# taz.de -- Marketing in der Parfumindustrie: Natürlich synthetisch | |
> Neue Düfte entstehen heute im Labor. Viele Landwirte in Grasse geben auf, | |
> Rosen oder Jasmin anzubauen, doch eine Landwirtin stemmt sich dagegen. | |
GRASSE taz | Carole Biancalana muss sie überzeugen. Es ist der World | |
Perfumery Congress 2007 und alles, was Rang und Nase hat, ist hier im Saal | |
versammelt und schaut zu ihr hoch auf die Bühne. Biancalanas Botschaft ist | |
klar: Ihr müsst uns retten. | |
Die Konferenz findet in einem Kongressgebäude direkt an der Mittelmeerküste | |
von Cannes statt, einige Tage zuvor wurde an gleicher Stelle die Goldene | |
Palme des berühmten Filmfestivals verliehen. Carole Biancalana braucht von | |
hier mit dem Auto nur eine halbe Stunde zu ihren Feldern, die nahe der | |
Stadt Grasse in den Voralpen liegen. In Grasse lebten früher viele Menschen | |
vom Anbau von Parfumpflanzen. Doch immer mehr geben den Beruf auf. Zu | |
unsicher, zu wenig rentabel. | |
Chefs von Unternehmen wie Estée Lauder sprechen auf dem Kongress über den | |
Zustand der Branche. Und Biancalana, die Landwirtin. Sie provoziert die | |
Unternehmen, so erinnern sie und andere Teilnehmer den Kongress: „Unsere | |
Tradition wird sterben, wenn ihr nichts tut“, soll sie gesagt haben. „Uns | |
zu retten ist eure Pflicht.“ | |
Wenn sich nichts tue, muss auch sie den Familienbetrieb aufgeben, fürchtet | |
Biancalana. Parfumpflanzen-Landwirte würde es in Grasse bald nicht mehr | |
geben. Mit ihnen würden die letzten Fabriken sterben, die den Blüten ihren | |
Duft entziehen können. Bis schließlich nichts mehr wäre von der | |
jahrhundertealten Parfumtradition von Grasse – der Stadt, die mal als | |
Welthauptstadt der Düfte bekannt war. | |
Seitdem hat sich tatsächlich viel getan. Carole Biancalana ist auch 2021 | |
noch Landwirtin, doch unter deutlich verbesserten Bedingungen. Sie kämpft | |
immer noch darum, die Parfumpflanzen-Landwirtschaft zu sichern. Doch rettet | |
sie wirklich die Tradition der Parfümerie von Grasse? Oder ist sie nur die | |
perfekte Vorzeigefigur für das Marketing einer Milliardenindustrie? | |
## Auf den Feldern ihrer Großeltern | |
Seit vier Generationen baut Biancalanas Familie Parfumpflanzen an. Erst in | |
Italien, dann zogen ihre Großeltern in das Umland von Grasse. Hier lebt die | |
49-Jährige auch heute, mit ihrer Tochter, ihren Eltern und sechs Katzen in | |
einem orangefarbenen Haus aus dem 18. Jahrhundert. Ein Bus fährt hier nur | |
alle paar Stunden die Serpentinen hinab, vorbei an großen Gärten, Dörfern | |
mit beigen Häusern, Mauern aus Natursteinen und ein paar Feldern. | |
Carole Biancalana fährt mit dem Auto auf ihr Grundstück, durch das | |
Metalltor, an dem schon Anfang Dezember silberne, goldene und rote | |
Schleifen befestigt sind. Sie steigt aus, zieht den schwarzen Poncho enger | |
um sich und streicht sich eine Strähne ihrer blond gefärbten Haare aus dem | |
Gesicht. Unter dem Poncho trägt sie eine weiße Bluse und ein Halstuch. | |
„Normalerweise sehe ich anders aus“, sagt sie, „Da bin ich ungeschminkt u… | |
habe Gummistiefel an.“ | |
