# taz.de -- Erste Regierungserklärung von Scholz: Ein Pflichtprogramm, keine K… | |
> Die erste Regierungserklärung des neuen Kanzlers fällt spröde aus. | |
> Unionsfraktionschef Brinkhaus wird lyrisch und kämpft – auch um seinen | |
> Job. | |
Bild: Reflektionen im Plenarsaal: Kanzler Olaf Scholz bei seiner ersten Regieru… | |
Berlin taz | In Olaf Scholz’ Arbeitszimmer hing früher ein Gemälde. Es | |
zeigt einen eher skeptischen Helmut Schmidt in Öl. Für Sozialdemokraten | |
gibt es noch immer zwei Pole, zwischen denen sie sich orientieren: der | |
kühle Mitte-Pragmatismus von Helmut Schmidt und die Realpolitik von Willy | |
Brandt, die immer weite Horizonte hatte. Nach der Regierungserklärung von | |
Olaf Scholz ist klar, [1][dass die Brandt-Variation der Ampel „Mehr | |
Fortschritt wagen“ nur eine Ausleihe ist.] Scholz will als Kanzler ein | |
Wiedergänger von Schmidt sein. Vielleicht nicht ganz so klirrend kalt | |
autoritär, aber norddeutsch nüchtern, arbeitsam. | |
Seine 85 Minuten lange Regierungserklärung liest Scholz am Mittwoch im | |
Bundestag ab. Er verzettelt sich einmal bei der Pflegeversicherung. | |
Ansonsten ist es ein unfallfreier Vortrag. Ohne rhetorische Glanzpunkte, | |
ohne griffige neue Formel. Scholz arbeitet nochmal den Koalitionsvertrag ab | |
– vom Mindestlohn, der schnell kommen soll, über den Wohnungsbau bis zu | |
Europa. | |
All das ist durch einen roten Faden verbunden: Fortschritt. Scholz ist da | |
ganz Nachfolger von Schmidt, der ein fast gläubiges Verhältnis zu | |
technischer Moderne und Rationalität hatte. Der Fortschritt habe, so | |
Scholz, in der Vergangenheit zwar auch die autogerechte Stadt oder die | |
industrialisierte Landwirtschaft hervorgebracht. Aber das ist nur ein rasch | |
absolvierter rhetorischer Umweg zum Ziel. „Wir brauchen mehr Fortschritt.“ | |
Fehler erkannt, Fehler gebannt. „Innovation macht die Welt besser“, so das | |
skepsisfreie Credo des Kanzlers. | |
Etwas wärmer wird der Ton beim Dank an „Frau Doktor Merkel“. Die habe | |
jederzeit „uneitel, pragmatisch, ohne Allüren und umsichtig“ gehandelt. Es | |
ist keine kühne Vermutung, in diesem Lob auch eine Selbstcharakterisierung | |
des Kanzlers zu lesen. | |
## Schoz redet ohne Pathos | |
Scholz’ Wortwahl ist so routiniert wie dieser Auftritt. Das | |
Schlüsselprojekt der Ampel ist der mit viel Trommelwirbel angekündigte | |
klimaneutrale Umbau der Energieversorgung. Bis 2030 sollen 80 Prozent des | |
Strombedarfs aus Wind und Sonne kommen. „Ja, das ist eine gigantische | |
Aufgabe. Aber ich bin der festen Überzeugung, das wird uns gelingen“, sagt | |
er. | |
Die Ampel wird alle verfügbaren finanziellen Ressourcen für die | |
Investitionen in digitale und klimaneutrale Infrastruktur stecken. Das | |
Gros wird mit privatem Kapital finanziert. Deshalb gibt es eine | |
„Superabschreibung“, so Scholz, für Unternehmen, die dort investieren. | |
Faktisch wird das eine locker konditionierte Steuersenkung für Unternehmen | |
von rund 40 Milliarden Euro. | |
Das ist der Ampelkompromiss zwischen FDP, die Unternehmensteuersenkungen | |
wollte, und SPD und Grünen, die vor allem Geld für Klimaschutz mobilisieren | |
wollen. Die Ampel ordnet fast alles dem klimaneutralen Umbau unter. Deshalb | |
sollen am Donnerstag beim Beschluss über den Nachtragshaushalt 60 | |
Milliarden Euro, die eigentlich für die Bewältigung der Coronapandemie | |
gedacht waren, für Klima und Digitales umgebucht werden. | |
Scholz’ Formulierungen sind geerdet, weitgehend pathosfrei. Hoch klingt der | |
Ton allenfalls, wenn der Klimaumbau als „die größte Transformation unserer | |
Industrie und Ökonomie seit mindesten 100 Jahren“ erscheint. Auch dieser | |
historische Umbau ist ein technokratisch machbares Projekt, das mit der | |
frohen Aussicht auf das gute Ende verknüpft wird. Was bei Merkel „Wir | |
schaffen das“ hieß, ist nun „Ich bin der festen Überzeugung, das wird uns | |
gelingen“. | |
Es ist kein Zufall, dass der erste spontane, heftige Applaus von SPD, | |
Grünen und FDP ertönt, als Scholz ein Zitat vorträgt. Es stammt von Nancy | |
Faeser, der neuen Innenministerin. Als Scholz „Die größte Bedrohung für die | |
innere Sicherheit ist der Rechtsextremismus“ zitiert, klatscht auch die | |
Linksfraktion. | |
Dass der Kanzler sich am Koalitionsvertrag orientiert, sich zur Nato, zu | |
Europa und zur Achse Paris–Berlin bekennt, ist das Pflichtprogramm. Scholz | |
