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# taz.de -- Wohnprojekt in Berlin: Wie eine lange, schwere Scheidung
> Gemeinsames Leben und Wohnen in der Baugruppe könnte so schön sein. Wenn
> nur die Menschen nicht wären? Von der Krise eines Traums in Berliner
> Toplage.
Prag, Sevilla, Odessa steht auf den kleinen Post-it-Zetteln, die auf einem
bunten Grundriss an der Wand kleben. In der „Spree WG 1“ ist seit Kurzem
jede Wohneinheit nach einem Sehnsuchtsort benannt. „Das war eine Idee von
dem Neuen, der bringt total gute Energie hier rein“, sagt Angelika
Drescher.
In der geräumigen Wohnküche in Berlin-Mitte, in der sie barfuß auf dem
Betonfußboden steht, duftet es nach Apfelkuchen. Von draußen schallen
Technobeats herein, auf einer Kreidetafel ist in krakeliger Schrift vom
heutigen Kuchen-Date zu lesen. Dennoch wirkt die 21-köpfige
Wohngemeinschaft, in der Familien, Pärchen, Alleinerziehende und Singles
leben, an diesem Samstag wie ausgestorben.
Die WG ist Teil der Bau- und Wohngenossenschaft „Spreefeld“. Das Projekt
gründete sich vor 14 Jahren, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Mit
Genossenschaftsanteilen und Baudarlehen kauften die Mitglieder sich 2010
ein großes Grundstück an der Spree, seit 2014 stehen dort drei Wohnhäuser
und bieten Platz für 140 Menschen.
Das Besondere an dieser Form des Bauens war, dass die
Genossenschaftler:innen von Beginn an freie Hand hatten. Sie
entschieden gemeinschaftlich, wie das Gelände genutzt werden sollte. Wie
viel Fläche sie für den gemeinsamen Gemüsegarten einplanen wollten und wie
viel für die Dachterrassen. Und auch für ihr Zusammenleben verfolgten sie
ein klares Ziel: Bei ihnen sollte der Raum allen gehören.
Damit könnte das Wohnprojekt eigentlich ein Vorbild für all diejenigen
sein, die gerade ähnliche Ambitionen haben. Der Wohnungsmarkt in der
Hauptstadt ist angespannt: Am Tag der Bundestagswahl stimmten 56,4 Prozent
der Berliner:innen für die Enteignung der großen Wohnkonzerne. Viele
wünschen sich eine neue Art des Wohnens – weg vom Eigentum hin zur
Genossenschaft. Aber wie gut funktioniert das Zusammenleben in einem
alternativen Wohnkonzept, wenn eine schöne Utopie plötzlich zu Realität und
Alltag wird?
Das „Spreefeld“ jedenfalls macht gerade die wohl härteste Zeit seit seiner
Gründung durch, denn mehr und mehr Mitglieder stellen das
Genossenschaftsprinzip in Frage. Plötzlich wollen viele ihre Wohnung kaufen
– und das ist ein Problem.
Das erfährt man an diesem Nachmittag von Angelika Drescher an der großen
Holztafel im offenen Wohnbereich. Drescher ist Architektin und
Genossenschaftsmitglied der ersten Stunde. Auf einer Zugfahrt von Berlin
nach Wien entschied sie sich mit ihrem Arbeitskollegen und heutigen
Mitbewohner Michael LaFond im „Spreefeld“ eine WG zu gründen. „Wir sind …
Überzeugung, dass der Mensch ein Gemeinschaftstier ist und wollten
ausprobieren, wie sich das Wohnen anders denken lässt“, sagt sie.
Doch genossenschaftliches Wohnen ist nicht billig. Die alleinerziehende
Mutter war daher auf die Unterstützung ihrer WG-Mitbewohner:innen
angewiesen. Die unterschrieben eine Bürgschaft und Drescher bezog mit ihren
beiden Kindern im Teenageralter die drei kleinsten Zimmer der WG.
Tochter Laura, heute 22 Jahre alt und immer noch Teil der WG, öffnet die
schwere Tür zu den Zimmern der Familie. Sie sind jeweils 14 Quadratmeter
groß, ausgestattet mit Möbeln aus der projekteigenen Werkstatt, die sich
zwei Etagen tiefer befindet. Viel Platz für Privates gibt es zwar nicht,
doch zwischen Büchern, Teetassen und Bilderrahmen sieht es gemütlich aus.
