# taz.de -- Streit in der Kenia-Koalition: Abschiebepolitik entzweit Sachsen | |
> Die Landes-CDU will bei einer harten Linie bleiben, Grüne und SPD | |
> kritisieren die Pläne. Doch ob sie sich durchsetzen können, ist mehr als | |
> unklar. | |
Bild: Abgelehnte Asylbewerber*innen werden zum Flughafen Leipzig gebracht (Arch… | |
Leipzig taz | Der Streit über die Abschiebepraxis in Sachsen geht weiter. | |
Ein vom CDU-geführten Innenministerium erarbeiteter Leitfaden zur | |
Abschiebung abgelehnter Asylbewerber*innen stößt bei den | |
Koalitionspartnern Grüne und SPD auf scharfe Kritik. Diese hatten | |
Innenminister Roland Wöller (CDU) mehrfach aufgefordert, Regeln zur | |
Abschiebung aufzustellen. Der Leitfaden ist Teil des 2019 geschlossenen | |
Koalitionsvertrages. | |
Es sei „enttäuschend“, dass der Innenminister „nach so langer Zeit kein | |
besseres Papier“ vorgelegt habe, sagt Albrecht Pallas, innenpolitischer | |
Sprecher der SPD im Sächsischen Landtag, der taz. Mit dem Leitfaden | |
„Rückführungspraxis“ erwecke das Innenministerium erneut den Eindruck, | |
Abschiebungen seien sein wichtigstes Ziel. Auch die asylpolitische | |
Sprecherin der Grünen-Fraktion, Petra Čagalj Sejdi, findet: „Der Leitfaden | |
spiegelt nur die aktuelle Abschiebepraxis wider und entspricht damit nicht | |
unseren Abmachungen im Koalitionsvertrag.“ | |
In dem Vertrag heißt es, dass Abschiebungen „so human wie möglich und unter | |
besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls gestaltet werden“. Beides | |
treffe auf den Entwurf des Leitfaden aber nicht zu, bemerkt Čagalj Sejdi. | |
Die Opposition findet noch härtere Worte und kritisiert den „Leitfaden | |
Rückführungspraxis“ grundsätzlich: Statt Abschiebungen „besser“ zu mac… | |
müsse es darum gehen, Bleiberechte zu sichern, sagt Juliane Nagel von der | |
Linksfraktion. „Vor allem für diejenigen Menschen, die sich hier ein neues | |
Leben aufgebaut haben.“ | |
Auf besonders große Ablehnung stößt Innenminister Wöller bei den | |
Koalitionspartnern mit seinem Vorhaben, Sozial- und Jugendämter stärker | |
dabei einzubinden, abgelehnte Asylbewerber*innen zur freiwilligen | |
Ausreise zu bewegen. Die Ämter könnten auf die „nachteiligen Folgen“ | |
hinweisen, „die eintreten, wenn die ausländische Person ihrer | |
Ausreisepflicht nicht nachkommt“, heißt es im Entwurf des Leitfadens, | |
welcher der taz vorliegt. | |
## Sozialarbeiter:innen als Abschiebehelfer? | |
„Das ist ein sehr starker Eingriff in die Arbeit der Jugendämter und | |
gefährdet diese auch“, sagt die Grüne Čagalj Sejdi. Jugendämter müssten | |
Vertrauen zu Familien aufbauen, um ihrer eigentlichen Arbeit – Kinder und | |
Jugendliche zu betreuen und zu schützen – nachgehen zu können. „Wenn | |
Familien das Gefühl haben, dass das Jugendamt sie zur Ausreise überreden | |
will, dann werden sie sich kaum mit Problemen ans Jugendamt wenden.“ | |
Auch der SPD-Abgeordnete Pallas findet es falsch, Jugendämter einzubinden: | |
„Im Gegenteil müssen Jugendämter mit ihrem Blick auf das Wohl der | |
betroffenen Kinder und Jugendlichen eine viel stärkere Stimme bei der Frage | |
bekommen, ob Abschiebungen überhaupt zumutbar sind.“ | |
Der Leitfaden sieht außerdem vor, dass Abschiebungen künftig „soweit | |
möglich“ am Tag durchgeführt werden. In dem Papier heißt es aber auch: „… | |
eine Abschiebung zur Tagzeit nicht möglich, ist eine Vollstreckung zur | |
Nachtzeit in Betracht zu ziehen, insbesondere, wenn dies im Hinblick auf | |
den Abflugtermin erforderlich ist.“ | |
SPD und Grüne, die mehrfach gefordert hatten, Familien mit minderjährigen | |
Kindern nicht zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens abzuschieben, | |
kritisieren auch diese Passage deutlich. „Die Formulierung ‚soweit möglich… | |
ist schwammig und lässt Nachtabschiebungen von Familien mit Kindern weiter | |
zu“, moniert Čagalj Sejdi. Seitens der SPD heißt es: „Gerade für Familien | |
mit Kindern führt ein nächtliches Abholen zu traumatischen Situationen. Das | |
gilt es zu verhindern.“ | |
