| # taz.de -- Ampel kurz vor Fertigstellung: Anarchie? Nie! | |
| > Zum Glück ist das Vakuum in Deutschlands Chef*innenetage bald vorbei. | |
| > Denn eine Regierung wollen und brauchen wir. | |
| Bild: Ein Hofnarr quetscht sich in jeder Regierung dazwischen | |
| Wir bekommen jetzt wahrscheinlich eine [1][Regierung]. Egal ob man die | |
| jetzt toll oder eher so na ja findet: Wir kriegen eine Regierung. Ohne eine | |
| Regierung ist kein Staat zu machen. Kann man sich überhaupt Länder, | |
| Gesellschaften, Gemeinschaften oder einfach Menschen vorstellen, die keine | |
| Regierung haben? Der Mensch ist ein Wesen, das eine Regierung braucht. | |
| Sonst ist er ein Wilder, und die sind, wenn es keine Menschenfresser sind, | |
| vielleicht manchmal edel, aber auch zum Aussterben verdammt. | |
| Schauen sie sich [2][Winnetou] an. Das war ein edler Wilder und außerdem | |
| ein Roter. Und sehen Sie, was aus ihm geworden ist. Und dann gibt es auch | |
| noch Anarchisten. Aber die gehören eh alle erschossen. Da sind sich Volk | |
| und Regierung meistens einig. Überhaupt weiß man nicht, vor welchem Zustand | |
| man mehr Angst haben sollte. Vor dem, wo sich Volk und Regierung | |
| gegenseitig bekriegen, oder vor dem, wo sie sich so was von einig sind. | |
| Das Volk und die Regierung schützen sich gegenseitig vor allem anderen. | |
| Diesen Zustand nennt man normal. Das Meiste, was Volk und Regierung | |
| verbindet, ist der Abscheu vor allem, was nicht normal ist. Der Mensch | |
| braucht eine Regierung. Sonst fällt ihm alles Mögliche ein. Oder vielleicht | |
| auch gar nichts mehr. Aber die Regierung braucht auch ein Volk und einen | |
| Staat, sonst macht das Regieren keinen Spaß. Eine Regierung will natürlich | |
| ein Volk, das ihr passt, und ein Volk will eine Regierung, die ihm passt. | |
| Das ist eine schwierige Beziehung, weil eine Regierung und ein Volk, die | |
| müssen sich gegenseitig lieben und gleichzeitig voreinander Angst haben, | |
| sonst wird das nichts. Das Volk muss an eine Regierung glauben, und eine | |
| Regierung muss an das Volk glauben. Nicht, dass man sich gegenseitig super | |
| finden müsste, nein, glauben muss man, dass die Gegenseite überhaupt | |
| existiert. | |
| ## Regierungen wechseln – das Volk nicht | |
| Stellen Sie sich vor, ein Volk merkt, dass es eigentlich gar keine | |
| Regierung hat, sondern bloß ein paar Hanseln und Greteln, die Regierung | |
| spielen, oder stellen sie sich vor, eine Regierung merkt, dass es | |
| eigentlich gar kein Volk gibt, sondern bloß Leute! Es ist schwierig. Daher | |
| gibt es seit der griechischen Antike schlaue Leute, die den Regierungen die | |
| Kunst des richtigen Regierens beibringen. Und es gibt Polizisten, | |
| [3][Geheimdienstler], Soldaten und Verwalter. Und immer gibt es auch so was | |
| wie Hof- und andere Narren. | |
| Das sind Leute, die unangenehme Wahrheiten über das Volk oder über die | |
| Regierung sagen. Man weiß nicht, was gefährlicher ist: unangenehme | |
| Wahrheiten über die Regierung oder über das Volk. Bei jeder Regierung gibt | |
| es drei Fragen: Ob es eine „rechtmäßige“ Regierung ist. Ob es eine starke | |
| Regierung ist. Ob es eine gute Regierung ist. Über die Rechtmäßigkeit | |
| bestimmt das Gesetz, also sagen wir eine Erbfolge oder eine Wahl. | |
| Über die Stärke bestimmt der entschlossene Einsatz von Regierungsmitteln | |