## Ein wahr gewordener Traum
Über ein Treppenhaus geht es hinunter in den Gemeinschaftsgarten. Hier
wirkt das Leben wie ein wahr gewordener Traum: In grün verwilderten Beeten
spielen Kinder Fangen. In einem der mietbaren Seminarräume sitzen
Südamerikaner:innen zwischen bunten Filzstiften und Karteikarten und
diskutieren. Außerdem gibt es auf dem Gelände noch einen Probe- und einen
Ausstellungsraum, einen integrierten Kindergarten, eine Sauna und sogar ein
Bootshaus, in dem ein kleines Schiff schaukelt.
Für die üppigen Gemeinschaftsflächen zahlt jede Partei rund sieben Euro auf
die eigene Monatsmiete obendrauf. Und die liegt auch bloß bei vier bis
sechs Euro pro Quadratmeter. Das ist für Berliner Verhältnisse nahezu
paradiesisch – und doch brodelt es in der Gemeinschaft seit Langem.
Da sind zuerst die alltäglichen Schwierigkeiten einer WG. Mit anderen
zusammenleben, heißt vor allem: Geduld haben. Das beste Beispiel hierfür
ist das Wohnzimmer der Spree-WG, das seit sechs Jahren im Umbau ist. Wegen
des offenen Zugangs zur Küche soll eine neue Lösung gefunden werden. Doch
vorher muss geklärt werden, was das Wohnzimmer für die Bewohner:innen
erfüllen soll: „Freunde treffen“, „Filme schauen“ oder „Ruhe haben�…
auf einem Zettel an der Wand. Damit sich niemand ausgeschlossen fühlt, wird
alles gemeinsam entschieden, in regelmäßigen Zusammenkünften nach dem
Konsensprinzip.
An den Kühlschranktüren heften Fotos von geselligeren Zeiten. Sie zeigen
die Mitbewohner:innen beim gemeinsamen Abendessen und bei
Gruppenausflügen. Doch seit Corona haben sie sich voneinander entfernt. Im
Gemeinschaftskühlschrank steht heute eine einzige Packung Sahne, während
die privaten Fächer gut gefüllt sind.
Zu Beginn des Lockdowns seien sie völlig überfordert gewesen, sagt Angelika
Drescher. Für eine WG mit 21 Bewohner:innen waren strikte Regeln
unerlässlich. Daher wurde bei wöchentlichen Zoom-Sitzungen, an denen
jede:r aus dem eigenen Zimmer teilnahm, Kontaktbeschränkungen und andere
Verhaltensgebote beschlossen. In den ersten Monaten hätten sie und ihre
Mitbewohner:innen keine Gäste empfangen dürfen, erzählt Drescher, und
auch in den Gemeinschaftsräumen sollten sie sich so weit wie möglich aus
dem Weg gehen. Das Privatleben derart offenzulegen, wie sie es voneinander
verlangten, habe zusätzlich zu Konflikten geführt. Plötzlich wurde
gemeinsam entschieden: Wer darf wen sehen?
Ihre Tochter Laura erzählt, dass für sie vor allem der Anfang der Pandemie
schwer gewesen sei: „Für mich war da die Situation mit Papa. Es wurde mir
nie irgendetwas vorgeschrieben, aber es ist schon komisch, wenn die WG
darüber diskutiert, ob sie es befürworten, wenn du deinen eigenen Vater
siehst.“ Um Abstand zu gewinnen, zog sie für zwei Monate in eine
Gästewohnung im Haus.
Die ständigen Diskussionen seien erst mit den gesetzlichen Lockerungen und
den Impffortschritten weniger geworden, sagen Mutter und Tochter. „Doch der
Tisch im Wohnzimmer wird einfach nicht mehr so voll wie davor, und so
richtige Aktionen wie Partys finden auch nicht mehr statt.“ Deshalb habe
man entschieden, regelmäßige Spieleabende zu veranstalten. Ein Wettkampf im
Stiefelweitwurf sei bereits in Planung.
