# taz.de -- Gedenken an Opfer des NS-Terrors: Verstolperte Erinnerung | |
> Joanne Herzberg möchte für ihre ermordeten Verwandten in Detmold | |
> Stolpersteine setzen lassen. Und damit beginnt ein Problem. | |
Am Ende sitzt Joanne Herzberg gekrümmt auf ihrem Seniorenroller in der | |
kleinen Gasse in der Detmolder Innenstadt. Sie zündet sich eine Zigarette | |
an. Ihr Blick ruht auf den fünf kupferfarbenen Steinen vor ihr im Boden. | |
Darauf geschrieben die Namen. Ihrer Urgroßmutter. Ihrer Großeltern. Ihrer | |
Tante. Ihres Vaters. Im Zweiten Weltkrieg aus Detmold deportiert und in | |
Auschwitz und Theresienstadt ermordet. Nur der Vater konnte gerade noch | |
rechtzeitig emigrieren. | |
Vor ein paar Minuten wurde entschieden, wofür Joanne Herzberg mehr als drei | |
Jahre gekämpft hat. Sie könnte erleichtert sein, glücklich. Doch es ist ein | |
anderes Gefühl, das an ihr zerrt: Wut. Wut auf den Kampf, der hinter ihr | |
liegt. Wut auf diesen einen Satz, wegen dem sie fast aufgegeben hätte. Und | |
darauf, dass es eigentlich noch gar nicht das Ende ist. | |
Ein Jahr zuvor. Joanne Herzberg, 60, eine kleine gebeugte Frau mit runder | |
Brille und weichem Lächeln, sitzt am Esstisch ihrer Detmolder Wohnung. Sie | |
drückt ihre Zigarette aus, dann hievt sie stöhnend die schwere Box voller | |
Akten auf den Tisch. Ihr Rücken schmerzt von den Schrauben, die ihre Wirbel | |
zusammenhalten. „Nichts im Vergleich zu dem, was ich emotional durchgemacht | |
habe“, sagt sie. Jeden Brief, jede Notiz, jeden Bescheid hat sie | |
aufbewahrt, als müsse sie sich mit den Papieren selbst beweisen, welcher | |
Kampf hinter ihr liegt. | |
## Der Antrag und die besonderen Regeln | |
Am 6. März 2018 stellt Herzberg einen Antrag bei der Stadt [1][Detmold]. | |
Betreff: Verlegung von Stolpersteinen. Kurze Zeit später antwortet die | |
Stadt mit einem Brief. Einem Beschlusspapier von 2011. Darauf die | |
Voraussetzungen, die Herzberg erfüllen muss, um Stolpersteine für ihre | |
Familie verlegen lassen zu dürfen. Herzberg kramt den Beschluss aus einem | |
Ordner hervor. Er sieht aus wie eine abgearbeitete To-do-Liste: hinter | |
jedem Spiegelstrich ein Häkchen in blauer Tinte. | |
Einige der sechs Regeln entsprechen denen in anderen Städten. Die | |
Genehmigung des Stadtarchivs. Das Einverständnis weiterer Nachfahren. Viel | |
ist von ihrer Familie nicht übrig. Ihr Bruder, seine Kinder. Dass die | |
Steine selbst bezahlt werden müssen. 120 Euro pro Stein. Doch eine Regel | |
ist in Detmold anders. Herzberg zeigt auf den vierten Punkt auf dem | |
Beschlusspapier. Sie zittert. Dort heißt es: „Die Eigentümer von möglichen | |
Standorten individuellen Gedenkens werden bei der Vorbereitung und | |
Realisierung mit einbezogen und geben ihre Zustimmung.“ | |
Übersetzt bedeutet das: Joanne Herzberg muss den Besitzer des Hauses um | |
Erlaubnis bitten, um Stolpersteine davor legen zu lassen. In der Lange | |
Straße 71, der einzigen Einkaufsstraße Detmolds, wo früher das Haus ihrer | |
Familie stand, steht jetzt ein Neubau, darin ein Schuhgeschäft. Der | |
Besitzer heißt Horst Mengedoht. Während des Zweiten Weltkriegs war er noch | |
ein Kind. | |
Joanne Herzberg schreibt Mengedoht am 12. Juli 2018 einen Brief, der wie | |
alle weiteren Briefe der taz vorliegt. Sie erzählt darin von ihrem Wunsch. | |
Mengedoht antwortet, bittet um ein persönliches Gespräch in seinem Laden. | |
Am 21. Juli treffen die beiden sich in der Herrenabteilung seines | |
