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# taz.de -- Mannheimer Ausstellung über Prostitution: Von wegen „Sexarbeit“
> Wer sich auf die Fotos der Ausstellung „gesichtslos – Frauen in der
> Prostitution“ einlässt, sieht: Für die meisten Frauen ist das Gewerbe
> Gewalt.
Bild: Hyp Yerlikaya, Serie „Amalie“, 2021 (Ausschnitt) www.yerlikaya.de
Wie zur Hölle kann es sein, dass so was möglich ist? [1][Wie sehr muss eine
Gesellschaft Frauen hassen, dass sie das zulässt, wegschaut oder sogar
befürwortet?] Wie kann man das beenden? Nach dem Besuch der Fotoausstellung
[2][„gesichtslos – Frauen in der Prostitution“,] die noch bis zum 20.
Februar 2022 im Museum Weltkulturen der Reiss-Engelhorn Museen in Mannheim
zu sehen ist, überschlagen sich viele Fragen im Kopf. Denn eines wird klar,
wenn man vor den Fotografien aus dem Alltag von zehn Prostituierten steht:
Für die allermeisten ist Prostitution keine ganz normale Arbeit.
Neben den selbstbestimmten „Sexarbeiter:innen“ mit Bildungshintergrund, die
sich gut verständigen können und Alternativen haben, besitzt laut
Statistischem Bundesamt nur ein Fünftel der vor Corona 40.400 gemeldeten
Prostituierten in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft. 80 Prozent
stammen überwiegend aus Bulgarien und Rumänien, haben keinen Zugang zum
regulären Arbeitsmarkt und werden so oftmals von Mittelsmännern abhängig,
die sie zu Sexsklavinnen machen.
Um diese Frauen, und auch die, die jenseits von fassbaren Zahlen illegal
Sex verkaufen müssen, geht es in der Ausstellung in Mannheim: Auch um dem
öffentlichen Bild entgegenzuwirken, das vor allem die französische Malerei
zwischen Zweitem Kaiserreich und Belle Époche vor und nach 1900 bis heute
geprägt hat: der Blick von Männern auf die Prostitution – die teilweise
selbst mit Prostituierten verkehrten und von der „sündhaften“ Pariser
Schattenwelt der „pierreuses“, also Straßenhuren, fasziniert waren. Bis
heute dominiert dieser voyeuristische Blick die gesellschaftliche
Wahrnehmung. Immer noch bebildern Medien die Nachricht über einen Mord an
einer Prostituierten mit einem sexualisierten Frauenkörper. Sexkauf wird
romantisiert und nicht als das darstellt, was er in den meisten Fällen ist:
Gewalt. Körperliche Gewalt. Psychische Gewalt. Patriarchale Gewalt. Von
Männern an Frauen. Jeden Tag. In Deutschland. Abertausendfach.
„Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem Bild, das die Gesellschaft von
Prostitution hat, und der Lebensrealität in der Prostitution“, sagt Julia
Wege, Gründerin von [3][„Amalie“, der Beratungsstelle des Diakonischen
Werks Mannheim] für Frauen in der Prostitution. Seit 2013 hilft die
Einrichtung Prostituierten in allen Lebenslagen, leistet kostenlose
medizinische Versorgung und unterstützt beim Ausstieg.
## Die Wahrheit zeigen
In Zusammenarbeit mit den Reiss-Engelhorn Museen initiierte „Amalie“ die
Ausstellung daher von Beginn an mit dem Plan, Betroffene ins Projekt zu
involvieren und Realitäten sichtbar zu machen, die gesellschaftlich
verdrängt werden. Es sollte keine Ausstellung über sie, sondern mit ihnen
werden. Alle Frauen auf den gezeigten Schwarzweißfotos des Fotografen Hyp
Yerlikaya sind oder waren Besucherinnen in der Beratungsstelle.
Zunächst skeptisch, doch dann in immer größerer Zahl hätten sie sich am
Projekt beteiligt. Weil sie gesehen haben, dass es darum gehe, einen
unverstellten Blick auf das zu lenken, was ihnen jeden Tag widerfährt.
