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# taz.de -- Aufarbeitung des Kolonialismus im Kongo: Unsichtbar bis in die Gege…
> In Belgisch-Kongo kamen Kinder aus Beziehungen zwischen Weißen und
> Schwarzen in Heime. Überlebende verklagten Belgien – und sind nun
> gescheitert.
Bild: Laut kolonialem Recht ist ihre Existenz illegal: die fünf Klägerinnen i…
Brüssel taz | Jahrzehntelang sprach man in Belgien nicht darüber: das
Schicksal von Kindern, die in der [1][belgischen Kongokolonie] aus einer
sexuellen Beziehung zwischen einem Weißen und einer Schwarzen entstanden.
Zu Kolonialzeiten waren solche Beziehungen verboten, etwaige Kinder wurden
in Heime gesteckt. Jetzt haben erstmals fünf Opfer dieser Praxis in Belgien
den Staat verklagt – und sind gescheitert.
Ein Gericht in Brüssel sprach am Mittwoch den belgischen Staat frei von der
Anklage, er habe gegenüber diesen Kindern „Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“ verübt. Zum einen sei die Heimunterbringung von Kindern aus
rassischen Gründen nach damaligem Recht legal gewesen und könne nicht als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden.
Zum anderen, und das wiegt schwerer in der Gesamtaufarbeitung von
Kolonialverbrechen, könne man sowieso niemanden rückwirkend verurteilen,
auch nicht den belgischen Staat – und im belgischen Recht existiere der
Rechtsbegriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ erst seit 1999, sei
also nicht auf vorherige Ereignisse anwendbar.
Für die fünf Klägerinnen ist das kaum nachvollziehbar. Legt man das
koloniale Recht zugrunde, ist ihre pure Existenz schon illegal. Simone
Ngalula, Léa Tavares, Monique Bitu Bingi, Noëlle Verbeken und Marie-José
Loshi heißen die fünf Kongolesinnen, heute alle über 70 Jahre alt, die den
belgischen Staat verklagt haben. Geboren wurden sie zwischen 1946 und 1950
in Belgisch-Kongo mit schwarzen Müttern und weißen Vätern, eine damals
illegale Beziehung, die für Weiße – oft waren es Militärangehörige – mit
der Deportation bestraft werden konnte.
## Erst entführt, dann zurückgelassen
Im Alter von zwei oder drei Jahren wurden die fünf Mädchen ihren Müttern
weggenommen und in ein Nonnenkloster gesteckt, das Konvent Sœurs de Saint
Vincent de Paul in Katende in der zentralkongolesischen Region Kasai,
Hunderte von Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Sie werfen dem belgischen
Staat vor, sie entführt und als Pflegekinder mit unbekannter Vaterschaft
ihrer Identität und ihrer Nationalität beraubt zu haben.
Es gab in Belgisch-Kongo ein allgemeines System, wonach die katholische
Kirche diese Kinder aus binationalen Beziehungen im Staatsauftrag unter
Obhut nahm, sagt Klägerinnenanwältin Michèle Hirsch. Missionare waren
angehalten, solche zufällig auf der Straße angetroffenen Kinder mitzunehmen
und in die nächste Missionsstation zu bringen, so der
belgisch-kongolesische Historiker Assumani Badagwa. Der belgische Staat
wurde ihr „Papa“, die belgische Königin ihre „Mama“.
„Ab und zu konnten sie ihre wahren Mütter besuchen, nach unglaublichen
Fußmärschen“, erzählt ein weiterer Anwalt der Klägerinnen, Christophe
Marchand, der taz über das Schicksal der fünf Mädchen: „Sie wurden ihrer
Freiheit beraubt.“
Die fünf haben ausgesagt, wie sie von den Nonnen behandelt wurden: wenig
Nahrung, keine Seife oder Hygieneartikel, keine Decken, keine Schuhe, dafür
zur Arbeit verpflichtet; die Tür ihres Schlafsaals führte direkt in die
Leichenhalle. Und als Belgisch-Kongo 1960 unabhängig wurde, evakuierten
UN-Blauhelme die weißen Priester und Schwestern – die schwarzen
Pflegekinder blieben zurück, etwa 50 große und kleine Mädchen, tief im
Busch sich selbst überlassen.
