# taz.de -- Geflüchtete vor Europas Küste gestorben: Das absehbare Unglück | |
> 27 Asylsuchende sind im Ärmelkanal ertrunken. Und wie reagieren London | |
> und Paris? Mit gegenseitigen Vorwürfen, statt mit einem Plan. | |
Bild: Zurückgelassene Schwimmwesten in den Dünen von Calais | |
Grenzen töten“, steht auf einem der Plakate. Geschätzte 300 Menschen | |
protestieren an diesem Donnerstagabend spontan vor dem Londoner | |
Innenministerium. Sie alle sind schockiert von der Katastrophe im | |
Ärmelkanal: [1][Am Mittwoch starben dort 27 Menschen], die offenbar mit | |
einem Gummiboot versucht hatten, von Frankreich nach England überzusetzen. | |
Schockiert ja – aber überrascht? Das ist niemand. Der Ärmelkanal ist ein | |
weiterer Schauplatz des europäischen Scheiterns an einem menschenwürdigen | |
Umgang mit Flucht und Migration. Lange hat sich die Katastrophe angebahnt. | |
Die Meeresenge zwischen dem französischen Calais und der englischen | |
Hafenstadt Dover ist in der Pandemie zu einer immer beliebteren Fluchtroute | |
geworden: Im Jahr 2021 haben bislang etwa 26.000 Menschen auf diesem Weg | |
die englische Küste erreicht. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich ihre Zahl | |
verdreifacht. | |
Sie habe es kommen sehen, sagt deshalb eine der Protestierenden [2][vor dem | |
Amtssitz der britischen Innenministerin Priti Patel] in Westminster. | |
„Großbritannien und die EU müssen besser miteinander kommunizieren, um | |
legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen“, meint der | |
belgische Arzt Coen Verbeke, ebenfalls ein Demonstrant. | |
Die Chancen dafür stehen allerdings schlecht. Das EU-Land Frankreich hat | |
mit Großbritannien ein Abkommen geschlossen, nach dem London einen hohen | |
zweistelligen Millionenbetrag an Paris zahlt, damit das Land die | |
Flüchtlinge kontrolliert und aufhält. Die Schuldzuweisungen rund um das | |
Unglück verschlechtern das ohnehin schon angeknackste Verhältnis zwischen | |
den beiden Ländern nun zusätzlich. | |
So hat Frankreich ein geplantes Treffen von Innenminister Gérald Darmanin | |
mit seiner britischen Amtskollegin am Sonntag abgesagt – aufgrund eines | |
Briefs des britischen Premiers Boris Johnson, den dieser auf Twitter | |
veröffentlichte. Darin fordert er ein Abkommen zur Rücksendung von | |
Flüchtlingen aus England in die EU. | |
Als das Vereinigte Königreich noch Teil der EU war, hatte es sich auf das | |
Dublin-System berufen können: Demnach ist jeweils der EU-Staat | |
verantwortlich, den Asylsuchende als Erstes betreten haben. Wiederholt | |
hatten französische Minister zwar erklärt, unter den Menschen, die nach | |
Großbritannien weiterreisen wollten, gebe es Flüchtlinge, die in Frankreich | |
eine gute Aussicht auf einen erfolgreichen Asylantrag hätten. Doch | |
Hilfsorganisationen bezweifeln das und verweisen auf die sehr | |
restriktiven französischen Behörden. | |
Zudem gibt es noch weitere Gründe, warum Großbritannien für Asylsuchende | |
ungleich attraktiver ist, etwa die Sprache oder Verwandte, die bereits dort | |
leben. In Großbritannien dürfen Asylbewerber*innen zwar erst | |
frühestens nach zwölf Monaten einer Arbeit nachgehen (sechs sind es in | |
Frankreich), aber es gilt als einfacher, im Vereinigten Königreich | |
Schwarzarbeit zu finden. | |
Außerdem habe [3][die schlechte Behandlung der Menschen an der | |
französischen Küste] System, sagen Kritiker*innen. Zwar versuchen die | |
Mitarbeitenden des Office Français de l’Immigration (OFI) durchaus, die | |
Menschen in den klandestinen Camps rund um Calais zu überreden, sich um | |
einen legalen Aufenthalt in Frankreich zu bemühen – meist jedoch | |
vergeblich. Denn gleichzeitig schikaniert der Staat die dort Lebenden mit | |
ständigen Räumungen: Zuletzt wurden Mitte des Monats die behelfsmäßigen | |
Unterkünfte von mehr als 1.000 Menschen in Grande-Synthe zerstört. Sie | |
konnten zwar eine Unterkunft in einer großen Halle in der Industriezone von | |
Calais aufsuchen, aber die war nur als Übergangslösung gedacht. Übergang | |
jedoch zu was? Wieso sollten die Menschen Frankreichs Behörden trauen und | |
hier einen Asylantrag stellen, wenn sie von ihnen bisher nur Willkür erlebt | |
haben? | |
So warten an der französischen Küste Schätzungen zufolge mehrere tausend | |
Menschen auf eine Überfahrt. Sie wenden sich an Schleuser, die sich einen | |
Überquerungsversuch mit meist völlig seeuntauglichen Gummibooten angeblich | |
mit bis zu 10.000 Euro bezahlen lassen. Viel Geld dafür, sein Leben zu | |
riskieren. „Der Ärmelkanal ist wie eine Autobahn“, sagte Bernard Barron von | |
der Seerettungsgesellschaft SNSM in Dunkerque der Zeitung Le Monde. | |
„Stellen Sie sich mal vor, was passiert, wenn ein solches überladenes Boot | |
in den Wellengang eines großen Erdöltankers gerät. Das ist wie ein | |
Tsunami.“ | |
26 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
Rudolf Balmer | |
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