## Schwammig und vage | |
Darüber hinaus steht in dem Leitfaden, dass Familien bei einer Abschiebung | |
„möglichst“ nicht getrennt werden sollen. Seien jedoch alle | |
Familienmitglieder ausreisepflichtig, sei eine Trennung „nicht | |
grundsätzlich“ unzumutbar. Schließlich könnten die verbliebenen | |
Familienangehörigen laut dem Papier jederzeit freiwillig ausreisen – „so | |
dass die Trennung absehbar nur von vorübergehender Dauer ist“. | |
Mit dieser Formulierung legitimiere die CDU letztlich doch | |
Familientrennungen, kritisiert Čagalj Sejdi. Die Bedingung, dass alle | |
Familienangehörigen ausreisepflichtig sein müssen, treffe auf den Großteil | |
der abgelehnten Asylbewerber*innen zu. „Dadurch bleiben | |
Familientrennungen weiterhin möglich.“ Ihr sei schon klar, sagt Čagalj | |
Sejdi, dass Grüne und SPD die CDU „nie“ dazu bringen könnten, | |
Familientrennungen komplett zu verbieten. „Aber dieser | |
Formulierungsvorschlag, wie er jetzt im Entwurf steht, muss nachgebessert | |
werden.“ | |
Auch den Zusatz, dass Kinder bis drei Jahre nicht von ihren Eltern getrennt | |
werden sollen, kritisiert Čagalj Sejdi scharf. Es sei für alle Kinder | |
traumatisierend, wenn sie von einem Elternteil getrennt würden, „auch für | |
Kinder über zehn Jahre“. | |
Die Grünen-Politikerin bemängelt, dass der Leitfaden insgesamt durchzogen | |
sei von schwammigen Aussagen, die zu viel Raum für Interpretationen ließen. | |
So heißt es in dem Papier weiter, dass Minderjährige „grundsätzlich“ nic… | |
aus der Kita oder der Schule zur Abschiebung abgeholt werden sollen. Auch | |
eine Abholung vom Arbeitsplatz solle „möglichst“ vermieden werden. „Wir | |
verstehen unter Begriffen wie ‚möglichst‘ oder ‚grundsätzlich‘ etwas … | |
anderes als das Innenministerium“, sagt Čagalj Sejdi. Es brauche deshalb | |
klare Regeln, was erlaubt ist und was nicht. | |
## Eine echte Wende ist wohl nicht drin | |
Das sächsische Innenministerium will sich zu der Kritik von SPD und Grünen | |
derzeit nicht äußern. Zum Thema Nachtabschiebungen teilt das Ministerium | |
auf Anfrage mit: Nächtliche Abschiebungen seien bei vielen Herkunftsländern | |
„aufgrund der Reisezeiten schlicht unabdingbar“. Wenn die Betroffenen erst | |
am Nachmittag in Deutschland abflögen und somit spät in der Nacht im | |
Herkunftsland ankämen, dann sei es schwierig, weiterzureisen oder eine | |
Unterkunft zu finden. Auch andere Bundesländer würden nachts abschieben, | |
heißt es in der Antwort. | |
[1][Die schwarz-rot-grüne Regierung in Sachsen] streitet schon lange über | |
die Abschiebepraxis im Land. Schon bei den Koalitionsverhandlungen 2019 | |
[2][war das Thema ein Konfliktpunkt]. Zugespitzt hatte sich der Streit im | |
Juni dieses Jahres, als eine neunköpfige Familie aus Pirna nachts nach | |
Georgien abgeschoben wurde. Die Familie lebte seit acht Jahren in Pirna, | |
fünf der sieben Kinder waren in Deutschland geboren. Inzwischen ist die | |
Familie wieder in Sachsen, das sächsische Oberverwaltungsgericht hatte die | |
Abschiebung nachträglich als rechtswidrig eingestuft. | |
Der sächsische Koalitionsausschuss einigte sich zuletzt drauf, dass der | |
Leitfaden von einer Arbeitsgruppe, bestehend aus Innenministerium und den | |
fachpolitischen Sprechern der Fraktionen, überarbeitet werden soll. Bis | |
Jahresende soll ein Ergebnis vorliegen. Wann sich die Arbeitsgruppe das | |
erste Mal trifft, steht noch nicht fest. | |
Grüne und SPD hoffen darauf, ihre Forderungen noch durchsetzen zu können. | |
Čagalj Sejdi sagt aber auch: „Wir arbeiten beim Thema Abschiebungen an | |
einer 180-Grad-Wende, treffen bei der CDU aber auf erhebliche Widerstände.“ | |
Das Innenministerium habe letztlich gar kein Interesse daran, die Situation | |
zu verändern. Es finde den Jetzt-Zustand ja in Ordnung. Grüne und SPD | |
befänden sich in einer Zwickmühle, so Čagalj Sejdi: „Je härter wir bei | |
unseren Positionen bleiben, desto weniger wird sich überhaupt ändern.“ | |
26 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Rieke Wiemann | |
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