| # taz.de -- Bulgarisch-Bremisches Romandebüt: Scheidung als Sehnsuchtsziel | |
| > Die Bremerin Antonia Bontscheva hat ihren Roman „Die Schönheit von | |
| > Baltschik ist keine heitere“ schreiben müssen. Ihn zu lesen ist ein | |
| > Vergnügen. | |
| Bild: Schön. Aber auf gewisse Weise auch herb: Baltschik am Schwarzen Meer | |
| Bremen taz | Dieses Buch musste geschrieben werden, so viel ist klar. Dafür | |
| spricht der erzählerische Sog, den es entfaltet, und der dafür sorgt, dass | |
| sich seine über 400 Seiten mal so eben locker weglesen lassen. Von der | |
| Notwendigkeit ihres Buchs hatte Antonia Bontscheva schon frühzeitig [1][die | |
| Jury des Bremer Autor*innenstipendiums überzeugt], 2009 war das. | |
| Und dann, acht Jahre später, ließen sich auch die Herren, die über die | |
| Residenz in den Worpsweder Martin-Kausche-Ateliers zu befinden hatten, auf | |
| das Wagnis ein, ein so lange sich vorbereitendes Debüt [2][noch einmal zu | |
| pushen]. „Bulgarian Beauty“ nannte Bontscheva ihr Projekt damals noch. | |
| Es greife „ein wichtiges Themenfeld unserer Tage“ auf, konstatierte die | |
| Laudatio, nämlich „Grenzen, Transkulturalität, Identitätsfindung im | |
| Wechselspiel zwischen zwei Kulturen“. Und diese Beschreibung hört sich weiß | |
| Gott vielversprechend, aber doch so akademisch-sperrig an, dass auf Anhieb | |
| einleuchtet, dass es über zwölf Jahre gedauert hat, bis dieser Roman zu | |
| einem guten Ende – plus einem etwas passenderen Titel gefunden hat. | |
| „Die Schönheit von Baltschik ist keine heitere“ heißt er jetzt. Das klingt | |
| zwar immer noch zu nostalgisch, aber immerhin beseitigt es die irreführende | |
| cineastische Assoziation zu Sam Mendes Erfolgskomödie. | |
| ## Mit dem Taxi ans Eingemachte | |
| Und es produziert einen erhellenden Moment des Befremdens angesichts des | |
| radikal unbekannten Toponyms: Baltschik ist [3][ein 10.000-Seelen-Kaff am | |
| Schwarzen Meer], uralte griechische Gründung, später lange osmanisch, im | |
| 19. Jahrhundert mit Bedeutung für den Getreidehandel, dann rumänisch, seit | |
| dem Zweiten Weltkrieg wieder bulgarisch. | |
| Baltschik spielt im Buch keine größere Rolle: Es könnte auch Zarewo sein | |
| oder Nessebar, Hauptsache Schwarzmeerküste, ethnischer Mix, Schlaglöcher | |
| und eingelegte Paprika plus Schafskäse. Der Ort ist zweifellos, neben | |
| Bremen, der wichtigste Schauplatz. Und die groteske Begegnung mit einem | |
| Taxifahrer, dem der Transport eingemachter Viktualien Vorrang vor den | |
| Wünschen seiner Passagierin hat, erfasst sehr akkurat eine Stimmung, die in | |
| den Jahren des großen Umbruchs auf dem Balkan geherrscht und in ihrer | |
| unfreiwilligen Komik Anlass zum ungläubigen Staunen gegeben hatte. | |
| Aber die Städte bleiben unspezifisch, es sei denn, sie werden gerade zur | |
| welthistorischen Bühne wie Ost-Berlin. Und selbst da geht es Bontscheva | |
| nicht um Kolorit. Das sind einfach die Wohnorte der Hauptfigur, die sie | |
| „Ich“ genannt hat. Eine Autobiografie ist das Buch aber nicht: „Die Famil… | |
| ist erfunden“, sagt sie, „die Szenen meist auch.“ | |
| Das gelte gerade für jene, die radikal intim wirken: ein Unfall mit einem | |
| real-sozialistischen Strandklo, einer Baumwollbinde und einer gerecht | |
| erzürnten Toilettenfrau, die mütterlich assistierte Beinenthaarung mit | |
| frisch geschmolzenem, also deutlich über 100 Grad heißem Zucker, die | |
| naturalistische Schilderung einer demütigenden Abruptio graviditatis durch | |
| einen gut gelaunten deutschen Jung-Arzt. | |
| ## Eine unromantische Trennungsgeschichte | |