„Bitte zeigt, wie es wirklich ist, zeigt die Wahrheit“, habe eine
Mitwirkende gesagt, erzählt Wege, die sich als Professorin für Methoden der
sozialen Arbeit seit über zehn Jahren kritisch mit dem Thema Prostitution
auseinandersetzt und über biografische Verläufe von Frauen in der
Prostitution promoviert hat.
Der Fotograf Yerlikaya begleitete für die Ausstellung zehn Prostituierte
zwischen 2019 und 2021, insgesamt 1.800 Fotos durfte er von ihnen machen.
Immer anonymisiert. Immer mit einer weißen Maske, die ihre unsichtbare
Existenz in der Gesellschaft thematisiert und gleichzeitig ihre Identität
schützt. Denn die meisten Frauen fühlen sich durch gesellschaftliche
Diskriminierung und Ächtung „wie der letzte Dreck“ und hätten wahnsinnige
Ängste, erkannt zu werden, erzählt Wege. 40 Fotos haben es am Ende in die
Ausstellung geschafft.
Als international tätiger Künstler fotografierte Yerlikaya bereits 2012
Säureopfer in Bangladesch. Dank seiner großen Sensibilität für Thema und
Protagonistinnen war er maßgeblich an Konzeption und Umsetzung der Schau
beteiligt. Dass es gerade ein Mann ist, der die Fotos gemacht hat,
verwundert, ist laut Wege neben seinem Einfühlungsvermögen aber auch einer
„therapeutischen Wirkung“ des Projekts geschuldet: Die Frauen hätten
gesehen, dass sie ihm vertrauen können, dass nicht jeder Mann negative
Absichten hat.
## Alltagssituationen
Auf der Grundlage von Interviews mit den Prostituierten, die in einem
kleinen Vorführraum auch angehört werden können, erzählen die Fotografien
von ihrem Alltag, ihren Ängsten, Traumata und Sehnsüchten. Jedem Bild in
der Ausstellung ist ein Originalzitat einer Betroffenen zugeordnet, die es
Besucher:innen erlaubt, das Gezeigte besser einzuordnen. Oft entfaltet
das Foto seine volle Durchschlagskraft erst durch das Zitat.
Die Bilder zeigen Alltagssituationen von dem, was die Frauen jeden Tag
zwischen Kundenwünschen, Arbeitsorten, Privatleben und Tagträumereien
erleben: eine Frau in der Dusche; eine Frau, die eine
Ultraschalluntersuchung bekommt; eine Frau, die mit einem kleinen Kind in
der einen und einem Fahrrädchen in der anderen Hand, über die Straße läuft;
eine Frau beim Beten in einer Kirche; eine Frau in Dessous, die sich das
Gesicht wäscht; weißes Pulver auf einem Spiegel samt gerolltem Geldschein;
groteskes Schuhwerk. Alle Bilder sind intim, ohne voyeuristisch oder
sexualisiert zu sein.
Yerlikaya ist ein stiller Beobachter der Unsichtbaren, der hinter der
Kamera selbst unsichtbar wird, der dokumentiert und dort, wo die Grenzen
des Aussprechbaren oder Zeigbaren überschritten werden, auch inszeniert.
Wie bei einem Bild, auf dem ein Zuhälter angedeutet ist, der eine Pistole
unter der Jacke trägt. Mit den bildbegleitenden Zitaten neben den
jugendfreien und damit auch für Schulklassen zugänglichen Fotografien wird
etwa klar: Die Frau auf der Liege mit dem Ultraschallgerät auf dem Bauch
ist schwanger von einem Freier. Denn „viele Männer möchten Sex ohne
Kondom“, den die Frauen in ihrer Not zulassen, um mehr Geld zu verdienen.
Manche Frauen wollen dann in der Beratungsstelle „Amalie“ wissen: „Wie ge…
wegmachen?“ „Andere Frauen entscheiden sich dazu, das Kind zu bekommen, um
eine Motivation zu haben, noch härter dafür zu kämpfen, die Prostitution
endlich hinter sich lassen zu können“, erzählt Wege. „Denn sie wollen auf
keinen Fall, dass das Kind irgendwas mit dieser Welt zu tun bekommt.“ Eine
Welt voller Ekel, Wut und Selbsthass.
