# taz.de -- Debatte um Boykott der Buchmesse: Eine dünne Eisdecke | |
> Das Recht, an einer Buchmesse teilzunehmen, muss so inklusiv wie möglich | |
> gehalten werden. Sonst übernimmt man das Gift jener, die man bekämpfen | |
> will. | |
Bild: An der Grenze des Tolerierbaren muss patrouilliert werden. Polizeistrafe … | |
Es ist eine bittere Erfahrung, dass kaum etwas Neues passiert. Auf der | |
Buchmesse haben rechte Verlage ausgestellt, Autorinnen of Color fühlten | |
sich bedroht, boykottieren die Messe, ein rechter Verlag bekommt mehr | |
Publicity, als er ohne den Boykott hätte erhoffen können – und zumindest | |
eine der boykottierenden Autorinnen auch. | |
Die Reaktionen teilen sich in [1][Solidarität mit der schwarzen Autorin] | |
und Abscheu gegen die Rechten auf der einen Seite, auf der anderen Seite | |
mit dem warnenden Hinweis darauf, dass die Buchmesse [2][wenig Handhabe | |
hat, Aussteller auszuschließen], solange sie sich nichts strafrechtlich | |
Relevantes haben zuschulden kommen lassen. Dagegen wird mit dem Rekurs auf | |
authentische Gefühle und Bedrohungserfahrungen reagiert wie mit dem leise | |
vorgebrachten Zweifel, ob subjektive Erfahrungen ausreichen, um rechtlich | |
zweifelhafte Entscheidungen zu treffen. | |
Bei der Verleihung des Friedenspreises an eine schwarze Autorin wird von | |
einer ebenfalls schwarzen Politikerin behauptet, Schwarze seien auf der | |
Messe nicht willkommen (der verdutzte Ortspolitiker hat keine Zeit, darauf | |
distanziert zu reagieren), während andere zumindest verschämt auf einen | |
performativen Widerspruch vor Ort verweisen. | |
Man kann sagen: Zum Fall ist alles gesagt, und irgendwie haben alle recht, | |
auch wenn sie sich widersprechen. Authentisches Erleben ist ohnehin nicht | |
kritisierbar, aber auch die rechtlichen Argumente stimmen. | |
Es ist schwer auszuhalten, dass es eine rechte Publizistik gibt, die die | |
Grenzen des Sagbaren sehr deutlich auslotet und die Kunst des Grenzregimes | |
an der Demarkationslinie zwischen Tolerierbarem und Unerträglichem ziemlich | |
gut beherrscht; aber es gilt auch der Satz, dass es nicht so einfach ist, | |
diese Demarkationslinie eindeutig und einseitig festzulegen. Dass es auch | |
rechtes Denken gibt, muss man wohl aushalten, wenn man in einer offenen | |
Gesellschaft leben will. Wo das Rechtsradikale und Extremistische beginnt, | |
ist sogar für Strafverfolgungsbehörden kaum objektiv zu klären. | |
## Vermintes Gelände | |
Das Feld ist ein vemintes Gelände, zu dem man kaum Stellung beziehen kann, | |
weil alle Stellungen schon bezogen sind – und wer seinen Standpunkt | |
verabsolutiert, unterschreitet die Gemengelage, die hier vorliegt. Übrigens | |
kommt man auch nicht mit Motivunterstellungen weiter. Man hat schon gehört, | |
der prominenten Boykotteurin sei ein Coup gelungen, weil sie mehr | |
Aufmerksamkeit erhalten habe, als sie sonst bekommen hätte – ebenso wird | |
den Rechten unterstellt, sie provozierten bewusst, damit die Dinge sich so | |
verknoten, wie sie es gerade tun. | |
Und wer zu bedenken gibt, dass das Knäuel zumindest dabei helfen kann, auf | |
die Schwierigkeit des Problems und die Unmöglichkeit der Entknotung durch | |
die allzu starke Erwartbarkeit aller beteiligten Rollen(zuschreibungen) | |
hingewiesen worden zu sein, wird womöglich als unsicherer Kantonist | |
angesehen, dem es an strammer Haltung gegen das Rechte fehlt. | |
Wenn aber diese Haltung gegen die rechte Zumutung einer völkischen | |
Einteilung der Welt nur dazu führen kann, dass solche verknoteten | |
Verhältnisse entstehen, gehen die Rechten als Sieger vom Platz, bevor sie | |
ein Wort gesagt haben. Die einen haben dann eine Haltung, die anderen | |
