# taz.de -- Spanischer Comic: Fresko einer Epoche | |
> Die Geschichte einer Frau – Paco Rocas Graphic Novel „Rückkehr nach | |
> Eden“. | |
Bild: Bildausschnitt aus „Rückkehr nach Eden“ | |
Fünf Leute an einem Tisch, zwei Jungs und zwei Mädchen, die fast schon | |
erwachsen wirken, neben einer Frau mittleren Alters. Im Hintergrund ein | |
sommerlicher Strand. Entspannte Blicke in Richtung des Fotografen. Das Foto | |
ist schwarzweiß und stark vergilbt. Ein altes Familienfoto, das jedoch | |
viele Geschichten birgt. | |
Der 1969 geborene [1][spanische Comiczeichner Paco Roca] („Kopf in den | |
Wolken“, „Der Winter des Zeichners“) baut seine neue grafische Erzählung | |
„Rückkehr nach Eden“ auf diesem unscheinbar wirkenden Bild auf, kehrt immer | |
wieder zu ihm zurück. | |
Einen Rahmen bilden am Anfang und Ende des Buches schwarze Seiten, auf | |
denen der Autor zunächst philosophische Gedanken über die Existenz an sich | |
formuliert. Er spricht von lebendigen Teilchen, die durchs All schießen, | |
zeichnet diese gebündelt als Lichtblitze, die zu menschlichen Existenzen | |
führen. Winzig kleine Comicbilder kommen näher, werden immer größer, bis | |
die Geschichte von Antonia beginnt, die Roca hier erzählt, um sie vor dem | |
Vergessen zu retten. | |
Antonia ist Paco Rocas Mutter, die als Mädchen auch auf dem Foto zu sehen | |
ist, das 1946 am Strand bei Valencia entstanden ist. Sie steht im Zentrum | |
der Graphic Novel. Und obwohl sie nicht direkt zitiert wird, müssen fast | |
alle Erinnerungen und Details von ihr stammen, damit ihr Sohn sie in dieser | |
Form erzählen kann. | |
In der Gegenwart, nachdem die betagte Antonia zu einem ihrer Kinder gezogen | |
ist, sucht sie nach besagtem Foto. Geradezu verzweifelt fragt sie immer | |
wieder danach. Ihre drei Söhne suchen nun überall danach, um sie aus ihrer | |
Depression herauszuholen. Das Foto hatte sie immer bei sich, gehütet unter | |
der Glasplatte ihres Nachttischs. Nach einiger Zeit findet es sich. Und nun | |
fährt die Rückblende noch tiefer hinein in die Geschichte. Birgt das Foto | |
ein Geheimnis? Warum ist es so wertvoll für Antonia? | |
Paco Roca steigt so in das Porträt seiner Familie ein, das sich zum Fresko | |
einer ganzen Epoche entwickelt. Es ist das Spanien der frühen Franco-Ära, | |
der Bürgerkrieg (1936–39) ist bereits vorbei. Die Faschisten haben | |
gewonnen, doch die Männer in Antonias Familie haben aufseiten der | |
Republikaner gekämpft, weshalb die ganze Sippe auf der Hut sein muss. | |
Die Bevölkerung Valencias leidet Not, auch weil die Korruption und die | |
schlecht organisierte Rationierung der Lebensmittel das Elend noch | |
steigern, der Schwarzmarkt floriert. Antonia ist eines von sechs | |
Geschwistern. Während die Männer schlecht bezahlter Arbeit nachgehen, | |
verdienen die Frauen mit Hausarbeiten für die Nachbarn etwas dazu. | |
Roca porträtiert die Familienmitglieder in eigenen Kapiteln, arbeitet ihre | |
Charakterzüge heraus, mal mit Sympathie, mal unerbittlich. Der Vater | |
Vicente ist ein „Verlierer“, der in der Werkstatt seines kleinen Bruders | |
arbeiten muss, der älteste Sohn Pipo ein Lebenskünstler mit schlechtem | |
Toupet. Die Frauen sind hingegen meist tüchtig, wie Antonias Mutter Carmen, | |
die den ganzen Tag im Haus arbeitet und ihrer jüngsten Tochter alles Nötige | |
beibringt. Schulbildung hält sie – selbst Analphabetin – allerdings für | |
verzichtbar. | |
## Frömmigkeit und Träume | |
In ihrer Kindheit gibt sich Antonia Träumen hin, die den Hunger vergessen | |
lassen. Meist basieren sie auf den Erzählungen der Mutter – wie die vom | |