Sie hat nicht viel Zeit, vor ihr liege ein Meeting-Marathon, sagt sie. Für | |
das Gespräch nimmt sich Biancalana genau 75 Minuten. Wir setzen uns vor die | |
Garagen an einen Tisch, von dem wir in die Felder und die Voralpen sehen | |
können. | |
Hier am Hang bauen sie und ihr Vater Parfumpflanzen an: Rosen, Jasmin und | |
Nachthyazinthen. Die Kälte hat die Blätter der Rosenbüsche grün-gelb | |
verfärbt. Die Felder sind nur etwa vier Hektar groß, so wie sechs | |
Fußballfelder. Wenn die Blumen blühen, bleiben wenige Wochen, um sie zu | |
pflücken – per Hand. Für diese Zeit kommen Hilfskräfte, Biancalana und ihr | |
Vater würden die Ernte nicht alleine schaffen. | |
Carole Biancalana half schon als Kind bei der Jasminernte. Doch Landwirtin | |
wollte sie nie werden. Weil ihr das so wichtig ist, wiederholt sie es: „Ich | |
wollte nicht! Ich wollte ein gesichertes Einkommen.“ | |
## Weg von den Feldern, weg von der Unsicherheit | |
Also studierte sie, fand Arbeit in einer Bank – und war unglücklich: „Ich | |
habe die Arbeit im Büro gehasst, ich habe die Kunden gehasst, ich habe | |
meinen Chef gehasst. Und dann fuhr ich zum Mittagessen zu meinen Eltern und | |
hatte den Blick auf die Felder und Berge. Jeden Morgen bin ich aufgewacht | |
und habe mich gefragt: Scheiße, was mache ich hier?“ | |
Als ihr Vater Ende der 90er Jahre überlegte, was mit den Feldern nach | |
seiner Rente passieren würde, tat ihr die Vorstellung weh: „Das, woran | |
meine Großeltern und meine Eltern gearbeitet hatten, geben wir einfach | |
auf?“ Ihr Vater warnte sie: Wenn ihre Freundinnen und Freunde an den Strand | |
gehen, müsse sie auf den Feldern arbeiten, acht, neun, zehn Stunden am Tag. | |
Das sei eine Entscheidung fürs ganze Leben. | |
Sie wollte trotzdem. | |
Carole Biancalana kritisiert ihren Vater nie, aber betont, dass sie alles | |
anders machen wollte: „Ich habe mir gesagt: Ich werde mir nicht auf den | |
Füßen rumtrampeln lassen.“ Ende der 90er gab es kaum noch Landwirte, die in | |
der Region Parfumpflanzen anbauten, nicht einmal mehr zehn, sagt sie. „Es | |
war die Chronik eines angekündigten Todes.“ | |
## Die stinkende Welthauptstadt des Parfums | |
Früher bauten mehrere Tausend Landwirte rund um Grasse Parfumpflanzen an. | |
„Das gelobte Land der Parfümeure“, so beschreibt Patrick Süskind die | |
Kleinstadt in seinem Roman „Das Parfum“. | |
Das mittelalterliche Grasse schimmert heute noch durch, trotz der | |
Baugerüste und der Touristenläden: Rechte Winkel haben die Straßen nicht, | |
sie wirken, als hätte man einen Teller Spaghetti auf eine Landkarte | |
geschüttet. Manche Gassen sind nur einen Meter breit, manche führen durch | |
Gebäude hindurch. Über dreißig Treppen führen in die Altstadt. | |
Hier, wo die Menschen auch noch bei zehn Grad draußen Mittag essen, haben | |
früher Gerber ihre Felle ausgewaschen. Es muss gestunken haben, nach | |
vergorener Haut, Fett und abgeschabten Haaren, die durch die engen Gassen | |
schwammen. Um den Gestank zu überdecken, parfümierten die Gerber das Leder. | |
Besonders duftende Handschuhe waren beliebt, die Händler von Grasse | |
