| # taz.de -- Reisen in Europa: Klein, aber … | |
| > … nichts aber! Sechs Reiseberichte aus den kleinsten Ländern Europas, | |
| > gegen das Fernweh in der vierten Welle. | |
| Bild: Blick auf Valetta, Malta | |
| ## Land der Ameisen | |
| Gleich hinter der Grenze kommen die Outlets. Die Steuern sind niedriger in | |
| [1][San Marino], und so ist das Land für die es umzingelnden Italiener ein | |
| Shopping-Ausflugsziel. Wir aber fahren weiter, durch kleinere Orte, bergauf | |
| und bergauf. Die letzten hundert Höhenmeter gehen wir zu Fuß; ganz oben, in | |
| der Città di San Marino, sind Autos tabu, dafür gibt es perfekt sanierte | |
| Gebäude aus gelblich beigem Ziegelstein und tausend tolle Blicke über die | |
| hügeligen Appeninausläufer und die nahe Adria. | |
| Auch hier oben kann man shoppen: Ledertaschen, Parfüms, Souvernirnippes | |
| und, ein wenig gruselig, diverse Waffenläden voller Schnellfeuerpistolen | |
| prägen das Stadtbild. Ein harmloserer Verkaufsschlager sind Münzsets. San | |
| Marino ist zwar nicht EU-Mitglied, hat aber trotzdem den Euro. Auf die bei | |
| Sammlern begehrten Landesmotive braucht man als zufälliges Wechselgeld aber | |
| nicht zu hoffen. Auch Briefmarken gibt es zu kaufen, und wo man gerade | |
| dabei ist, kann man sich im Tourismusbüro auch für 5 Euro einen | |
| Tagesvisumsstempel in den Reisepass machen lassen. Sammlerparadies San | |
| Marino! | |
| Zum touristischen Standardprogramm gehört es, die drei Gipfel des Monte | |
| Titano abzuspazieren, auf jedem steht ein gut renovierter Wehrturm. In | |
| einem davon weist ein Aushang darauf hin, dass die Türme gern von | |
| fliegenden Ameisen als Paarungsort genutzt werden: „Sie sind ungefährlich, | |
| achten Sie jedoch darauf, nicht auszurutschen.“ Michael Brake | |
| ## Land der Hosen | |
| Wenn ich an die [2][Vatikanstadt ] denke, denke ich an Schlangestehen, zu | |
| viele Menschen, und daran, wie meine Mutter versucht, am Eingang zum | |
| Petersdom eine hässliche lange Hose aus Plastik loszuwerden. Mein Vater | |
| hatte sie in der Not kaufen müssen, denn nackte Unterschenkel gehören im | |
| Dom bedeckt. Die Hose ist schnell weiterverkauft, wir machen sogar Profit. | |
| Ich bin damals neun Jahre alt und denke, meine Aufnahme in den Himmel ist | |
| gesichert, weil ich von Weitem Papst Johannes Paul II. gesehen habe. | |
| Tausende jubelnde und fahnenschwenkende Erwachsene geben mir recht. Und | |
| dann ist da noch das 2.000 Jahre alte Grab von Petrus, das von feschen, in | |
| den Farben der Medici gekleideten Schweizergardisten bewacht wird. Wow. | |
| 100 Prozent katholisch, 100 Prozent Alphabetisierungsquote und kein | |
| Frauenwahlrecht – das ist der Stato della Città del Vaticano. Fromm, | |
| gebildet, männlich. Amtssprache: tot. | |
| Mit neunzehn bin ich wieder dort. Ich bin aus pathetisch-romantischen | |
| Gründen nach Rom geflogen und sitze nun allein auf dem Petersplatz und | |
| versuche die Säulen und Statuen um mich herum in meinem Notizheft zu | |
| zeichnen. Der für einen großen Teil der Weltbevölkerung immer noch | |
| heiligste Ort auf Erden steht für mich mittlerweile für ein | |
| anachronistisches Überbleibsel patriarchaler christlicher Macht. Und für | |
| ein beachtliches Relikt der Renaissance. Der einzige Grund wohl, warum ich | |
| mir das Schlangestehen antue und zu viel Geld dalasse. Stunden später stehe | |
| ich vor der Schule von Athen, laufe durch die sixtinische Kapelle und | |
| bereue nichts. Ruth Fuentes | |
| ## Land der Flucht | |