Schuhladens. Herzberg erzählt Mengedoht die Geschichte ihrer Familie. Sie | |
zeigt ihm die Stelle, an die sie die Steine legen lassen möchte. Direkt | |
unter die Hausnummer, der 71. | |
Am nächsten Tag schickt sie ihm wieder einen Brief. Sie schreibt: „Ich | |
möchte Ihnen sehr danken. Es hat mich gefreut, dass Sie die Stolpersteine | |
meiner Familie unterstützen. Es ist bedeutungsvoll für mich. Wenn Sie einen | |
freien Moment haben, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie Ihre Zustimmung | |
dazu kurz schriftlich bestätigen würden.“ Herzberg braucht sein | |
Einverständnis. Doch sie wird diese Zustimmung von Horst Mengedoht nie | |
bekommen. | |
Herzberg steht mühsam auf, wärmt ihren Kaffee in der Mikrowelle auf. Danach | |
saugt sie mit einem Handstaubsauger Tabakkrümel vom Tisch. Hinter ihr auf | |
dem großen Plasmafernseher läuft der US-amerikanische Nachrichtensender | |
CNN. | |
## Aus Amerika in die Heimat der Eltern | |
Herzberg wird 1961 in den USA geboren. Beide Eltern sind deutscher | |
Herkunft. Beide Eltern sind jüdisch. Das Verhältnis zu ihrem Vater sei | |
schwierig gewesen, erinnert sie sich. „Er hat nie geredet.“ Nach seinem Tod | |
2008 findet Herzberg Briefe, die ihr Vater auf der Flucht vor den Nazis | |
geschrieben hatte. Sie liest, was er nie erzählen wollte: dass er sich auf | |
einen der Kindertransporte nach England schmuggelte, obwohl er eigentlich | |
zu alt dafür war. Dass er in England Arbeit suchte, um das Geld seinen | |
Eltern zu schicken, damit sie nachkommen könnten. Dass er in der britischen | |
Armee war, als der Brief kam, dass seine Eltern ermordet wurden. Dass er | |
sich Vorwürfe machte. Dass er seinen Namen von Fritz zu Fred änderte, aus | |
Angst, als Deutscher erkannt zu werden. Dass er von England nach Afrika und | |
dann in die USA emigrierte. Dass er dort Herzbergs Mutter kennenlernte und | |
heiratete. Dass er mit den Schuldgefühlen, als einziger überlebt zu haben, | |
kaum leben konnte. | |
2009, ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, stirbt Herzbergs Mutter. Sie | |
pflegt sie bis zum Schluss. Sieben Jahre danach ihre Freundin. Zwanzig | |
Jahre sind sie ein Paar gewesen. Herzberg denkt nun oft darüber nach, nach | |
Deutschland zu ziehen. Was würde sie denn noch in Amerika halten? Sie sagt: | |
„Meine Eltern sind deutsch. Mein Denken ist deutsch. Mein Lieblingsessen | |
ist deutsch. Die Kultur bekommt man aus mir nicht heraus.“ | |
Als Donald Trump zur Präsidentschaftswahl antritt, entscheidet Herzberg | |
endgültig zu gehen. „Ich bin lesbisch. Ich bin jüdisch.“ Mit Trump als | |
Präsident sei Amerika keine Option mehr für sie gewesen. Im selben Jahr | |
zieht sie nach Detmold. „Ich bin glücklicher, seit ich in Deutschland bin“, | |
sagt sie. Ihre Wohnung liegt nur 900 Meter vom letzten Wohnort ihrer | |
Familie entfernt. | |
Herzberg hat fast alles für die Verlegung der Stolpersteine | |
zusammengesammelt. Einen Haufen Papiere. Das Geld. Ihr Bruder legt mit ihr | |
zusammen. Ihre beste Freundin hilft ihr beim Schreiben und Übersetzen. | |
Herzberg spricht kaum Deutsch. „Ohne Helga hätte ich das niemals | |
geschafft.“ Nur ein blauer Haken fehlt am Rande der Liste. Die Genehmigung | |
des Eigentümers. Sie wartet ein halbes Jahr. Aber keine Antwort von | |
Mengedoht. | |
Dann wendet sie sich an den damaligen Bürgermeister, bittet um Hilfe. Die | |
beiden kennen sich. Herzberg engagiert sich in der Stadt, sitzt in | |