lieferten sie im 17. Jahrhundert bis an den französischen Hof. | |
Parfum war Luxus und wer Parfümeur werden wollte, kam nach Grasse. In der | |
Parfumhauptstadt der Welt konnten sie lernen, wie man den Duft der Blumen | |
gewinnt: Sie wendeten die Blüten in warmem Fett, dampften sie aus oder | |
drückten sie in Siebe mit Schweinefett. Dafür müssen die Blumen frisch | |
sein. Immer mehr Landwirte pflanzten an den Hängen der Voralpen Rosen, | |
Orangen, Jasmin oder Nachthyazinthen an. | |
Mit der Industrialisierung entstanden Fabriken am Stadtrand. Die Frauen | |
sammelten vor Sonnenaufgang die Blüten auf den Feldern, die Männer | |
verarbeiteten sie in den Fabriken. Immer mehr Menschen konnten sich Parfum | |
leisten. Und der Bedarf wuchs weiter. | |
Die Ernte von Jasmin oder Rosen ist noch heute Handarbeit. Wie schon ihre | |
Großeltern sammelt Carole Biancalana mit ihren Helfern wochenlang kiloweise | |
Blüten ein. Etwa 20.000 Rosenpflanzen wachsen auf ihren Feldern. Doch aus | |
700 Kilo Rosenblüten entsteht nur ein Kilo Rosenextrakt. Die Helfer | |
müssen bezahlt werden, Ernten können ausfallen – das alles ist teuer. | |
Und dazu kam noch, dass die Unternehmen die Landwirte lange schlecht | |
behandelt haben. „Man bezahlte uns nicht sofort, ließ uns drei oder sechs | |
Monate warten. Oder sagte uns: Dieses Jahr wollen wir keine Blüten von | |
euch“, erinnert sich Biancalanas Vater Hubert, den ich nur an einem anderen | |
Tag auf dem Handy seiner Tochter erreiche. Sie steht neben ihm, während er | |
telefoniert, spricht extra deutlich und sagt ihm, wenn er einen Begriff | |
erklären muss oder eine Frage falsch verstanden hat. | |
## Chemielabor statt Rosenfeld | |
Schon seit dem 19. Jahrhundert entwickelten Chemiker synthetische Stoffe, | |
die den Geruch von natürlichen Düften imitieren. Sie sind meist billiger | |
und immer verfügbar, und so sind die Unternehmen schon lange nicht mehr auf | |
die Parfumbauern angewiesen. Seit den 1970er Jahren gaben immer mehr von | |
ihnen auf. Stattdessen entstanden Labore, viele auch in Grasse, die an | |
synthetischen Duftstoffen forschen. | |
Um zu verstehen, wie Parfums heute hergestellt werden, besuche ich | |
Prodarom, den Verband der französischen Parfumindustrie. Von der Altstadt | |
läuft man eine Viertelstunde auf dem schmaler werdenden Bürgersteig. Durch | |
die Gartenzäune drängen sich die Zweige und Ranken von Pflanzen, die früher | |
die Grundlage für die Parfümerie waren: Jasmin, Passionsfrüchte, Rosen und | |
Orangenbäume. Das Gebäude von Prodarom dagegen sieht aus wie ein Parkhaus. | |
Im Keller sind die Klassenräume der Parfümeur-Schule, die der Verband | |
betreibt. Dort riecht es süßlich, nach künstlichen Bananen. Im Regal stehen | |
hier nicht nur Duftstoffe, sondern Chips, Gummibärchen, Sirup, Schokoriegel | |
– Duftstoffe braucht man nicht nur für Parfums, sondern auch für | |
Nahrungsmittel. | |
In einem der Labore lernen zwei Schüler, die Inhaltsstoffe einer | |
Flüssigkeit zu analysieren, die nach Vanille riecht. Dafür üben sie, mit | |
der Pipette nur einen kleinen Fleck Wasser auf Küchenpapier zu tröpfeln. | |