| Eine Erde wie auf dem Mars, eine Sprache wie in England und eine zweite | |
| Sprache wie in Arabien, das ungefähr ist [3][Malta]. Mit anderen Worten: | |
| Mit Englisch kommt man überall prächtig durch; Maltesisch ist aber die | |
| interessantere Sprache, mit vielen italienischen Lehnwörtern, zudem die | |
| einzige der semitischen Sprachfamilie, die mit lateinischen Buchstaben | |
| geschrieben wird, was zu merkwürdigen Ortsnamen führt (Mdina, Ta’ Xbiex, | |
| Qrendi). | |
| Das Meer ist weithin nicht zu übersehen auf Malta; es ist meist klar und | |
| rein, aber sein Boden ist steinig und einen Zugang über Sand gibt es nur | |
| selten. Das Festland hingegen ist rundum bebaut, jeder Quadratmeter wird | |
| für kleine hübsche Häuser, die gern „Villa“ heißen, oder für neumodisc… | |
| Hotels benutzt. Aber das ist ganz gut so, denn auf Malta brennt die Sonne | |
| selbst im September noch so stark, dass man liebend gern in die Gassen der | |
| urigschönen Hauptstadt La Valletta flüchtet oder gleich in die St. John’s | |
| Co-Cathedral, in der ein echter Caravaggio prangt. | |
| Zu essen gibt es auf Malta viel Fish & Chips, zu trinken eine eigentümliche | |
| Blutorangenlimonade, die in echter Konkurrenz zur Coca-Cola-Industrie | |
| steht, und zu gucken natürlich reichlich Geschichte, von den Römern über | |
| die Mauren bis zur englischen Kronkolonie und darüber hinaus. Als | |
| Fluchtpunkt waren die maltesischen Inseln erst bei Hippies beliebt, jetzt | |
| bei Briefkastenfirmen und eine Zeit lang auch bei Phillip Boa. Ach, was | |
| soll man sagen: Lohnt sich! Aber immer gut eincremen. René Hamann | |
| ## Land des Stampfens | |
| Mit dem Motorrad aus der Schweiz kommend trinke ich meinen ersten Kaffee in | |
| Mäls, gleich hinter der Grenze. Die Sonne scheint, ich sitze draußen. In | |
| der Luft liegt ein merkwürdiges Grummeln, ein heiseres Rauschen. Ich halte | |
| das für einen Wildbach und fahre weiter, zwanzig Minuten nordwärts durch | |
| eine vom vielen Geld blank geleckte Alpinkulisse, vorbei an Vaduz bis an | |
| die Grenze zu Österreich. | |
| Unterwegs denke ich daran, dass das winzige [4][Liechtenstein], was wenige | |
| wissen, die größte militärische Leistung aller Zeiten vollbracht hat. 1866 | |
| wurde das Fürstentümlein am rechten Ufer des Alpenrheins von einem | |
| übermächtigen Verbündeten (Österreich) genötigt, gegen einen übermächtig… | |
| Gegner (Preußen) in den Krieg zu ziehen. 80 Soldaten überquerten mehrere | |
| Pässe und standen dem Feind schließlich in der Lombardei gegenüber. Weil | |
| niemand richtig Lust darauf hatte, kam es zu keinen Kampfhandlungen und nur | |
| zwei Verletzten, die von ihren Pferden getreten worden waren. Am Ende | |
| kehrten von den 80 Männern 81 zurück – den Liechtensteinern war es | |
| gelungen, einen gegnerischen Offizier als Freund zu gewinnen. | |
| In Rugell bekomme ich Hunger. Auf der Terrasse des Restaurants wieder diese | |
| Geräusche. Ein ominöses An- und Abschwellen, rhythmisches Stampfen, | |
| pfeifende Obertöne – je nachdem, woher der Wind weht. Das kann kein | |
| Gewässer sein. Als das Schnitzel kommt, erklärt mir der Wirt: „Unsere | |
| Nationalmannschaft verliert gerade in Vaduz gegen Italien.“ | |
| Ein Land so ruhig und klein, dass man ein Länderspiel überall hören kann! | |
| Es hat es einen weiteren Freund gewonnen. Arno Frank | |
| ## Land der Durchfahrt | |
| Im Fernsehen sieht Andorra ja noch ganz schön aus, so aus der Distanz. | |
| Manche Tour-de-France-Etappe endet in diesem pyrenäischen Gebirgsflecken, | |