Auf abenteuerlichen Wegen gelang es manchen, sich durchzuschlagen, sogar
nach Belgien. Monique Bitu Bingi erreichte Belgien im Alter von 32 Jahren
und schrieb der belgischen Königin, ihrer „Mama“, einen Brief – sie wurde
an ein Ministerium verwiesen, wo man von ihr nichts wissen wollte.
## Belgiens Entschuldigung ohne Konsequenzen
„Mischlinge galten als Bedrohung kolonialer Interessen, als gefährlich,
weil sie europäisches Blut in sich trugen“, analysiert Historiker Badagwa
in seinem Buch „Noirs – Blancs – Métis: La Belgique et la ségrégation …
Métis du Congo belge et du Ruanda-Urundi“ die Gründe der scharfen
kolonialen Absonderung von Kindern mit schwarzen und weißen Eltern: „Sie
konnten das Ferment von Revolten werden.“
Was die Klägerinnen in dem mehrmonatigen Prozess vom belgischen Staat
verlangten, war eigentlich für „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht
viel: Entschädigung in Höhe von je 50.000 Euro und vor allem einen Zugang
zu den Kolonialarchiven und denen ihres Nonnenklosters, um herauszufinden,
wer sie sind. Sie wollten auch die Ernennung eines Experten, um das
Gesamtausmaß des Schadens an dieser Menschengruppe zu evaluieren. Ihr
Vorbild: Australien, das sich entschieden hat, die [2][Opfer
jahrzehntelanger Zwangsinternierungen von Aborigine-Kindern] bei weißen
Familien oder in Kinderheimen zu entschädigen.
Aber Belgiens Staat wehrte sich erfolgreich. Von „staatlicher
Schizophrenie“ spricht Marchand. Einerseits erkennt der Staat die Vorgänge
an: 2018 sprach Belgiens damaliger Premierminister Charles Michel, heute
EU-Ratspräsident, von „gezielter Segregation“ und „Identitätsverlust“…
Belgien verabschiedete 2019 eine „Feierliche Erinnerungserklärung“ über d…
Diskriminierung gegenüber Kindern aus binationalen Beziehungen. Doch mehr
als Worte gibt es nicht. „Sich entschuldigen ist einfach, aber man muss
auch die Konsequenzen seiner Taten tragen“, meinte Klägerin Monique Bitu
Bingi.
Vor Gericht forderten die Vertreter der staatlichen belgischen Seite die
Klägerinnen auf, sie müssten erst mal beweisen, dass sie Opfer von
Entführungen waren. Die fünf bekamen aber keinen Zugang zu den
Kolonialarchiven, die jetzt das Außenministerium verwaltet: Die Archive
seien offen, sagte Außenministerin Sophie Wilmès den Anwälten, aber als die
Frauen Einblick verlangten, wurde ihnen dies von den Beamten verweigert.
Ähnlich verhält sich die katholische Kirche. Belgiens katholische
Bischofskonferenz erkannte am 25. April 2017 das Leid dieser Kinder aus der
Kolonialzeit an und bat um Entschuldigung für die Rolle der Kirche – aber
sie bot keine Entschädigung an.
Insgesamt wurden 15.000 bis 20.000 Kinder aus binationalen Beziehungen
Opfer des kolonialen und postkolonialen Staats, schätzt der Verband AMB
(Association des Métis de Belgique). Keines von ihnen ist je entschädigt
worden.
9 Dec 2021
## LINKS
[1] /Black-Lives-Matter-Protest-in-Belgien/!5688000
[2] /Entschaedigungen-fuer-Aborigines/!5791982
## AUTOREN
François Misser
## TAGS
Schwerpunkt Demokratische Republik Kongo
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