Hier sieht es tatsächlich so aus, wie man sich ein Labor vorstellt: Eine | |
dunkle Flüssigkeit blubbert in einem Destillierkolben, an der Tafel hat die | |
Chemielehrerin Formeln mit Wasserstoffteilchen angezeichnet. | |
Im Raum nebenan reihen sich ein paar Hundert nagellackgroße Fläschchen. | |
Links die braunglasigen mit natürlichen Stoffen, daneben die Abteilung mit | |
den durchsichtigen Fläschchen der synthetischen Duftstoffe. Sie ist dreimal | |
so groß. | |
Die Arbeit der Parfümeure findet in Laboren wie diesem statt: Sie riechen | |
an Pappstäbchen und mischen mit Pinzetten und Waagen. Doch daran sollen die | |
Kunden beim Kauf von Parfums nicht denken, sagt Alain Ferro, Chemiker und | |
Direktor der Parfümeur-Schule. „Eine Werbung würde nie sagen: Dieses | |
Produkt ist komplett chemisch.“ | |
## Marketing ist nicht alles, aber ohne Marketing ist alles nichts | |
Ihr Image ist essentiell für Luxusmarken, weil sie eben nicht | |
lebensnotwendig sind. Die Hersteller wollen das Bild kontrollieren, das sie | |
vermitteln. Sie zeigen daher offen ihre Skepsis gegenüber der | |
Berichterstattung: „Chanel wird sich bei Ihnen melden, falls ein Besuch von | |
Ihnen für sie von Interesse ist“, sagt mir eine Landwirtin. Ist er nicht. | |
Stattdessen reisen Blogger und [1][Vogue-Journalisten auf Firmenkosten an] | |
und werden in der Erntezeit mit der Limousine zu den Feldern gefahren. | |
Die Marken brauchen die blühenden Rosenfelder, in denen Influencer Fotos | |
für Instagram aufnehmen können. Doch diese Felder drohten zu verschwinden, | |
als Carole Biancalana den Hof von ihrem Vater übernommen hat. | |
Sie wollte die Marken daran erinnern: Ihr braucht uns. Wir erzeugen etwas | |
Außergewöhnliches. Also gründete Biancalana mit einem anderen Landwirt | |
einen Verein: „Fleurs d’Exception du Pays de Grasse“, die außergewöhnli… | |
Blumen von Grasse. Und sie kontaktierte den World Perfumery Congress, das | |
„Davos der Nase“, wie das Time Magazine ihn beschrieb. | |
Mehr als den Namen hatte der Verein von Biancalana nicht, keine weiteren | |
Mitglieder, nicht mal eine Satzung. „Même pas peur“, sagt sie und lacht. | |
„Das heißt: Man muss schon ein bisschen verrückt sein zu glauben, dass man | |
zu zweit die Welt verändern kann.“ | |
Die Marken brauchen Landwirte aus Grasse nicht nur fürs Marketing. Den | |
Rosenduft kann man zwar auch synthetisch herstellen, aus zehn, zwölf | |
Molekülen, erklärt Alain Ferro vom Parfumindustrie-Verband. Aber in echten | |
Blumen sorgen Hunderte oder Tausende Moleküle für einen komplexeren Duft. | |
Und wie beim Wein beeinflussen das Klima, der Boden und die Sorte den | |
Geruch. Blüten aus anderen Regionen riechen anders. | |
Gerade bei klassischen Düften wie N° 5 von Chanel wollen die Marken eine | |
Kontinuität des Geruchs bewahren. Dafür brauchen sie die gleichen Zutaten | |
wie früher. Das sind meist der Jasmin und die Rosen aus Grasse. | |
Der Vortrag von Biancalana kam zu einem günstigen Zeitpunkt. Seit den | |
2000er Jahren lehnen immer mehr Kunden synthetische Produkte ab und | |
wollten natürliche Inhaltsstoffe. Die Marken mussten ihr Image erneuern. | |