verschiedenen Gesellschaften, spricht regelmäßig in Schulen über die | |
Nazi-Vergangenheit. Herzberg ist beliebt in Detmold. Fährt sie mit ihrem | |
dreirädrigen Seniorenroller durch die Stadt, bleibt sie ständig stehen. Um | |
zu rauchen, um zu plaudern oder um eine Nachricht auf ihrem Handy zu | |
beantworten. Dann entschuldigt sie sich. Ein Nachbar wolle mal wieder. Eine | |
Freundin habe gefragt. | |
Herzberg erzählt, sie sei seitdem oft angesprochen worden. Von Menschen in | |
Detmold, die von ihren Steinen gehört haben und nun auch Stolpersteine | |
verlegen lassen wollen. Für jüdische Familien, die keine Angehörigen mehr | |
haben. Ob Herzberg helfen könne. Aber Herzberg habe jedes Mal abgelehnt. | |
Sie könne das nicht nochmal, sagt sie. „Erst muss diese Regel weg. Sie ist | |
ein Schlag ins Gesicht eines jeden Juden in Deutschland.“ | |
## Hauptsache Konsens | |
Nur 250 Meter von der Lange Straße 71 entfernt steht das Detmolder Rathaus. | |
Dort saß 16 Jahre lang [2][Rainer Heller]. Heller, eckige Brille, | |
Halbglatze, war bis November 2020 Bürgermeister. Er formulierte 2011 die | |
Regeln für die Stolpersteine mit. Bis heute findet er die Regeln für die | |
Stolpersteine gut. Auch das Einverständnis der Anwohner. Man müsse die | |
Bürger zusammenbringen, sagt Heller und klingt dabei wie ein | |
Kommunalpolitiker, der sich noch an den Ruhestand gewöhnen muss. Es gebe | |
nun einmal unterschiedliche Meinungen über Stolpersteine. Die müsse man | |
hören. Die Sache um die Steine der Familie Herzberg habe sich eben | |
hingezogen. „Wie das halt so ist.“ | |
Detmold, vier Hotels, ein Kino, eine Postfiliale. Im Jahr der | |
NS-Machtübernahme lebten hier etwa 160 Jüdinnen und Juden. Heute sind es, | |
weiß Herzberg, neben ihr noch fünf. Im Jahr 1992 startet der Künstler | |
Gunter Demnig das Projekt der [3][Stolpersteine]. Er will den Holocaust | |
sichtbar machen. Seine Opfer. Ihre Namen. Inzwischen ist es mit 75.000 | |
Steinen das größte dezentrale Mahnmal der Welt. In Detmold erinnert noch | |
kein Stein an verfolgte Juden. | |
Horst Mengedoht ist ein stolzer Unternehmer, erzählt gerne Anekdoten seines | |
Erfolgs. Dass Frank-Walter Steinmeier seine Konfirmationsschuhe bei ihm | |
gekauft habe, zum Beispiel. Fragt man ihn am Telefon nach dem | |
Einverständnis für die Stolpersteine, macht er eine lange Denkpause. Dann | |
wiederholt er mehrfach: Er habe nicht gewusst, dass er hätte zustimmen | |
müssen. Er erinnere sich nicht, mit Frau Herzberg einen Schriftverkehr | |
geführt zu haben. Er sagt, er hätte nicht zustimmen können, selbst wenn er | |
es gewusst hätte. Der Platz in der Lange Straße gehöre ihm nicht. Er gehöre | |
der Stadt. | |
Und es stimmt. Der Platz vor der Hausnummer 71 in der Lange Straße gehört | |
nicht Mengedoht. Er gehört der Stadt. Sie kann hier entscheiden. Künstler | |
Demnig schreibt auf seiner Internetseite, er habe sich genau deswegen gegen | |
Gedenktafeln auf Hauswänden entschieden. Weil es dafür die Genehmigung der | |
Hauseigentümer gebraucht hätte. Weil die Verlegung im Boden hingegen nur | |
die Stadt genehmigen müsse. | |
Herzberg muss weiter kämpfen. Weil auf ihrer Liste ein Punkt nicht abgehakt | |
ist, auf den der Stadtrat besteht, bevor er die Steine genehmigt. Weil | |
Ex-Bürgermeister Heller sucht, was er sich mit dem Beschlusspapier für die | |
Stolpersteine in Detmold versprochen hat: Konsens. Herzberg ist sauer. Sie | |
fühlt sich nicht ernst genommen. Sie sagt: „Mit dieser Regel sagst du zwar | |