| weniger als halb so groß wie Berlin, dennoch ein eigener Staat, | |
| oberhäuptlich repräsentiert durch zwei Co-Fürsten: den (spanischen) Bischof | |
| von Urgell und Emmanuel Macron. | |
| Winters richtet Andorra in seinem Skitourismusindustriegebiet Soldeu | |
| Weltcuprennen aus, was wiederum dazu beiträgt, dass dieser Kleinstaat nicht | |
| vergessen wird – der übrigens nicht Mitglied der EU ist, auch nicht zum | |
| Schengenraum gehört, was an den wenigen Grenzstraßen zu Pass- und, dies vor | |
| allem, Zollkontrollen führt. Ausgeführt werden sehr gern sehr günstige | |
| Alkoholika und Zigaretten, eingeführt alle Arten von irgendwie den | |
| Finanzämtern (wo auch immer) vorenthaltenem Geld. | |
| Andorra la Vella, die Hauptstadt, sieht wie alles in Andorra schiefergrau | |
| aus, nichts ist lieblich, alle Architektur weist auf das beschwerliche | |
| Leben in diesem Schmuggler- und Hehlernest hin, vorgestern, gestern und | |
| wahrscheinlich noch immer. Max Frisch nannte eines seiner besten | |
| Theaterstücke „Andorra“, eine Parabel über Antijüdisches, über Schuld u… | |
| jedenfalls nicht billig zu habende Vergebung, auf Theaterbühnen der | |
| fünfziger und sechziger Jahre eher nicht so populär. Andorra: das ist von | |
| Nahem auch eine gastronomische Vorhölle, nichts ist mit Raffinement oder | |
| Gusto zubereitet, das Sattmachende zählt. Durchfahrt – lohnt immer. Es muss | |
| bizarre Orte geben, sonst existierte ja keine Anmut. Jan Feddersen | |
| ## Land des Geldes | |
| Von Nizza ist [5][Monaco] ganz nah, 31 Minuten nur mit der Bahn entlang der | |
| Côte d’Azur. Auf der Fahrt bewundern wir Meer und Küste und lesen uns | |
| gegenseitig Monaco-Fakten vor, fast alle haben mit Geld zu tun: Es gibt | |
| 38.000 Monegassen und jeder Dritte oder jeder Zweite ist Millionär – je | |
| nach Statistik. Nirgendwo sind Immobilien so teuer wie im zweitkleinsten | |
| Land der Welt. So reich ist Monaco, dass es nicht einmal eine | |
| Armutsstatistik gibt. | |
| Zunächst sehen wir davon nicht viel, nur graue Betonbauten mit traurigen | |
| Imbissen. Und dann auch noch Wolken. Oben auf dem Fürstenfelsen ist | |
| Wachablösung vorm Palast. Penibel wird auf die Maskenpflicht geachtet. „Wir | |
| sind hier nicht in Europa und nicht in Frankreich, das ist Monaco“, | |
| schnauzen zwei Polizisten einen jungen Mann an. Gleichschritt, Musik, | |
| Geschrei. Vorbei. Die Touristen ergießen sich über die Altstadt. Der Blick | |
| auf den Hafen offenbart wilde Luxusbauten und weirde Luxusjachten. | |
| Ich lerne, dass Monte Carlo nur ein Stadtteil von Monaco ist, und frage | |
| mich, was ich eigentlich vorher dachte. Wir schlendern den nächsten Hügel | |
| hoch, zum wohl berühmtesten Casino der Welt. Schon beeindruckend. Davor | |
| stehen teure Autos, ich erkenne nur Ferraris und frage mich, ob wir mit | |
| unserem 19 Jahre alten Golf hier auch einfach hätten parken dürfen. | |
| Der Reichtum kotzt uns an. Wir wollen baden. Wandeln durch den japanischen | |
| Garten, überholen eine stark operierte Frau, legen uns an den perfekt mit | |
| Sand aufgeschütteten Strand. Hier sieht man dann auch nicht mehr, wer Golf | |
| und wer Ferrari fährt. Und die Sonne kommt auch wieder raus. Paul Wrusch | |
| 30 Nov 2021 | |
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| [5] /Stadtstaat-Monaco/!5398188 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Brake | |
| Ruth Lang Fuentes | |
| René Hamann | |
| Arno Frank | |
| Jan Feddersen | |
| Paul Wrusch | |
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