Aber wie? | |
## Immer der Nase nach | |
Ein Anruf bei François Demachy. Er ist verantwortlich dafür, dass sich Dior | |
neu aufstellte und auf die Landwirte von Grasse zuging. | |
2006, ein Jahr vor Carole Biancalanas Vortrag, wurde Demachy Parfümeur bei | |
Dior. Er wurde die „Nase“ der Marke, entwarf die erfolgreichsten Parfums | |
der Marke, wie „J’adore“ und „Sauvage“. Zwar kann sich jeder Parfüme… | |
nennen. Aber „Nasen“ gibt es nur wenige. Jahrelang trainieren sie, um | |
mehrere Tausend Düfte zu unterscheiden, Harmonien zu erzeugen und neue | |
Parfums zu kreieren. Diesen Luxus leisten sich nur wenige Marken, Demachy | |
zählt nur vier, fünf andere auf. | |
Die meisten Marken produzieren ihre synthetischen Duftstoffe für ihre | |
Parfums nicht selbst, sondern beziehen sie von großen industriellen | |
Herstellern. Deren Namen kennt man nicht, auch wenn sie Milliardenumsätze | |
machen. Sie stellen den Duft für Shampoos, Fertigkuchen oder Badreiniger | |
her – oder eben Parfums. So war es bis 2006 auch bei Dior. | |
François Demachy erzählt, er habe sich als Nase von Dior sofort um die | |
Inhaltsstoffe gekümmert: „Das ist wie bei einem Koch, der braucht gute | |
Zutaten.“ Die synthetischen Stoffe seien die „Booster“, sie würden aber … | |
so riechen wie die natürlichen Duftstoffe. Doch die natürlichen Zutaten, | |
gerade die Blumen aus Grasse, sind teuer: Sie kosteten fünf- bis zwanzigmal | |
so viel wie Blumen aus anderen Anbauregionen. Demachy sagt, die | |
industriellen Duftstoffhersteller könnten sich das nicht leisten. | |
Nach der Konferenz 2007 kam François Demachy auf Carole Biancalana zu. Er | |
kannte ihren Namen, er war in Grasse aufgewachsen. Als Jugendlicher fuhr er | |
immer auf dem Weg zum Tanzen durch Jasminfelder, erzählt er in der [2][von | |
seinem Arbeitgeber Dior produzierten Dokumentation „Nase“]. Später jobbte | |
er in einer Parfumfabrik und arbeitete als Parfümeur bei Chanel. | |
Demachy sagte Biancalana, er sei beeindruckt von ihrem Vortrag. Überzeugt | |
habe ihn vor allem, dass sie einen anderen Beruf hatte und zum Blumenanbau | |
zurückgekehrt ist: „Das heißt, sie hat das Für und Wider abgewogen, glaubt | |
daran und wird alles dafür tun, dass es klappt.“ | |
Kurz nach der Konferenz besuchte François Demachy bei einer Führung | |
Biancalanas Felder, ohne zu offenbaren, dass er für Dior arbeitete. Er | |
wollte sicher sein, denn sie war die erste Landwirtin, mit der er arbeiten | |
wollte. | |
Dafür musste noch Claude Martinez, der Präsident von der Parfumabteilung | |
von Dior zustimmen. Demachy brachte ihn zum Hof von Biancalana und nach | |
nicht mal einer Stunde war Martinez überzeugt. „Er war verzaubert von der | |
Persönlichkeit von Carole. Sie war auch sehr schön, blond“, erzählt Demachy | |
und lacht. | |
2008 unterzeichneten sie den Vertrag: Dior würde fünf Jahre lang die Ernte | |
von Biancalana abkaufen. Planungssicherheit, für Investitionen, für die | |
Bank, für sie. „Ich wusste, das ist der Anfang“, sagt sie heute. | |
## Das war der Anfang | |
Der Vertrag war ein Vorbild. Immer mehr Landwirte schlossen | |