nicht, wir wollen keine Steine. Mit dieser Regel sagst du aber, das wird so | |
eh niemand schaffen.“ Aus ihr spricht Wut. Auch auf das, was sie fast | |
täglich erlebt: Antisemitismus. Den Hass auf Juden. | |
Nach einem weiteren halben Jahr findet Heller seinen größten Konsens für | |
die fünf Stolpersteine in einer völlig neuen Adresse: Karlstraße. Eine | |
kleine Seitenstraße, die die Lange Straße kreuzt. Um die Ecke. Keine alte | |
Hausnummer der Familie Herzberg. Nur ein Parkhaus und ein Fitnesscenter. Ab | |
und zu gehen ein paar Menschen durch die Gasse, um zu ihrem Auto zu kommen. | |
Fragt man nach dem Grund für den neuen Ort, sagt Heller, es sei eine | |
Übergangslösung. Es liege an den Bauarbeiten. Die Lange Straße solle bald | |
saniert werden. Herzberg sagt, es sei „just an excuse“. Nur eine Ausrede. | |
Aber Herzberg ist zu müde, um weiter zu streiten. Karlstraße. Bauarbeiten. | |
Übergangslösung. Schließlich stimmt Herzberg zu. „Ich hatte schon so lange | |
gekämpft. Ich habe mein ganzes Leben gekämpft.“ Die beiden treffen eine | |
Vereinbarung, unterschreiben eine Absichtserklärung: „Aufgrund von | |
Bauarbeiten konnten die Stolpersteine nicht verlegt werden, wo sie nach | |
offiziellen Richtlinien des Künstler Gunter Demnig hätten verlegt werden | |
sollen. Nach Verhandlungen kommen beide Parteien zu der Einigung, die | |
Stolpersteine von der Karlstraße in die Lange Straße zu verlegen, sobald | |
die Bauarbeiten abgeschlossen sind.“ Heller sagt heute, es sei weniger um | |
die Baustelle gegangen, mehr um einen Kompromiss. Die Verlegung in die | |
Lange Straße könne er nicht mehr versprechen. Schließlich sitze er jetzt | |
nicht mehr im Rathaus. Aber er sei da guter Dinge. | |
Für Herzberg ist es ein Hohn. „Da gibt es eine Regel, die Juden dazu | |
zwingt, an deutsche Haustüren zu klopfen und um Erlaubnis zu bitten, ein | |
Mahnmal für ihre vergasten Familienmitglieder zu verlegen.“ | |
Im September 2019, eineinhalb Jahre nachdem Herzberg ihren Antrag gestellt | |
hat, stimmt der Stadtrat der Verlegung der Steine zu. Ort: Karlstraße. Aber | |
bis zur Verlegung dauert es nochmal fast ein ganzes Jahr. Schwierigkeiten | |
bei der Terminfindung. Schwierigkeiten in der Kommunikation. | |
Schwierigkeiten wegen Corona. „They didn’t hear me shouting“, sagt | |
Herzberg. Sie haben mich nicht schreien hören. | |
Bis zum Morgen des 23. Juni 2020. Zwei Jahre, drei Monate und sechzehn Tage | |
nachdem Joanne Herzberg ihren Antrag gestellt hat. Die Stolpersteine werden | |
verlegt. Ex-Bürgermeister Heller hält eine kurze Rede. Herzberg kniet vor | |
den Steinen, vollzieht im Beisein ihrer engsten Freunde drei jüdische | |
Rituale. Ihre beste Freundin schafft es nicht mehr zur Zeremonie. Sie | |
stirbt, kurz nachdem die Steine verlegt werden. Krebs. Eine weitere Frau in | |
ihrem Leben, die Herzberg bis in den Tod begleitet. | |
Eine Freundin singt das Lieblingslied ihres Vaters, bevor die Steine in das | |
Kopfsteinpflaster gesetzt werden. Es sind die ersten Stolpersteine, die in | |
Detmold an Jüdinnen und Juden erinnern. Herzberg weint. Vor Glück, vor | |
Freude und vor Erleichterung. Es gibt Fotos von der Zeremonie. Darauf | |
Herzberg. Heller. Und Mengedoht. Heller freut sich, dass Mengedoht kommt. | |
Mengedoht nimmt gerne teil, die Feier sei ihm noch heute in guter | |
Erinnerung. Herzberg macht es wütend. Aber sie blendet es aus. Es soll | |
schließlich ihr Moment sein. Ihr ganzes Leben habe sie gekämpft. Bis heute. | |
