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# taz.de -- Verzögerung bei Prozess: Flüchtige KZ-Sekretärin gefasst
> Am Donnerstag sollte der Prozess gegen eine 96-Jährige beginnen, die im
> KZ Stutthof arbeitete. Erst gelang ihr die Flucht, nun wurde sie
> festgenommen.
Bild: Justizbeamter am Landgericht Itzehoe vor dem Prozessbeginn am Donnerstag
Itzehoe taz | Der Prozess gegen eine 96-jährige frühere KZ-Sekretärin im
schleswig-holtsteinischen Itzehoe drohte am Donnerstag zu platzen, noch
bevor er begonnen hatte. Irmgard F., [1][der Beihilfe zum Mord in mehr als
11.000 Fällen vorgeworfen wird], erschien am Donnerstagmorgen nicht vor
Gericht.
Der Vorsitzende Richter erklärte am Morgen, die Angeklagte sei flüchtig.
Die Kammer habe deshalb einen Haftbefehl erlassen. Am Nachmittag gelang die
Festnahme: Eine Gerichtssprecherin bestätigte, dass die 96-Jährige gefasst
und zum Landgericht gebracht wurde.
Dort sollte noch am Nachmittag nichtöffentlich entschieden werden, ob sie
für den weiteren Prozessverlauf in Haft kommt oder trotz der Flucht eine
Haftverschonung erhält. Der Prozess soll am 19. Oktober, dem nächsten
Verhandlungstag, fortgesetzt werden, dann auch mit der Anklageverlesung.
Offenbar handelte es sich um eine vorbereitete Flucht. Laut der
Gerichtssprecherin verließ die Angeklagte das Pflegeheim in Quickborn, in
dem sie wohnt, bereits am frühen Donnerstagmorgen. Ein Taxi habe sie zum
U-Bahnhof Norderstedt gebracht. Dort verlor sich ihre Spur. Ihr Anwalt Wolf
Molkentin, der pünktlich im zum Gerichtsaal umgebauten Logistikzentrum am
Rande von Itzehoe erschien, war von der Entwicklung offensichtlich
überrascht.
## Zustände wie in einem NS-Vernichtungslager
Schon zuvor hatte die Angeklagte in einem handgeschriebenen Brief an das
Gericht mitgeteilt, dass sie nicht vor Gericht erscheinen werde. Als Grund
nannte sie ihr Alter und ihren gesundheitlichen Zustand. Laut einem
Gutachten ist Irmgard F. jedoch verhandlungsfähig. Der Brief und ihre
Flucht weisen darauf hin, dass sie offensichtlich geistig fit und mobil
ist.
Irmgard F. befand sich bisher nicht in Untersuchungshaft. Dies war auch in
den anderen NS-Prozessen der letzten Jahre nicht der Fall, weil die Justiz
davon ausging, dass keine Fluchtgefahr bestand. Nur John Demjanjuk,
angeklagt wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibor, musste 2011
in eine Gefängniszelle einrücken, weil der aus den USA abgeschobene
Ukrainer keinen festen Wohnsitz in Deutschland besaß.
Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz-Komitee warf dem Gericht
vor der Festnahme von Irmgard F. vor, versagt zu haben. „Das Gericht muss
sich die Frage gefallen lassen, warum es nicht darauf vorbereitet war, dass
so etwas passiert. Dazu hätte es nicht kommen dürfen“, sagte er in Itzehoe
der taz. Die Angeklagte habe mit ihrer Flucht eine „zynische Verachtung“
gegenüber dem Rechtsstaat demonstriert. Heubner stellte die Frage, ob
Irmgard F. bei ihrer Flucht womöglich Hilfe von Rechtsradikalen erhalten
habe.
Der Angeklagten wird vorgeworfen, im Konzentrationslager Stutthof bei
Danzig als Sekretärin des KZ-Kommandanten dazu beigetragen zu haben, dass
während ihrer Zeit als Angestellte zwischen 1943 und 1945 mehr als 11.000
Menschen ermordet wurden. In dem Konzentrationslager herrschten nach
Angaben von Historikern vor Kriegsende 1944/45 [2][ähnliche Zustände wie in
einem NS-Vernichtungslager.] Etwa 65.000 Häftlinge kamen dort ums Leben,
unter anderem infolge der furchtbaren lebensfeindlichen Umstände wie
unzureichender Lebensmittel und fehlender medizinischer Versorgung. In
Stutthof wurden aber auch Menschen in Gaskammern ermordet und durch eine
Schussanlage getötet.
Irmgard F.s Tätigkeit in Stutthof war der bundesdeutschen Justiz schon seit
den 1950er Jahren bekannt. Sie wurde aber nur als Zeugin in anderen
Verfahren vernommen und zu keinem Zeitpunkt angeklagt. Sie selbst hat ihre
Anwesenheit in Stutthof bestätigt und in einer Vernehmung erklärt, dass die
gesamte Post des KZ-Kommandanten über ihren Schreibtisch gegangen sei. Von
den Massenmorden im KZ will sie nichts gewusst haben.
Die späten Ermittlungen gegen Irmgard F. erklären sich aus einer seit dem
Demjanjuk-Prozess veränderten Rechtsauffassung. Zu einer Anklage wegen
Beihilfe zum Mord galt es bis vor gut zehn Jahren als unerlässlich, dass
der mutmaßliche Täter eines individuellen Mordes überführt sein müsste.
Inzwischen hat der Bundesgerichtshof bestätigt, dass auch allein die
Anwesenheit in einem KZ, in dem Menschen planmäßig ermordet worden sind,
für einen Anklage ausreichen kann.
30 Sep 2021
## LINKS
[1] /Anklage-einer-ehemaligen-KZ-Sekretaerin/!5746851
[2] /Prozess-zum-Konzentrationslager-Stutthof/!5795726
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
KZ Stutthof
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