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# taz.de -- Migration über Belarus in die EU: Kein Vor und kein Zurück
> Der Syrer Wael wollte über Belarus nach Deutschland emigrieren. Dann
> schloss Polen die Grenze. Für seine Familie hat das weitreichende Folgen.
Bild: Grenze zwischen Belarus und Polen: Diese Route ist mittlerweile wenig erf…
Beirut taz | Wael hatte schon geplant, wie er seinen Rucksack packt: Eine
Powerbank, eine dual nutzbare Sim-Karte für Belarus und Polen, eine dicke
Jacke und Essen für knapp zehn Tage. „Es ist ein Risiko, aber (…) die
einzige Lösung ist, dass ich auswandere, die Sprache lerne und dass meine
Kinder zur Schule gehen können. Das kann dauern, aber am Ende weiß ich
wenigstens, dass es eine Zukunft gibt.“
Der 33-Jährige sitzt in einem Raum einer Nichtregierungsorganisation im
Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut. Draußen spielen Kinder, ein Auto
hupt, Musik mit starkem Bass dröhnt aus Boxen. Wael spricht ruhig,
unaufgeregt und wählt seine Worte mit Bedacht. Seinen echten Namen möchte
er für diesen Artikel ändern. „Es geht darum, dass ich später keine
Probleme habe.“
Wael ist 2014 in den Libanon gezogen. Der gelernte Bauingenieur konnte ein
Jahr in seinem Beruf arbeiten, danach arbeitete er sechs Jahre lang im
Accounting. Lange Zeit hatte er keine Stelle, seit zweieinhalb Jahren
arbeitet er in einem kleinen Supermarkt im palästinensischen
Flüchtlingslager Schatila, das längst zu einem festen Stadtteil Beiruts
geworden ist.
Vor der Supermarkttür liegen Chips-Tüten in einem Ständer, drinnen über der
Kasse eine grelle Neonröhre, an der Seite Zigarettenpackungen. Mindestens
zehn Stunden dauert die tägliche Schicht, auch am Wochenende. Der Lohn
beträgt umgerechnet achtzig US-Dollar im Monat. Die Hälfte davon geht für
den privaten Stromgenerator drauf, [1][denn der libanesische Staat kann die
Stromversorgung nicht mehr gewährleisten].
Zwar ist Waels Miete von der hohen Inflation im Libanon nicht stark
betroffen, rund zwanzig Dollar zahlt er, trotzdem bleiben nur zwanzig
Dollar im Monat für Essen. Zu wenig für ihn, seine Frau und die
zweijährigen Zwillinge. Auch die Frau ist Bauingenieurin, ohne Job. Der
Bruder ist über die Türkei mit einem Schlauchboot nach Deutschland
gekommen. Er schickt gelegentlich Geld und Wael versucht, nebenbei an
„Computer-Projekten“ zu arbeiten.
## Kein Zurück nach Syrien
Durch die Politik- und Finanzkrise ist der Wert der libanesischen Lira seit
Oktober 2019 um das 20-Fache geschrumpft. Am Dienstag fiel der Kurs erneut
auf ein Rekordtief zum US-Dollar. Tausende haben ihre Arbeit verloren. Für
viele sind Benzin, Medizin und Nahrungsmittel unbezahlbar. Laut Erhebung
des US-Meinungsforschungsinstituts [2][Gallup] können sich 50 Prozent der
Bevölkerung im Libanon kaum noch Lebensmittel leisten. 63 Prozent möchten
das Land verlassen.
Im Oktober beschloss auch Wael auszuwandern. „Es gab einen Austausch
darüber, dass es einen neuen Weg gibt“, erzählt er. „Ich habe Bekannte, d…
(in Belarus) angekommen sind. (Der Weg war) beschwerlich, aber sie sind
angekommen. Also habe ich mir hier und da Geld geliehen und die
Entscheidung getroffen zu gehen.“
Zurück nach Syrien zu ziehen, war keine Option. „Das ist das Problem der
Syrer: Sie müssen ins Militär, wissen nicht, wohin, wie lange, es ist
Krieg. Natürlich ist es nicht möglich zurückzukehren. Erstens aufgrund der
Zukunft der Kinder. Zweitens, wenn ich zurückkehre, wo ist meine Zukunft?
Und gleichzeitig ist die Situation dort wie hier: Die wirtschaftliche Lage
ist sehr schlecht und wir finden keine Arbeit.“ Wer vor dem Krieg geflohen
ist und nun zurückkehrt, wird vom Assad-Regime als Opposition gesehen und
verfolgt, misshandelt oder gefoltert. [3][Amnesty International
dokumentierte] kürzlich zahlreiche Fälle von Folter und Missbrauch von
Rückgekehrten.
Weil er ursprünglich über Belarus nach Deutschland migrieren wollte, hat
Wael seine Frau und Kinder nach Syrien geschickt. Sie haben kleinere Dinge
wie die Küchenutensilien mitgenommen. Den Rest wie Tische und Stühle,
möchte er zurücklassen, sie seien nicht teuer gewesen. Die drei leben bei
den Großeltern und warten darauf, dass Wael nach Deutschland gelangt und
die Familie nachholt.
Doch Mitte November stoppte das belarussische Konsulat in Beirut den
Visumsprozess. Bis dahin kümmerte sich das Konsulat in Beirut für 1.500
US-Dollar um ein Einladungsschreiben, die Versicherung sowie ein Taxi vom
Flughafen zum Hotel in Minsk. 120 Euro kostete das eigentliche
Tourismus-Visum, Flug und PCR Test mussten selbst organisiert werden.
## Nächster Plan: Russland
Sein Tourismus-Visum für Belarus hat Wael gar nicht erst bekommen – denn
zunächst musste er die Erneuerung seines Reisepasses veranlassen. 850
US-Dollar hat er dafür bezahlt. Nicht nur lassen sich die syrischen
Behörden Zeit mit der Ausstellung, es braucht auch Kontakte, um den Antrag
durchzubringen. Zeit und Geld haben nicht gereicht, um nach Belarus zu
kommen. Nun sitzt Wael noch immer in Beirut, seine Familie aber in
Damaskus.
Die Reise über das Mittelmeer anzutreten, beispielsweise von Libanons
nördlicher Küste aus nach Zypern, ist ihm zu unsicher. Sie dauere ihm mit
knapp zwei Monaten zu lange und es gebe viele Probleme, wie überfüllte
Boote, erzählt er.
Sein nächster Plan ist, an ein Visum für Russland zu gelangen. Mit neun
Freunden, die auch emigrieren wollen, tauscht Wael sich über Whatsapp aus.
In Gruppen auf Facebook gibt es viele Annoncen von privaten Personen oder
Reisebüros, die Visa ausstellen.
Für circa 3.000 bis 4.000 US-Dollar kümmern sich die Agenturen um alle
Formalitäten, inklusive Flugtickets. Über Freunde hat sich Wael ein Büro
ausgesucht, dem er vertraut. Noch hat er das Geld nicht zusammen. Wann er
seine Frau und Kinder wiedersehen wird, ist ungewiss.
15 Dec 2021
## LINKS
[1] /Arabische-Gaspipeline/!5819391
[2] https://news.gallup.com/poll/357743/leaving-lebanon-crisis-people-looking-e…
[3] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/09/syria-former-refugees-tortur…
## AUTOREN
Julia Neumann
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