brauchen nur einen Stand auf der Messe. | |
## Die Grenze des Tolerierbaren | |
Wenn wir die Rechten und das Rechte loswerden wollen, müssen wir uns | |
vielleicht daran gewöhnen, dass es sie gibt. Dass es in der Demokratie auch | |
Rechte gibt, ist ohnehin unvermeidbar und auch legitim (es gäbe sonst keine | |
Linken, und wer das für ein Hufeisenargument hält, sollte so schwierigen | |
Dingen wie diesen Knoten nicht begegnen). | |
Wo die Tolerierbarkeit des Arguments aufhört und die Form der Bedrohung | |
beginnt, ist die entscheidende Frage. An dieser Grenze muss patrouilliert | |
werden, nicht an einer abstrakten Leugnung des Rechten als allzu präsenter | |
Teil der Gesellschaft, in der wir uns selbst immer schon befinden. | |
Vor diesem Hintergrund bekommt übrigens die genau genommen (performativ) | |
widersprüchliche Intervention während der Friedenspreisverleihung eine | |
subtilere Bedeutung, denn die Bedrohung der liberalen Gesellschaft geht | |
weniger von jenen aus, die sichtbar am Grenzregime zwischen Sagbarem und | |
Unsagbarem herumbauen, sondern von jenen Einstellungen, die wenig davon | |
wissen, dass sie zu jenem Syndrom gehören, das das Andere immer nur als | |
Anderes ertragen kann. | |
## Ambivalenzen der Anerkennung | |
Vielleicht ist die überbordende semantische Anerkennung nur die andere | |
Seite derer, die das Andere nur anders ertragen. Der offene Rassist | |
entlastet die alltägliche Obsession gegenüber dem Anderen, dem Exotischen, | |
dem angeblich Fremden, dessen Anerkennung und Aufwertung dann ziemlich | |
ambivalent wird. | |
In solche Probleme gerät man, wenn man den Knoten aufdröseln will. Rechte, | |
an der Grenze zum Rechtsradikalen wandelnde Verlage von der Buchmesse zu | |
verbannen, ähnelt der Selbstberuhigung, den eigenen Differenzblick in der | |
positiven Diskriminierung als blinden Fleck zu führen, der mehr der eigenen | |
Moral als der Rettung des Anderen dient. Wer den Anderen retten will, muss | |
in ihm immer noch den Anderen sehen. Der Selbstberuhigung in der | |
grenzenlosen Solidarität mit dem Anderen entspricht die Drastik, die | |
sichtbaren Sünder aus der Gemeinde zu vertreiben. | |
Ich will nur darauf hinaus, dass es keinen unbeteiligten und keinen | |
unschuldigen Blick gibt und geben kann – auch nicht für jene moralischen | |
Anklägerinnen, die die Eingemeindung der Opfer völkischen Denkens ins | |
Eigene durch drastische Maßnahmen promovieren wollen. Das verweist darauf, | |
wie entlastend im Diskurs über den Rassismus der bekennende Rassist ist, | |
den man von der Buchmesse expedieren kann. Aber das wäre schlicht zu | |
einfach – und davor muss man dann ehrlicherweise sogar die Rechten in | |
Schutz nehmen, solange sie nicht strafrechtlich auffällig geworden sind. | |
## Kalte Anwendung des Rechts | |
Am Ende zeigt sich, dass die einzige Möglichkeit, die dünne Eisdecke der | |
Zivilisation ausreichend stabil zu halten, nur durch eine möglichst kalte | |
(sic!) liberale Anwendung des Rechts gelingen kann: Das Recht, an einer | |
Buchmesse teilzunehmen (die übrigens in erster Linie eine Produktmesse ist | |
und weniger eine Kulturveranstaltung Gleichgesinnter, man muss nur mal | |
durch die Reihen gehen, was es so alles gibt), muss so liberal und inklusiv | |
wie möglich gehalten werden, sonst übernimmt man das Gift jener, die man | |
damit bekämpfen will. | |
Rechte stehen allen zu, solange keine Rechte anderer justiziabel | |
eingeschränkt werden. Wie gesagt, die dünne Eisdecke der Zivilisation | |
braucht diese Kältegarantie. | |
30 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Armin Nassehi | |
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