geht keinen Millimeter darüber hinaus. Die Kür fehlt. Das ist sein Stil. | |
Verlässlich, nicht visionär. Wer Visionen hat, wird nicht mehr wie bei | |
Schmidt zum Arzt geschickt. Visionen, jenseits des Machbaren, tauchen auf | |
diesem Radar einfach nicht auf. Zu Corona formuliert Scholz ein paar | |
Durchhalteparolen und schneidige Ansagen Richtung der „winzigen Minderheit | |
von enthemmten Extremisten“. Dieses Vokabular klingt wie ein Imitat von | |
Schmidts zackigem Lob der wehrhaften Demokratie. | |
Ein wertegeleiteter Schlüsselbegriff von Scholz lautet: Respekt. Das | |
richtet sich gegen die Verachtung des sozialen Unten in den | |
postindustriellen wissensbasierten Gesellschaften. Scholz mahnt an, dass | |
„Kassiererinnen oder Krankenpfleger, Paketboten oder Bahnschaffnerinnen“ | |
genauso unverzichtbar sind wie AkademikerInnen. Diese Idee knüpft an den | |
US-Philosophen Michael Sandel und dessen kommunitaristisches | |
Gerechtigkeitskonzept an. Respekt ist, mehr als Fortschritt, Scholz’ | |
origineller geistiger Beitrag für die Ampel. | |
Was in der Regierungserklärung fehlt, ist eine globale Ausdeutung dieses | |
Respekts. Was ist mit ungerechter Verteilung des Impfstoffes? Deutschland | |
und andere OECD-Länder beharrten auf dem Patentschutz für Impfstoffe. Das | |
ist ein Grund, warum ärmere Länder noch immer wenig Impfstoff zur Verfügung | |
haben und eine Hürde auf dem Weg zu einer globalen Pandemiebekämpfung. „Wir | |
werden mehr Impfstoff exportieren und die Patente global freigeben, damit | |
wir die Pandemie überall schnell bekämpfen können.“ Das sagt Scholz nicht. | |
Es wäre ein Willy-Brandt-Satz gewesen. | |
Und die Opposition? Die Ampel ist die erste Regierung aus drei Parteien | |
seit Langem. Auch die Opposition ist etwas Neues – und so verschieden wie | |
nie. Union, AfD und Linkspartei. Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der Union, | |
macht mit einer engagierten, zündenden Rede klar, dass die Union in der | |
Opposition den Takt angeben will. Mit der AfD gebe es nichts Gemeinsames: | |
Sie sei keine „Opposition in der parlamentarischen Demokratie,“ sondern | |
gegen sie. Brinkhaus redet frei und ohne Skript. Erst umschmeichelt er die | |
Ampel. Der Kanzler, Robert Habeck und Christian Lindner „können stolz | |
sein“. | |
## Die Union startet Angstkampagnen | |
Scholz hält die Regierungserklärung, Brinkhaus die Oppositionserklärung. | |
Auf die Freundlichkeiten folgt natürlich die scharfe Attacke, die | |
klarmacht, wo die Union die Ampel treiben will – bei Schulden und | |
Migration. Lindners Nachtragshaushalt sei, höhnt Brinkhaus, kein | |
Taschenspielertrick, sondern, so die etwas schräge Metapher, „Sägen an der | |
Schuldenbremse“. Nach nur fünf Tagen habe die FDP verraten, woran sie | |
glaubte. Da ist etwas dran: Lindner hatte vor Kurzem noch ausgeschlossen, | |
was er nun tut. Sparpolitik gehörte bis vor ein paar Wochen noch zum | |
Tafelsilber der Liberalen. Lindners Mimik ist unter der Maske nicht zu | |
erkennen. Habeck wendet sich nach Brinkhaus’ Attacke dem FDP-Mann auf der | |
Regierungsbank zu. Offenbar ist Zuspruch nötig. | |
Brinkhaus ist Fraktionschef in Anführungszeichen. Bald schon wird es einen | |
neuen CDU-Chef geben: Friedrich Merz, Norbert Röttgen oder Helge Braun. | |
Alle drei sind in der Fraktion, und es ist gut möglich, dass sie Brinkhaus’ | |
Posten beanspruchen. Doch dessen Auftritt ist geglückt. Denn er verbindet | |
das Staatstragende mit der Absage an die AfD und scharfen Angriffen. | |
Die zweite Front wird die Union bei der Migrationspolitik eröffnen. Die | |
Ampel wolle – so die Unterstellung – beim Sozialstaat weg vom Fördern und | |
Fordern. Und mit dem Spurwechsel (der Möglichkeit, dass integrierte | |
Asylbewerber bleiben) werde die Ampel, so Brinkhaus, „illegale Migration | |
legalisieren“. | |
Der Unions-Frakionschef hatte Scholz lyrisch „Gottes Segen und alles Gute“ | |
gewünscht. [2][Doch die CDU/CSU wird Angstkampagnen gegen die Ampel | |
führen:] Angst vor Schulden und Flüchtlingen. Scholz’ Auftritt ist an | |
Sprödigkeit kaum zu überbieten. Aber es kann von Vorteil sein, dass Scholz, | |
der als Finanzminister lange die Schwarze Null verteidigte und als | |
Innensenator für law and order stand, an diesen beiden Stellen wenig | |
verwundbar ist. | |
15 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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