## Profiteure der Verklärung
Mit „gesichtslos – Frauen in der Prostitution“ wird Unsichtbares sichtbar.
Und zwar so, wie es wirklich ist. Ohne Klischees. Weit entfernt von der
Fantasie, dass alle Frauen gern und gut von Prostitution leben. Vielmehr
ist es an der Tagesordnung, dass sie Geld an ihre Familien in ihren
Heimatländern oder Zuhälter abdrücken und selbst in prekären Verhältnissen
leben müssen.
Doch hier haben einmal nicht die Profiteure der Verklärung dieses Elends
die Macht über das Narrativ: klickgeile Medien, Freier,
Bordellbetreiber:innen, Vermieter:innen von Stundenzimmern,
Security-Firmen, Wäsche- und Reinigungsunternehmen, der Staat und das gute
Gewissen der Gesellschaft im Allgemeinen. Sie alle haben ein Interesse
daran, mitzubestimmen, welche Einblicke ins Milieu nach außen getragen
werden. Sie alle möchten am liebsten nur die perfekt Deutsch sprechende,
emanzipierte, studierte „Sexarbeiterin“ sehen, um sich die eigene
Beteiligung an einem menschenverachtenden System nicht eingestehen zu
müssen. Hätten es am liebsten, dass die Diskussion über Prostitution in
Deutschland vollständig vom positiven Bild der freiwilligen „Sexarbeit“
überlagert wird, das eine Handvoll Repräsentant:innen medienwirksam
erschafft. Die Zwangsprostitution, wie sie die Ausstellung im Museum
Weltkulturen zeigt, bleibt weitestgehend unbeachtet. Wie auch? Wenn die
Betroffenen nicht einmal ihr Gesicht zeigen, geschweige denn in Talkshows
reden können und somit unsichtbar bleiben.
Diesen kollektiven Verdrängungsmechanismus will „gesichtslos – Frauen in
der Prostitution“ stören. Das Elend sichtbar machen. Auch mit dem
gleichnamigen Begleitbuch und Ausstellungskatalog, der Fakten und Analysen
liefert. Niemand soll mehr sagen können: „Ja, hätten wir das mal alles
gewusst.“ Alle sollen sehen, dass hier ganz gehörig was schiefläuft und das
„Prostituiertenschutzgesetz“ von 2017 samt falsch verstandenem Liberalismus
gescheitert ist. Obwohl Prostitution seit 2002 legal ist, hat es die
Situation der meisten Menschen in der Prostitution nicht verbessert, weil
Staat und Gesellschaft bis heute von der deutschen, „selbstbestimmten Hure“
ausgehen, die sich ihren Job freiwillig ausgesucht hat.
Sie verkennen schlichtweg, dass über 80 Prozent der Prostituierten
marginalisierte, vulnerable Migrantinnen sind, die mit zuhälterischen
Partnern oder Familienmitgliedern ihre Heimat für ein vermeintlich besseres
Leben verlassen haben, in emotionale und ökonomische Zwangslagen gebracht
und sexuell ausgebeutet werden. Vor allem in der Coronakrise wurde
deutlich, dass viele Herkunftsfamilien von den Einnahmen der
Zwangsprostituierten abhängig sind. Die Hälfte hat Depressionen, wurde
während der ‚Arbeit‘ vergewaltigt, viele haben Suizidgedanken, fast 70
Prozent leiden unter denselben posttraumatischen Belastungsstörungen wie
Soldatinnen nach Kriegseinsätzen.
Alles seit der [4][internationalen Studie von Melissa Farley bekannt.]
Alles im Begleitbuch nachlesbar. Alles möglich trotz
„Prostituiertenschutzgesetz“. Und doch sind es am Ende nicht die Freier und
Möglichmacher:innen des Systems Prostitution, die sich schämen. Es
sind immer die Frauen.
29 Nov 2021
## LINKS
[1] /Kolumne-Blicke/!5054525
[2] https://www.rem-mannheim.de/ausstellungen/gesichtslos-frauen-in-der-prostit…
[3] https://www.diakonie-mannheim.de/ratsuchende.html?ta_id=50&ev_hide=1&am…
[4] /Diskussion-um-Strafen-fuer-Freier/!5647022
## AUTOREN
Elena Wolf
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