Angelika Drescher ist dennoch zufrieden in der WG. „Das hier war mein
Experiment. Ich wollte wissen, ob aus Freunden und Bekannten eine Familie
werden kann.“ Die beiden Kinder mit ihren damals 13 und 14 Jahren waren vom
Entschluss der Mutter, aus der geräumigen Berliner Altbauwohnung in eine
große WG zu ziehen, hingegen schockiert. Laura Drescher schaut ihre Mutter
von der Seite an, dann lacht sie und versucht, zu Wort zu kommen, doch die
lässt sich nicht beirren. „Die Kinder haben ja von Anfang an gestreikt“,
sagt sie, „aber jetzt muss auch ich mir eingestehen, dass ich unsere
Kleinfamilie überfordert habe. Wir hatten einfach keinen Raum mehr für uns,
kein privates Nest.“
Laura Drescher unterbricht sie nun doch: „Ja, wir waren halt einfach noch
zu jung und gleichzeitig nicht mehr jung genug. Dieses konstruierte
Familienleben war einfach sehr überfordernd. Aber gleichzeitig ist es
natürlich auch genial, an so einem Ortaufzuwachsen, mit so viel Platz,
mitten in der Stadt …“ – dann fällt ihr wieder die Mutter ins Wort: „�…
aber die anderen Kinder von hier kommen ja auch aus einem intakten
Familienverbund. Das war bei uns anders.“ – „Meinst du jetzt wegen eurer
Trennung, oder was?“
Dann müssen beide grinsen. In der Spree-WG werden Familiendiskussionen eben
auf offener Bühne ausgetragen.
## Das Provisorische aushalten
Wenn man sich mit Angelika Drescher unterhält, taucht immer wieder der
Begriff der „Mehrheit“ auf. Eine überzeugende Mehrheit war für den
Stiefelweitwurfwettkampf und eine kleine Mehrheit für die Sehnsuchtsorte,
mit denen die Zimmer jetzt beschriftet sind. Drescher sagt, dass man mit
diesen Mitbestimmungsprozessen auch klarkommen müsse. Es dauere eben, bis
eine große Gruppe konsensorientiert entschieden hat. „Man muss aushalten,
dass die Dinge lange provisorisch sind.“ In der Spree-WG klappe das gut,
aber gesamtgenossenschaftlich könnten das viele nicht mehr ab.
Und tatsächlich: Während der letzten Jahre hat sich im „Spreefeld“-Projekt
die Frage nach dem Eigentum zum Hauptproblem entwickelt. Mehr als die
Hälfte der Mitglieder wollen ihre Wohneinheiten kaufen und aus der
Genossenschaft austreten. Bereits vor Baubeginn habe man sich in einer
gemeinsamen Satzung auf die Möglichkeit des Eigentumserwerbs geeinigt,
falls die Genossenschaft nicht zustande kommt. Zwar startete das Bauprojekt
gut, alles lief nach Plan, trotzdem wurde schon nach dem ersten Jahr immer
wieder darüber diskutiert, was passieren würde, wenn einige Mitglieder ihre
Wohnungen tatsächlich kaufen wollten. Nun wird diese Option Wirklichkeit.
Einer, der die Umwandlung von Genossenschafts- in Eigentumswohnungen
maßgeblich mit vorantreibt, ist Johannes von Gwinner. Als
Interessenvertreter der Neueigentümer:innen ist er bei den aktuellen
Diskussionen mit dabei. Bei einem Telefonat erzählt er, dass sich die
Debatte darüber, wem die Gemeinschaftsbereiche dann gehören würden, schnell
zu einer Art Grundsatzdebatte entwickelt habe: „Wir haben es hier mit einem
massiven Interessenkonflikt und total unterschiedlichen politischen
Grundansichten zu tun.“ Kommunismus oder Kapitalismus – das sei eine der
Fragen gewesen.
„Richtig schwierig wird es ja immer dann, wenn das Ganze in einem
ideologischen Streit mündet“, sagt von Gwinner. Wenn die anderen denken
würden, dass sie auf der richtigen Seite stünden und sich deshalb überlegen
fühlten. „Das hat hier tatsächlich stattgefunden und war eine richtige
Belastung für die Gemeinschaft.“
Dieser Konflikt sei es auch gewesen, der von Gwinners Meinung nach zu den
vielen Austritten aus der Genossenschaft geführt hat. Man habe einfach
nicht mehr von einer Gemeinschaft abhängig sein wollen, die sich auf
zwischenmenschlicher Ebene nicht mehr versteht. Aber auch er sei lange hin-
und hergerissen gewesen, denn eigentlich sei er von den Vorteilen des
genossenschaftlichen Wohnens überzeugt. Nur hier, in diesem Projekt, habe
es nicht funktioniert. Außerdem habe die Unabhängigkeit durch eine
Eigentumswohnung viele Vorteile.