Ballonfahrer Don Milán, der für immer in den Wolken verschwand – und | |
vermischen wahre Begebenheiten mit naivem Volksglauben. Ihre Frömmigkeit | |
spiegelt sich in der blumigen Vorstellung vom biblischen Garten Eden wider. | |
Doch dieser ist nach dem Sieg Francos noch weniger für „die Roten“ | |
erreichbar als für viele andere. | |
In den bildstarken Visualisierungen der Fantasien Antonias und ihrer Mutter | |
schafft Roca berührende Momente. Doch auch die innerfamiliären Konflikte | |
stellt er dar. Großvater Vicente gebiert sich als autoritärer Patriarch, | |
verstößt eine seiner Töchter, als diese unehelich schwanger wird. Seine | |
Frau schlägt er regelmäßig. | |
Paco Roca lässt die Erinnerungen seiner Mutter in seinen sorgfältig | |
getuschten Zeichnungen lebendig werden, taucht sie in Grau-, Sepia- und | |
Brauntöne, sodass sie mit den in den Comic integrierten alten Fotografien | |
eine Einheit bilden. | |
## Alltägliche Sorgen realistisch dargestellt | |
Mit pointierten Strichen gelingt es ihm, seine Charaktere deutlich und | |
durchaus tiefgründig zu konturieren. Das Spanien der kleinen Leute mit | |
ihren alltäglichen Sorgen wird realistisch dargestellt und nicht | |
glorifiziert. Es ist nicht sehr verschieden von der Nachkriegszeit in | |
anderen europäischen Ländern. Nur hielt das Elend dort durch die Diktatur | |
wesentlich länger an. | |
Die – [2][heute von manchen Spaniern wieder nostalgisch verklärte – | |
Franco-Ära] demaskiert der Zeichner in einigen bissigen Sequenzen. So etwa, | |
wenn der Staat die Armen als Faulpelze und potenzielle Kriminelle offen | |
diskriminiert. Oder wenn die katholische Kirche in Person eines älteren | |
Paters gegen die Gegner des „Caudillo“ (Führers) in einer hasserfüllten | |
Predigt hetzt. | |
Ein Moment surrealer Komik entsteht, als die stets hungrige Antonia sich | |
daran erinnert, wie der Pater ein ganzes Huhn zu Mittag verspeiste. Sie | |
kann sich den Geistlichen fortan während der Predigten nur noch mit | |
Brathähnchenkopf vorstellen. | |
Paco Roca knüpft in „Rückkehr nach Eden“ an seine [3][2015 entstandene | |
Graphic Novel „La Casa“] an. In dieser verarbeitete er den Tod seines | |
Vaters, noch verschlüsselt autobiografisch, mit geänderten Namen. Im | |
Vergleich mit diesem feinen Kammerspiel ist „Rückkehr nach Eden“ vielmehr | |
ein eindringliches Gesellschafts- und Generationenporträt, das in Spanien | |
Schullektüre sein sollte. | |
## Hommage an die Mutter | |
Zugleich ist „Rückkehr nach Eden“ eine Hommage an die eigene Mutter, deren | |
teils verklärte, teils bittere Erinnerungen an eine vergangene Epoche hier | |
zum Glück vor dem Vergessen gerettet werden. André Höchemer hat Rocas | |
einfühlsame Erzähltexte mit großer Sensibilität ins Deutsche übertragen. | |
Paco Roca hat übrigens auch im aktuellen Batman-Sonderband „The World“ | |
(Panini Verlag) mitgewirkt. Künstler aus 14 Ländern von den USA bis Japan | |
zeichnen da kürzere Batman-Comics, die in ihren jeweiligen Ländern | |
angesiedelt sind. Paco Rocas Version ist die lustigste. | |
Sein Batman gönnt sich nach kräfteraubenden Kämpfen mit dem Joker einen | |
Incognito-Urlaub in Spanien. Flughafen, Hotelzimmer, Swimmingpool, | |
Urlaubsflirts. Bruce Wayne als ganz normaler Touri. Gepflegte Langeweile | |
konterkariert durch die regelmäßigen Audio-Nachrichten des Butlers Alfred, | |
mal „einfach loszulassen“. Doch wo ist das Kostüm Batmans geblieben? | |
26 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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