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# taz.de -- Thüringen mit Rot-Rot-Grün plus Schwarz: Suche nach Beständigkeit
> In Thüringen endet der Stabilitätspakt zwischen Minderheitsregierung und
> Opposition, aber Neuwahlen gibt es nicht. Was nun?
Bild: Bodo Ramelow und Susanne Hennig-Wellsow bei der Wahl zum Ministerpräside…
DRESDEN taz | Beim Jour fixe der Thüringer Landespressekonferenz lässt der
SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Hey eingepacktes Konfekt unter den
Journalisten herumgehen. „Weil es im Landtag ja auch so knistert …“ Nach
überstandenem Bundestagswahlkampf drängen in der Tat die ungelösten Fragen
der künftigen Regierbarkeit des Bundeslandes wieder in den Vordergrund. Von
der gescheiterten Kandidatur des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten
Hans-Georg Maaßen für die CDU in Südthüringen redet schon niemand mehr.
Ursprünglich sollte parallel zur Bundestagswahl am 26. September auch der
Erfurter Landtag vorzeitig neu gewählt werden. Einen Antrag zur
Selbstauflösung des Landesparlaments aber zogen Linke und Grüne im Juli
zurück, nachdem vier CDU-Abgeordnete der nötigen Zweidrittelmehrheit ihre
Stimme verweigerten. Einige ältere Abgeordnete fürchten angesichts der
schlechten CDU-Umfragewerte um ein erneutes Mandat. Nur etwa die Hälfte der
21 CDU-Abgeordneten soll nach Insiderinformationen eine Neuwahl
befürworten.
Nach den Ergebnissen der Bundestagswahl ist bei Linken und bei der Union
die Neigung weiter geschwunden, Thüringer Wähler noch einmal nach klareren
Mehrheitsverhältnissen zu befragen. Nun muss sich die rot-rot-grüne
Minderheitsregierung auf ein langfristiges Arrangement mit der Opposition
bis 2024 einstellen.
Demokratietheoretisch mag dieses in einem deutschen Bundesland einmalige
Experiment einer Koalition ohne eigene Mehrheit für den Zuschauer ja ganz
interessant sein, lächelt ebenjener Matthias Hey. „Als Protagonisten in
diesem Politiklabor aber werden wir viele Nerven lassen. Das wird eine der
härtesten Legislaturen, die wir je erlebt haben“, fügt er in einem Anflug
von Sarkasmus hinzu. Im Oktober 2019 hatte die zuvor fünf Jahre regierende
Koalition von Linken, SPD und Grünen bei der Landtagswahl ihre knappe
Mehrheit verloren. Das Erstarken der AfD und die Unmöglichkeit einer
Koalitionsbildung ohne sie führten zu einer Lähmung des Landtages.
## Ein einmaliges Experiment
Spektakulärer Höhepunkt war am 5. Februar 2020 die Wahl von
FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Hilfe der
AfD. CDU und FDP durchschauten das Täuschungsmanöver der AfD nicht, ihren
Scheinkandidaten im dritten Wahlgang fallen zu lassen und geschlossen für
Kemmerich zu stimmen. Dem bislang amtierenden Linken Bodo Ramelow fehlte
eine Stimme, erst vier Wochen später wurde er nach dem kläglichen Abgang
Kemmerichs erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Rot-Rot-Grün und die CDU
vereinbarten daraufhin einen sogenannten Stabilitätsmechanismus.
Diese Konstellation stellte ebenfalls einen in der bundesdeutschen
Parlamentsgeschichte bislang einmaligen Zwitter dar, weder eine Tolerierung
von Rot-Rot-Grün durch die CDU noch eine stille Koalition. Formal wahrte
die Union ihr Gesicht. Ihre sach- und projektbezogene
Konzessionsbereitschaft aber ermöglichte unter anderem die Verabschiedung
eines Haushaltes für das laufende Jahr. Die Absage an jegliches
Zusammengehen mit der AfD schloss zugleich eine Wiederholung des Eklats vom
Februar 2020 aus.
Bei unveränderten Mehrheitsverhältnissen steht Thüringen aktuell vor den
gleichen Problemen wie im Vorjahr. Das Kabinett hat den Haushaltsentwurf
2022 verabschiedet, in dieser Woche wird er dem Landtag zugeleitet. Der
Stabilitätsmechanismus aber ist formal ausgelaufen. Fühlt sich die CDU zu
neuerlicher punktueller Zusammenarbeit verpflichtet, nachdem ihre Fraktion
mangels Geschlossenheit die Zweidrittelmehrheit zur Selbstauflösung des
Landtages verhinderte?
