |
[2] https://deutsches-romantik-museum.de/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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