Langzeitverträge mit Dior und anderen Herstellern. Und immer mehr Landwirte | |
traten „Fleurs d’Exception du Pays de Grasse“ bei, mittlerweile hat der | |
Verein mehr als 30 Mitglieder. Sie begleiten neue Landwirte, die sich in | |
der Region ansiedeln, zum Beispiel Vanessa Aubert. | |
Aubert hatte zuvor in Hotels gearbeitet und war wie Carole Biancalana | |
unglücklich im Beruf. Sie machte eine Ausbildung zur Landwirtin und kam im | |
ersten Praktikum zu Biancalana: „Als ich die Jasminfelder gesehen habe, war | |
es Liebe auf den ersten Blick. Man macht die Autotür auf und sofort strömt | |
der Duft rein.“ | |
Das war vor vier Jahren. Seitdem hilft Vanessa jedes Jahr bei der Ernte. | |
Später kam auch ihr Mann dazu. Sie erzählt, wie „gebildet“ die Nase von | |
Biancalana sei: „Ich rieche beim Jasmin schon die Bananen- und Mandelnoten. | |
Aber so viel wie Carole noch nicht.“ | |
Vanessa Aubert und ihr Mann fanden ein Hektar Land, Carole Biancalana kam | |
mit und prüfte, ob es sich für den Jasminanbau eignete und genug vor Frost | |
geschützt war. | |
Sie zeigte den neuen Landwirten auch, wie weit auseinander sie die | |
Jasminpflanzen setzen müssen, damit der Traktor durchkommt. Über die Bank, | |
bei der alle aus dem Verein sind, bekamen die Auberts ohne Probleme einen | |
Kredit. Biancalana gab ihnen Tipps, unter welchem Preis sie nicht verkaufen | |
sollten, „um keine illoyale Konkurrenz zu erzeugen“. Dieses Jahr bauten | |
Aubert und ihr Mann das erste Mal selbst Jasmin an. Der Vertrag mit Dior | |
ist schon sicher. | |
„Bei uns Alten machte jeder seinen Kram, dachte nur an seinen Hof“, sagt | |
Hubert Biancalana. Von der Idee seiner Tochter, einen Verein zu gründen, | |
ist er bis heute begeistert. | |
Sie mussten sich aber anpassen an die neue Arbeitsweise. Dazu gehört nicht | |
nur die Arbeit auf dem Feld, sondern auch Werbung für die Marke: In dem | |
Dokumentationsfilm „Nase“ sieht man, wie François Demachy zusammen mit dem | |
Model Eva Herzigová die Rosenfelder besucht. | |
Sie setzt ihre Sonnenbrille nicht ab, sagt nur „Wow“. Carole Biancalana und | |
Demachy erklären, wie man Rosen veredelt und erzählen vom Niedergang der | |
Landwirtschaft. Herzigová unterbricht, sagt „Aber das ist doch einfach, das | |
kann ich doch jetzt auch machen“ und lacht. Peinliche Stille. | |
Es sei lustig für sie und ihren Vater, sagt Biancalana: „Mein Vater erzählt | |
das dann stolz im Dorf. Auch wenn er die Namen der Stars meist nicht | |
aussprechen kann.“ | |
Dior flog Carole Biancalana nach Singapur und Dubai, wo sie von ihrer | |
Arbeit erzählen sollte, vor künstlich nachgebauten Rosenfeldern. Sie passt | |
zum Image, das die Luxusmarken vermitteln wollen: eine elegante Französin, | |
die sich den perfekten Rosen- und Jamsinanbau zur Lebensaufgabe gemacht | |
hat. | |
In einem [3][Making-of-Video] erzählt sie: „Selbst wenn ich den Mist auf | |
den Feldern austrage, parfümiere ich mich.“ Luxusprodukte, die für alle | |
zugänglich sind, Selbstverwirklichung in der Produktionskette – das | |
vermittelt das Video. Dazu nur die besten Zutaten, die Rosen aus Grasse. | |