„Wir sind zuerst unseren Wählern und der eigenen Überzeugung verpflichtet�…
gibt sich der Fraktionsvorsitzende Mario Voigt etwas verschnupft. Thüringen
doch aber auch? „Wir wollen Thüringen stabil halten, aber wir sind keine
Mehrheitsbeschaffer, sondern Opposition“, stellt Voigt die Seiltänzer-Rolle
der Union noch einmal klar. Auszubalancieren gilt es auch die uneinige
Fraktion mit ihren verschiedenen Gefolgschaften. Voigts Aussage „Ich sehe
derzeit keine Zweidrittelmehrheit für eine Landtagsauflösung“ klingt auch
deshalb nur folgerichtig.
## Gespräche ja, aber keine förmliche Vereinbarung
Sein Kollege Steffen Dittes von der Linken stellt zunächst einmal klar,
dass im Juli niemand die Neuwahlen formal abgesagt habe. Nach der Weigerung
von Teilen der CDU-Fraktion wollten auch zwei Linken-Abgeordnete die
fehlenden Stimmen nicht bei den vier verbliebenen FDP-Abgeordneten oder der
aus der FDP ausgeschiedenen Ute Bergner suchen. Und eine
Zweidrittelmehrheit mit Hilfe von AfD-Stimmen wollte erst recht niemand
riskieren.
Kommt nun ein neuer Stabilitätspakt oder wird die verbleibenden drei Jahre
täglich um neue Mehrheiten bei Haushalten und Gesetzentwürfen gerungen?
Gespräche ja, aber keine förmliche Vereinbarung, lässt sich die Haltung von
CDU-Fraktionschef Voigt zusammenfassen. Das ist nicht nur eine nette Geste,
sondern das erwartet auch die CDU-Klientel in der Thüringer Wirtschaft und
in den Kommunen.
Hinsichtlich einer „Haltelinie zur AfD“ wünschen sich die Linke als
stärkste Fraktion und die SPD eine Vereinbarung. „Und wenn es nur eine
Seite ist“, sagt Matthias Hey. Nicht nur Steffen Dittes traut der
heterogenen CDU-Fraktion nach wie vor zu, zur Durchsetzung eigener Vorhaben
mit AfD-Leihstimmen zu drohen, Rot-Rot-Grün also zu erpressen. Mario Voigt
wechselt zwar die Perspektive, antwortet im taz-Gespräch aber eindeutig:
„Für uns ist vollkommen klar, dass wir keinen Gesetzesinitiativen der AfD
zustimmen werden. Die Brandmauer steht!“
Der Linke Dittes sieht Räume und ein „nicht statisches“ interessantes
Spielfeld wechselnder Mehrheiten. Warum sollen die der Koalition fehlenden
vier Stimmen nicht auch aus der FDP kommen, zumal im Lichte der Berliner
Ampel? Man kann auch einen Köder für die Liberalen in dem Bemühen von RRG
sehen, den durch den Austritt Ute Bergners unter die Mindestfraktionsstärke
gerutschten Liberalen einen soliden Gruppenstatus zu verschaffen. Der war
bislang in der Geschäftsordnung nicht geregelt.
## Ein Ritt auf der Rasierklinge
Die SPD sieht sich als Vermittler im erwarteten Dauerstreit. Innenminister
und Landesvorsitzender Georg Maier spricht von einer Scharnierfunktion,
Fraktionschef Hey von der Rolle als Brückenbauer. So werde die Partei auch
von CDU und FDP betrachtet. Konfliktpunkte gibt es genug, bevor vielleicht
im kommenden Februar der Landeshaushalt verabschiedet werden kann. Die
Union bemängelt mangelnde finanzielle Solidität, Defizite bei der
Ausstattung der Kommunen, bei Investitionen in Bildung und Mobilität.
Matthias Hey fällt sofort der Streit um ein Landesaufnahmeprogramm für
Flüchtlinge ein.
Der Thüringer Landespolitik steht also ein Ritt auf der Rasierklinge bevor.
„Das bedeutet, dass sich alle mehr zusammenreißen müssen“, mahnt Mario
Voigt für die CDU an und fordert RRG auf, mehr konsensfähige Vorschläge zu
machen. Zugleich müssen die Parteien aber auch auf ihre Profilierung achten
– falls denn doch bei gegenseitiger Blockade vorzeitig neu gewählt werden
muss.
18 Oct 2021
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Thüringen
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