Herzberg sitzt wieder auf ihrem Stuhl am Esstisch. Ein Spezialkissen stützt | |
ihren Rücken. Vor ihr hat sie Fotoalben ausgebreitet. Alte Familienfotos, | |
in vergilbter Farbe ihr Vater, ihre Großeltern, ihre Tante. Und das Buch, | |
das über die Familie Herzberg geschrieben wurde. „[4][Lebenslängliche | |
Reise].“ Darin die Briefe des Vaters. Die Fotos, die jetzt vor ihr zwischen | |
Seidenpapier kleben. | |
Herzberg erinnert sich, ihr Vater habe einmal gesagt: „Nazis never come | |
alone. They are always a gang.“ Nie alleine. Immer mit vielen. Sie hätte | |
sich gewünscht, dass es nicht passiert. Und trotzdem ist sie nicht | |
überrascht, als am Morgen des 9. November, Reichspogromnacht, ihr Handy | |
klingelt. Eine Freundin erzählt Herzberg von roter Farbe auf den Steinen. | |
Ein paar Stunden später schrubben Freunde weg, was kaum wegzuschrubben ist. | |
Roter Lack auf den Namen von ermordeten Juden. Es sind die Freunde, die zur | |
Zeremonie gekommen waren. Herzberg ist froh, dass sie ihr helfen. Weil sie | |
mit ihrem kaputten Rücken nicht selber schrubben kann. | |
## Die Wende im Stadtrat | |
Oktober 2021. Joanne Herzberg setzt sich auf einen Platz auf der | |
Zuschauerempore der Stadthalle. Hohe Decken, Holzvertäfelung, rosafarbene | |
Hussen. Herzberg trägt als einzige eine medizinische Maske, obwohl sie | |
nicht muss. „Sorry“, sagt sie, „aber wenn ich Corona kriege, bin ich tot.… | |
Diabetes, Blutdruck, Schmerzmittel. Herzberg nimmt fünfzehn Tabletten am | |
Tag. Risikopatientin. Trotzdem will sie unbedingt dabei sein. Denn heute | |
wird in der Stadtratssitzung über das entschieden, was in den Erzählungen | |
auseinandergeht. Über den Konsens von Heller. Über das Missverständnis von | |
Mengedoht. Über den Kampf von Herzberg. Tagesordnungspunkt 6: Verlegung von | |
Stolpersteinen. 6.1: Antrag auf Anpassung des Ratsbeschlusses vom | |
31.03.2011. | |
Es ist das erste Mal, dass der Stadtrat über den Beschluss redet. Der neue | |
Bürgermeister [5][Frank Hilker] beschreibt den Beschluss als einen „relativ | |
schwierigen Sachverhalt“. Er erzählt von den Stolpersteinen der Familie | |
Herzberg. Von dem Streit. Er redet sieben Minuten. Er sagt, es sei ein | |
Problem aufgetreten. Ein Manko. Und am Ende macht er einen Vorschlag. Ein | |
Halbsatz soll geändert werden. Wo im Beschluss von 2011 steht, die | |
Eigentümer „geben ihre Zustimmung“, soll es ab sofort heißen: „ihnen wi… | |
Gelegenheit zur Stellungnahme im Rahmen einer sechswöchigen Frist gegeben.“ | |
Der neue Bürgermeister sagt, eine Stellungnahme sei keine Voraussetzung | |
mehr zur Zustimmung. Abstimmung. Die Protokollantin schreibt das Ergebnis | |
nieder: Dem Antrag wird einstimmig zugestimmt, bei einer Enthaltung. | |
Ratsherr Baidin. AfD. Herzberg hat gewonnen. Die Regeln werden geändert. | |
„Is it over?“, vergewissert sie sich. Dann realisiert sie es. „Yes, I did | |
it“, sagt sie leise. „I fucking did it.“ | |
Einen Kampf hat sie heute gewonnen. Ein anderer steht ihr noch bevor. Noch | |
immer klebt rote Farbe in den Fugen zwischen den Steinen. Noch immer liegen | |
die Stolpersteine in der Karlstraße. Die Bauarbeiten in der Lange Straße | |
haben bis heute nicht begonnen. Herzberg setzt sich auf ihren Roller, dreht | |
den Schlüssel. „No more excuses“, ruft sie, bevor sie losfährt. „Und we… | |
ich die Steine dafür selbst ausgraben muss.“ | |
16 Dec 2021 | |
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