„Natürliche Inhaltsstoffe“ und „keine Chemikalien“ – so beschrieb Cl… | |
Martinez, der Chef der Parfumabteilung von Dior [4][in einem | |
Welt-Interview], wie er sich die Zukunft der Branche vorstellt. | |
Natürlich verwende er viel mehr synthetische Stoffe als natürliche, sagt | |
François Demachy. Selbst von den natürlichen Zutaten seien die Blüten aus | |
Grasse nur ein winziger Teil. Auf etwa zwölf Hektar wachsen hier Blumen für | |
Dior – für alle Parfums der Marke. | |
## Alles nur Marketing? | |
Auch Demachy stört es, wenn damit geworben werde, dass die Produkte | |
komplett natürlich seien: „Das ist einfach falsch. Das ist ein großer | |
Betrug an den Konsumenten“. Es gebe „offensichtliche Mängel von unserer | |
Seite“ bei der Vermittlung, gibt er zu. | |
Das Problem sehe er besonders bei Marken, die ihr Parfum nicht selbst | |
herstellten. Diese Marken hätten keine Kontrolle über die Inhaltsstoffe: | |
„Die meisten Parfumhäuser, um nicht zu sagen hundert Prozent, werden von | |
Menschen geführt, die keine Ahnung von Parfums haben. Die Qualität der | |
Inhaltsstoffe interessiert sie nicht. Für sie ist nur wichtig, dass sich | |
das Parfum verkauft“, sagt Demachy. | |
Manche Hersteller hätten ihre Parfums mit Rosen aus Grasse beworben, obwohl | |
die gar nicht darin enthalten gewesen seien: „Das hat sie nicht gestört, | |
weil sie es nicht wussten.“ | |
Carole Biancalana ist natürlich überzeugt von der Qualität des echten | |
Blütenduftes: „In einem Parfum sind viele Zutaten, aber die natürlichen | |
Zutaten machten die Exzellenz aus.“ Sie weiß, dass die Marken die | |
Verwendung von synthetischen Stoffen verstecken, das sei eben „nicht so | |
hübsch, nicht so Glamour“. | |
Für Biancalana ist das keine Lüge, sondern der Sinn von Werbung: Sie betont | |
das Herzstück des Produkts, den größten Edelstein im Diadem. Werbung solle | |
„zum Träumen anzuregen“ und die Parfums sollen etwas Magisches sein. | |
Biancalana hat erkannt: Für die Geschichte, die die Marken erzählen wollen, | |
brauchen die Marken sie. Demachy stellt es so dar: „Wir brauchen sie und | |
sie braucht uns.“ | |
Früher arbeitete ganz Grasse im Rhythmus der Ernte auf den Feldern und der | |
Verarbeitung in den Fabriken. Heute scheint es, als sei die ganze Stadt am | |
Marketing beteiligt. Dabei hilft, dass sich die Parfümerie von Grasse seit | |
2018 Weltkulturerbe nennen lassen kann. Der frühere Bürgermeister und | |
Senatsabgeordnete Jean-Pierre Leleux hatte Carole Biancalana gefragt, ob | |
sie ihm beim Antrag helfen könne: Sie trug mit ihrem Vater die Geschichte | |
des Parfumanbaus und das Wissen zusammen, wie man die Felder bestellt. | |
In einem siebenseitigen Brief an das Unesco-Komitee schrieb Leleux dann: | |
„Ich erinnere mich noch gut an die Zeiten, in denen ich fast nackt auf dem | |
Bett lag, um einzuschlafen. Ich atmete tief ein und füllte meine Nase und | |
meine Lungen mit dieser warmen, mit wohlriechenden Düften gefüllten Luft.“ | |
Der Antrag hatte Erfolg. | |
Spätestens damit ist Grasse eine Marke geworden, mit der sich die | |