| Das sind Passagen, die, gerade weil sie Schmerz und Ekel verhandeln, den | |
| Eindruck des Authentischen herstellen. „Ich hatte nicht das narzisstische | |
| Bedürfnis, mein Leben aufzuschreiben“, stellt Bontscheva hingegen klar. | |
| „Mein Leben ist uninteressant.“ | |
| Was ihr Roman stattdessen erzählt, ist die denkbar unromantische Geschichte | |
| einer Trennung. Es ist nicht das Ende einer Liebe, sondern viel eher das | |
| langsame Erlangen der Einsicht, dass da keine Liebe je existiert hat. Die | |
| Ehe, oder besser: die Verheiratung von der Ich-Frau und ihrem blöden | |
| parteitreuen Sergeij, war zwar keine direkt arrangierte, aber sie war eben | |
| doch eine komplett durch gesellschaftliche Konventionen herbeigeführte und | |
| bestimmte Verpartnerung. | |
| Ihre total missglückte Anbahnung hat Bontscheva mit beißendem Spott | |
| gestaltet. Und ihr förmliches Ende, der Vollzug der Scheidung, bleibt als | |
| wahres Sehnsuchtsziel dieses Romans natürlich unerzählt. Abgesehen | |
| vielleicht vom Vater sind die Männerfiguren des Buchs blass geblieben; | |
| zumal Sergeij hat Bontscheva allzu schablonenhaft und flach entworfen. | |
| Dass dieses Söhnchen einer Horrormutter eine gequälte Seele haben könnte, | |
| ein eigenes Gefühlsleben und Tiefe, wird 14 Seiten vor Schluss erstmals | |
| angedeutet. Bis dahin füllt er als unwitzige Karikatur die Seiten. Das | |
| lässt die Vermählung der zwei reichlich rätselhaft erscheinen. Interessant | |
| wird Bontschevas Geschichte aber ohnehin nicht durch Gefühlsintensität, | |
| sondern durch deren Abwesenheit. | |
| Gerade das macht den Roman politisch lesbar: Er bildet in seiner | |
| Paar-Nichtbeziehung beiläufig, vielleicht ungewollt, den | |
| Konstruktionsfehler und Zusammenbruch des Ostblock-Regimes in Bulgarien ab, | |
| die postsozialistische Orientierungslosigkeit des Landes und seine | |
| Ambivalenz in Bezug auf den Westen. | |
| ## Von Bremen ans Schwarze Meer | |
| Er macht europäische Integration als eine Art Identitätskrise spürbar: Er | |
| lässt sich also als historischer Roman lesen. Seine Gegenwart sind die | |
| Jahre von 1994 bis 1995, in denen das Balkanland sich, obschon weiterhin | |
| unter jetzt gewählter sozialistischer Führung, darauf vorbereitet, [4][den | |
| EU-Beitrittsantrag] zu stellen. | |
| Das zwingt geradezu zu einer vielschichtigen Zeitstruktur: Die Erzählung | |
| springt von jenem Jahr in Bremen, in dem sich Ich die Haare kurz schneiden, | |
| von einem russischen Lover schwängern und von einer Depression in die | |
| völlige Lähmung treiben lässt, nachdem im Sommer sein Vater gestorben ist, | |
| hin zur Kindheit am Schwarzen Meer. Von dort springt sie her zum Studium in | |
| Wendezeiten an der Humboldt-Uni, hin zur Phase des Berufsverbots für den | |
| Vater, den Chirurgen her zu seinem Begräbnis und wieder zurück. | |
| Das passiert mitunter verwirrend unvermittelt und kann die Lektüre ins | |
| Stolpern bringen. Meist aber sind die Übergänge durch Assoziationen stark | |
| grundiert, manche sogar virtuos motiviert. Ein tolles Debüt. Eins, das nach | |
| Fortsetzung ruft. | |
| 11 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.literaturkontor-bremen.de/autorinnenstipendium/preistraegerinnen | |
| [2] https://www.facebook.com/KunstlerhauserWorpswede/posts/993270300784770:0 | |
| [3] https://bulgariatravel.org/de/balchik/ | |
| [4] https://www.europarl.europa.eu/enlargement/briefings/6a3_de.htm | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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