Michael LaFond sieht man den Schmerz über die bevorstehende Trennung von
den vielen langjährigen Genossenschaftsmitgliedern an. „Das war wirklich
eine lange und schwere Scheidung“, sagt der Mitbewohner von Angelika
Drescher, als ob er von dem Ende einer Liebesbeziehung spricht. Vor Gericht
ging es in diesem Fall zwar nicht, aber eine externe Beratung musste
durchaus eingeschaltet werden.
Schließlich fängt LaFond sich wieder, lenkt die Aufmerksamkeit auf die
Probleme struktureller Natur: „Es liegt einfach an dieser neoliberal
geprägten Gesellschaft.“ Seiner Meinung nach würden die
Neueigentümer:innen nur nach außen hin sagen, dass es ihnen um ihre
persönliche Freiheit geht, „aber letztendlich geht es ihnen vor allem um
eine finanzielle Absicherung für die Zukunft. Darum, sagen zu können: Das
ist meins.“ Und das stört ihn vermutlich am meisten. Immerhin beschäftigt
sich der Architekt und ehemalige Hausbesetzer schon seit den neunziger
Jahren mit alternativen Wohnformen und forscht heute auf dem Gelände zu
inklusiver und gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung.
Für Johannes von Gwinner gehören Akteure wie LaFond und Drescher zu den
Auslösern der Lagerbildung im Projekt. Gerade bei den
Genossenschaftsbefürworter:innen gebe es viele Leute, sagt von
Gwinner, die sich auch beruflich mit dem Thema beschäftigten. „Solche
Projekte sind deren Thema und da gibt es neben dem persönlichen und
politischen Interesse auch einfach das Ziel, dass es beruflich klappt und
das eigene Renommee nicht darunter leidet.“
Die Austrittswelle aus der Genossenschaft ist derweil beachtlich. Von den
ehemals 90 Mitgliedern zählt sie heute nur noch 20 – was bedeutet, dass ihr
nur noch die Spree-WG als harter Kern erhalten geblieben ist. Und der
Konflikt zwischen Neueigentümer:innen und
Genossenschaftler:innen habe schon so manche Freundschaft gekostet,
erzählen die Bewohner:innen. So sei es durchaus schon vorgekommen, dass im
Garten plötzlich nur noch Käufer:innen zusammengesessen hätten oder man
es sich zweimal überlegt habe, ob man beim Sommerfest dabei sein wolle,
wenn es von der gegnerischen Partei organisiert wird.
Die Bewohner:innen erzählen aber auch, dass nach zwei Jahren
Auseinandersetzung endlich ein Kompromiss in Sicht sei. So habe man einen
neuen Zusammenschluss gegründet, der die privaten Eigentümer:innen und
die Genossenschaft als große Eigentumsgruppe miteinander vereint. Und nach
langem Hin und Her fallen die Büroräume im Erdgeschoss schlussendlich der
Genossenschaft zu.
## Zu guten Selbstkosten in Toplage gebaut
Das findet Johannes von Gwinner zwar unfair, sagt aber auch, dass er seinen
Frieden mit der Situation geschlossen habe. Für ihn ist das Projekt trotz
gescheiterter Ursprungsidee immer noch ein Erfolg: „Wir haben zu sehr guten
Selbstkosten in Toplage gebaut und die meisten sind einfach wirklich
glücklich hier.“ Außerdem wird sich durch die Umwandlung in Eigentum
zunächst nicht viel ändern. Dank eines neuen Zusammenschlusses aus
Eigentümer:innen und Genossenschaft können zumindest die
Gemeinschaftsflächen, das Boot und die Sauna wie bisher von allen genutzt
werden.
Dennoch: Wenn die neuen Eigentümer:innen ihre Einheiten verkaufen,
werden sie das voraussichtlich zu Berliner Marktpreisen tun, schätzt die
WG. Dann wäre die Idee vom billigen Wohnraum für alle in guter Lage
Geschichte. Michael LaFond ist dennoch überzeugt davon, dass ihm das Leben
in der WG mehr gibt, als es Eigentum jemals könnte. „Ich investiere lieber
in meine Nachbarschaft als in privaten Besitz“, sagt er, während er mit
kritischem Blick auf die Balkone der anderen blickt. Die Frage „Wie wollen
wir wohnen?“ ist eben keine leichte.
10 Oct 2021
## AUTOREN
Minou Becker
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