Unternehmen schmücken: Sie drehen Werbevideos auf den Feldern, alle großen | |
Parfumindustrie-Unternehmen versuchen, ihre Verbindung mit der Stadt zu | |
betonen. | |
Anfang Dezember, im Museum der Parfümerie, erzählt eine Historikerin aus | |
Paris, wie sich die Parfümeure am Orient inspiriert haben. Sie zeigt | |
Bilder, die zum Träumen anregen sollen: Karawanen, Gewürze und Gemälde von | |
Frauen im Harem. Biancalana ist mit einer Freundin gekommen. Sie holt aus | |
ihrer Handtasche kleine Fläschchen mit Parfum raus, in der Größe von | |
Impfstoffbehältern. Sie sind nicht zum Auftragen da, sondern zum Riechen. | |
Der Bürgermeister kommt zehn Minuten zu spät, grüßt Bekannte mit der | |
Coronafaust, bevor er auf die Bühne geht. Dort dankt er dem Museum und | |
begrüßt Biancalana persönlich. | |
Die Parfümerie in Grasse und Biancalanas Platz darin sind gesichert. Ihre | |
Tochter arbeitet zwar noch nicht in der Landwirtschaft, aber für Biancalana | |
ist klar: Sie wird den Betrieb übernehmen. Die Geschichte der Rosenfelder | |
wird also weitergehen. Und damit die Lüge der Parfumindustrie von den | |
natürlichen Parfums? | |
Die Marken nutzen das Vorurteil gegenüber Chemie aus. Synthetische Stoffe | |
sind nicht schlechter als natürliche. Das stimmt. | |
Aber trotzdem: Wer ist nicht berührt von dem Geruch von Rosen, von der | |
Fülle der Blüten, gerade von dem nicht Notwendigen, dem Überfluss? Wenn die | |
Bewahrung der Felder auf einer Lüge beruht, ist es das nicht wert? | |
Rebecca Ricker ist Praktikantin der taz am wochenende. Bei der Recherche | |
hat sie gelernt, dass wir unseren Geruchssinn massiv unterschätzen: Wir | |
können sogar riechen, ob in unserem Wein eine Fruchtfliege verendet ist. | |
30 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.vogue.de/beauty/artikel/dior-grasse-rosenernte | |
[2] https://www.dior.com/de_de/dufte/den-film-nose-entdecken | |
[3] https://www.dior.com/de_de/products/beauty-Y0326210-miss-dior-blooming-bouq… | |
[4] https://www.welt.de/icon/article155257561/Eine-Marke-wie-unsere-muss-ein-Zu… | |
## AUTOREN | |
Rebecca Ricker | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Parfum | |
Landwirtschaft | |
Schwerpunkt Frankreich | |
GNS | |
Marketing | |
Zukunft | |
Parfum | |
Parfum | |
Parfum | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wie sich der Körpergeruch verändert: Moschus, Käse und Urin | |
Aus duftenden Babys werden muffige Teenager. Eine deutsche Studie hat nun | |
untersucht, welche chemischen Verbindungen dafür verantwortlich sind. | |
Parfum selbst herstellen: Bin ich blumig oder holzig-grün? | |
Lange hat unsere Autorin kein Parfum gefunden, das zu ihr passt. Also | |
begibt sie sich auf eine „Duftreise“ in einer hippen Berliner Manufaktur. | |
Allergien gegen Duftstoffe: Flüchtige Gefahr | |
Duftstoffe sind Chemikalien und werden gesetzlich geregelt. Man bekommt sie | |
damit aber nicht so recht zu packen. Für Allergiker ist das ein Problem. | |
Wie Menschen riechen: Parfümiert Euch! | |
Muss man Körpergeruch aushalten wie Schamhaare? Nein! Parfum ist schon in | |
der Weihnachtsgeschichte ein Geschenk des Himmels. |