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# taz.de -- Schulen in Deutschland: Blick zurück nach vorn
> Auf die Herausforderungen von morgen bereitet die Schule nicht
> ausreichend vor. Gebraucht werden Werkstätten einer Gesellschaft im
> Aufbruch.
Bild: Leerer Schulhof
Steife Servietten, Kronleuchter, jede Menge Silber – das Hotelrestaurant
hatte Ähnlichkeit mit dem Kurhaus im Ort meiner Kindheit. Harry, der dort
Kellner lernte, war vierzehn, ich war sechs und sah fasziniert zu, wenn er
abends die Trinkgeldgroschen zu Zehnerhäufchen stapelte. Im ersten Lehrjahr
musste er nur Tische decken und Silber putzen. Damals. Als der Oberkellner
kam, fragte ich ihn, ob das immer noch so sei. Er lachte: „Nein, dafür
gibt’s Maschinen, aber wir haben ganz andere Probleme.
Wir kriegen überhaupt [1][keine Lehrlinge] mehr.“ Und wissen Sie, woran es
liegt? Am Gehalt? „Nein. An den sozialen Medien. Da kommen junge Männer an,
mit völlig unrealistischen Vorstellungen im Kopf. Die denken, dass sie nach
kürzester Zeit einen Sportwagen fahren, bei leichter Arbeit und samstags
natürlich frei. Das sind diese Influencer, die ihnen das vorführen …“ Die
Wirtin im Ferienort, der Bäcker, der Arzt, der mich boostert – sie alle
klagen über den Nachwuchs. Da rutsche etwas ab.
Nicht nur Kenntnisse, sondern Einstellungen: Ausdauer,
Leistungsbereitschaft, Verantwortung, Realismus die Welt und sich selbst
betreffend. Das kam nicht erst mit den Influencern, sagt meine Freundin,
die pensionierte Lehrerin. Die Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und
unrealistischen Konsumansprüchen habe sie schon vor zwanzig Jahren
beschäftigt. Und da sie Soziologin ist, erinnerte sie mich an den
Soziologen Daniel Bell, der schon in den Siebzigern die „kulturellen
Widersprüche des Kapitalismus“ analysiert hat.
Kurz gesagt: Der Arbeitsprozess erfordert Zuverlässigkeit, Konzentration
und Realismus, der Kapitalismus braucht zu seinem Überleben die
Unendlichkeit des Begehrens und rasche Stillung: „Jeden Tag was Neues.“
Eine doppelte Entfremdung, so nannte das, wiederum zwanzig Jahre zuvor,
1957, der sozialkonservative Soziologe Helmut Schelsky: auf der einen Seite
eine fordernde, zunehmend sinnentleerte Betriebsarbeit, auf der anderen die
Ausbeutung durch die „Veranstaltungsindustrien“ und die Werbung.
## Zu wenig Lehrlinge
Schelsky forderte, die Schule müsse zur „Neben- und Parallel-Organisation
des Elternhauses“ werden. Wenn die Großfamilie zerfalle, die Religiosität
verblasse, der Konsumismus die Erziehungsfähigkeit der Familie untergrabe,
dann müsse die Schule eine „Gegenstruktur“ sein: gegen die entfremdende
Industriearbeit ein Bewusstsein für die Komplexität des industriellen
Prozesses und gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge vermitteln, und gegen
den, so wörtlich: „Konsumterror“ die Kräfte der Selbstbestimmung stärken,
die ein befriedigendes Leben möglich machen.
Lange vor Netflix und Lieferando entwarf Schelsky die Skizze einer Schule,
die Technik und Tradition versöhnt, in der musische Erziehung die Kräfte
zur Humanisierung der Gesellschaft freisetzt, ein soziales Zentrum, ebenso
eng mit den Elternhäusern verbunden wie mit den Betrieben. Schelsky schrieb
das in einer Aufbruchszeit, in einer ethnisch relativ homogenen
Gesellschaft mit rasantem Wachstum, steigendem Konsumniveau und halbwegs
konturierten politischen Parteien und Gewerkschaften.
Heute ist die Lage komplizierter: eine in Subkulturen zersplitterte
Gesellschaft, in der es statt um Konsumsteigerung darum geht, Bestände neu
zu verteilen, in der technologische Umwälzungen tief in das Leben der
Einzelnen eingreifen und alle Welt nach Zusammenhalt ruft.
Corona hat die [2][Dauermängel unseres Schulsystems] (Ausnahmen
ausgenommen) gezeigt: den Klassencharakter, die schwache Kommunikation
zwischen Eltern und Schule, die starre Organisation, die fehlenden Brücken
zwischen Schule und Beruf. Bis jetzt kompensierten Wachstum und
Exportüberschüsse die Kollateralschäden dieses Systems, die Vernichtung
menschlicher Möglichkeiten.
Das reicht jetzt nicht mehr. Wer jetzt zur Schule kommt, der wird in seinem
Erwachsenenleben Pandemien, Völkerwanderungen und [3][Klimakatastrophen]
erleben. Die Schule der Zukunft wird für Aufgaben bilden müssen, die nicht
länger von einem gut gepufferten Sozialstaat übernommen werden können, und
neue Haltungen einüben: zur Natur, zur Stadt, zum Konsumieren. In den
Schulen ist Ruhe. Keine Manifeste für eine Schule des Anthropozäns.
## Treffpunkt für Generationen und Schichten
Da kommt einem die verstaubte Denkschrift von 1957 revolutionär vor. Wenn
man sie für heute weiterschreibt, landet man bei dem Traum von einer
Schule, die viel mehr als ein Lernort ist: eine soziale Institution, die
sich dem Kiez, der Stadt, den Milieus gegenüber öffnet. Und das ganz
konkret: für Familienfeste und nächtliche Hallenfußballturniere, für
arabische Hochzeiten und Rap-Proben und Computerkurse für Alte.
Eine Schule, die genug Lehrer, Animateure und Mittel hat, um die Kenntnisse
und das Engagement der Handwerkerinnen, der Musiker, der Köche,
Rechtsanwältinnen, der Programmierer im Einzugsbereich zu benutzen – nicht
als quereinsteigende Hilfslehrer, sondern als Mitglieder einer
Schulgemeinde, die ihre Werkstätten, Wohnungen, Geschäfte und ihr Wissen
zur Verfügung stellen, damit die Nachwachsenden nicht nur in zwei Wochen
Praktikum am Leben schnuppern, sondern dauerhaft an ihm aktiv teilnehmen
können.
Die Schule ist vielleicht der letzte Ort, an dem Generationen, Berufe und
Schichten sich mischen, mit einem gemeinsamen Fokus: dem Leben, den Werten,
den Chancen der Jungen. Bürgerschulen als soziale Zentren: direkt und
analog könnten sie Werkstätten einer Gesellschaft im Aufbruch sein. Ein
Traum? Wieder so eine Feuilletonreverie?
Mag sein, aber es gibt solche Schulen, und irgendetwas müssen doch diese
Hunderttausenden Schüler, Eltern und Lehrer, die freitags für die Zukunft
auf den Straßen waren, anfangen, wenn das Demonstrieren sich erschöpft hat.
Wo bleiben die Influencer?
8 Dec 2021
## LINKS
[1] /Ausbildung-in-Leipzig/!5403628
[2] /Corona-und-Schule-in-Berlin/!5684333
[3] https://www.wetter.com/videos/kolumnen/klimakatastrophen-in-deutschland-die…
## AUTOREN
Mathias Greffrath
## TAGS
Schlagloch
Schule
Bildungspolitik
Kapitalismus
Konsum
Schwerpunkt LGBTQIA
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
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