| und das Geld, das mit ihnen aus dem Volk für die Regierung zu holen ist. | |
| Und ob eine Regierung gut oder schlecht ist, darüber bestimmt jede*r, | |
| der/die sich traut, oder spätestens die Geschichte beziehungsweise Leute, | |
| die sie schreiben. Natürlich gibt es Regierungen, die von vornherein nicht | |
| funktionieren. Das ist weniger skandalös, als wenn es ein Volk gibt, das | |
| von vornherein nicht funktioniert. | |
| ## Keine Ordnung ohne Regierung | |
| Gut, dass man eine Regierung leichter auswechseln kann als ein Volk. | |
| Regieren heißt Macht ausüben, Ordnungen errichten, eine Ökonomie | |
| ermöglichen, die zugleich das Volk ernährt und eine der besagten Ordnungen | |
| aufrechterhält, die Grenzen des Staates „sichern“, und irgendwas mit | |
| Zukunft machen, bauen, planen, ordnen, richten, verhindern, Verträge | |
| schließen, Menschen einladen oder umbringen, Fortschritt generieren und | |
| nicht zuletzt: das Prinzip Regierung erhalten. | |
| Regieren ist ein System, in dem Gewalt zu Macht, Macht zu Ordnung, Ordnung | |
| zu Gesetz, Gesetz zu Common Sense geworden ist – in dialektischer | |
| Aufhebung, was bedeutet, dass selbst im Common Sense die ursprüngliche | |
| Gewalt in drei Formen enthalten ist: als praktischer Teil des Regierens, | |
| als Potenzial, mit dem noch stets gedroht werden kann, und als symbolische | |
| Feier bis in die Sprache hinein. | |
| Mit dem Prinzip Regierung haben wir erst „komplexe Gesellschaften“ | |
| ermöglicht. Aber eben auch ein Wesen erschaffen, das ohne das Prinzip | |
| Regieren nicht leben kann. Was gibt es indes Erbarmungswürdigeres auf | |
| dieser Welt als ein Wesen, das eine Regierung braucht? Dem eine | |
| Scheißregierung immer noch lieber ist als gar keine Regierung? Und das, | |
| wenn es schon einmal rebelliert, fast immer nicht weniger, sondern mehr | |
| Regierung verlangt, am liebsten gleich die totale Regierung? | |
| Im 16. Jahrhundert ist der Gedanke aufgekommen, dass jeder Mensch sich | |
| überhaupt erst einmal selbst regieren muss. Und dann müssen die Männer die | |
| Frauen regieren und die Reichen die Armen, die Fürsten die Untertanen, das | |
| Kapital die Arbeit und die weißen Männer den Rest der Welt und so weiter. | |
| Eine Staatsregierung versteht sich insofern von selbst, als sie es ja mit | |
| lauter Regierten, Regierenden und Miniregierungen zu tun hat. | |
| Die Regierenden sind nur die Mittler zwischen denen, die sich selbst und | |
| ihre Mitmenschen regieren und von ihnen regiert werden, und den | |
| Superregierungen, für die zum Beispiel die Götter (und ein bisschen die | |
| Göttinnen) zuständig sind, oder die Geschichte, das Schicksal, das Gesetz, | |
| irgendwas, was größer ist als der Mensch. Stellen wir uns für einen Moment | |
| lang einen Menschen vor, der sich unter einen Baum setzt und sagt: | |
| Eigentlich mag ich gar nicht regiert werden. | |
| Einen Menschen, der [4][sich impfen lässt], eine Maske trägt und sich die | |
| Hände wäscht, nicht weil es eine Regierung ihm sagt, sondern aus | |
| Freundlichkeit und Verantwortung gegenüber den anderen. Es gibt | |
| Regierungen, die eine anarchistische Sehnsucht entflammen. | |
| 24 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Georg Seeßlen | |
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