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# taz.de -- Überfälle im Westjordanland: „Alles ist immer noch surreal“
> 416 Gewaltakte gegen Palästinenser wurden 2021 im Westjordanland
> bereits dokumentiert. Ein besonders brutaler geschah in Khirbat
> al-Mufkara.
Bild: EU-Vertreter besuchen mit israelischen Menschenrechtsgruppen Masafer Yatt…
Khirbat al-Mufkara/Westjordanland taz | In der Herbstsonne glitzern die
Glasscherben, Tausende Scherben. Sie ziehen sich über den steinigen
Wüstenboden, von Fenster zu Fenster, hinein in die kleine Moschee des
palästinensischen Dorfes Khirbat al-Mufkara im Westjordanland südlich der
Stadt Hebron. Wenige Meter von der Moschee entfernt, im Haus der Familie
Hamamda, liegt das Glas noch Tage nach dem Angriff unberührt.
Auf einer schmalen geblümten Matratze sitzt Baraa Hamamda neben den
Scherben. Ihre Hände hat die dreifache junge Mutter ineinander gefaltet,
lässt immer wieder nervös ihre Finger knacken. Einem Blickkontakt weicht
sie aus. Stattdessen breitet sie ein Handtuch und einen kleinen Pullover
auf dem Boden aus. Das Blut auf dem Stoff ist getrocknet, beinahe schwarz
ist es nun.
Als am Dienstag vergangener Woche die Nachricht von den ersten Angriffen
durchdrang, war Baraa Hamamda mit anderen Bewohner:innen zu den Ziegen
gelaufen. Drei Tiere seien getötet worden, hieß es. Erst später wird ihnen
klar, dass das nur ein Ablenkungsmanöver gewesen sein muss: Während sich
das einhundert Seelen zählende Dorf um den Hirten versammelt, umstellen
Dutzende Bewohner der angrenzenden jüdischen Siedlungen Avigail und Havat
Maon das Dorf. Ihre Oberkörper sind nackt, mit Hemden maskieren die
Angreifer ihre Gesichter.
Bewaffnet mit Schleudern, Schlagstöcken und Messern seien sie von Tür zu
Tür durch das Dorf gegangen, berichten die Bewohner. Sie hätten Fenster
zerschlagen, Autoscheiben zertrümmert, Solaranlagen und Wasserspeicher
zerstört.
Im Haus der Familie Hamamda, so berichtet die Mutter, habe der dreijährige
Mohammed gerade seinen Mittagsschlaf geschlafen. So schnell sie kann, rennt
Mutter Baraa zurück. Ihre Schwägerin hat die zwanzig Kinder der Großfamilie
in einem Raum versammelt, gemeinsam ducken sie sich zum Schutz vor den
Steinbrocken. Die Kinder weinen. Dorfbewohner werfen draußen Steine auf die
Angreifer. „Aber es war unmöglich, auf einen von uns kamen fünf von ihnen�…
beschreibt die Situation ein Dorfbewohner am nächsten Tag.
Kurz nach Beginn der Attacke trifft nach den palästinensischen
Augenzeugenberichten die israelische Armee mit ihren Jeeps ein. Die
Soldat:innen hätten das Szenario beobachtet. Dann seien sie mit
Tränengas gegen die Steine werfenden Palästinenser vorgegangen. Zwölf
Palästinenser und drei Israelis werden verletzt.
„Immer noch denke ich: Das kann nicht sein, das war nicht mein Kind, das da
blutüberströmt und ohnmächtig neben einem riesigen Steinbrocken vor mir
lag. Alles ist immer noch surreal“, erzählt Baraa Hamamda zwei Tage danach.
Bis der Krankenwagen endlich das Dorf verlassen konnte, verging fast eine
Stunde. „Wir liefen zuerst zum Armeejeep. Der Krankenwagen wartete auf der
Hauptstraße. Die Siedler sprinteten dem Jeep hinterher und schlugen auf
meinen Schwager ein, der Mohammed im Arm hielt. Sie schrien: ‚Das sind
Araber, ihr sollt ihnen nicht helfen!‘“
Bis das Kind ins nächstgelegene israelische Krankenhaus eingeliefert wird,
vergeht eine gefühlte Ewigkeit. Seitdem hat Baraa ihren Sohn nicht mehr
gesehen. Eine Genehmigung, um nach Israel einzureisen, haben weder sie noch
ihr Mann. Mohammeds Onkel, der eine Arbeitserlaubnis besitzt, ist rund um
die Uhr bei dem Kind und schickt der Familie Videos. Sein Zustand ist
stabil, nur essen will der Junge nicht.
## Immer wieder Übergriffe südlich von Hebron
In den vergangenen Monaten haben sich Übergriffe von Siedlern auf
palästinensische Dörfer in der Hügellandschaft von [1][Masafer Yatta]
gehäuft, dort wo auch Khirbat al-Mufkara liegt. Menschen bewerfen
Dorfbewohner:innen mit Steinen, schneiden ihre Bäume ab, legen Feuer.
Nach Angaben der israelischen Zeitung Haaretz wurden in der ersten
Jahreshälfte 416 Akte von Gewalt und Vandalismus gegen
Palästinenser:innen im Westjordanland dokumentiert, einige davon
waren Racheakte. 2019 waren es aufs ganze Jahr gerechnet 363 gewesen.
In Gesprächen zwischen israelischen und palästinensischen Aktivisten in den
Dörfern fallen die Namen zweier Männer, die als Drahtzieher der Attacke
vermutet werden. Wahrscheinlich kamen sie während der Feiertage aus anderen
Siedlungen zu Besuch nach Avigail und Havat Maon. Der palästinensische
Journalist Basil al-Adraa aus dem benachbarten Dorf Tuwani ist sich sicher:
„Die jüngsten Angreifer sind minderjährig, die Ältesten Ende 20. Sie
betrinken sich, singen jüdische Lieder und werden gewalttätig. Aber dieses
Mal waren das keine spontanen Randalierer, das war sorgfältig geplant.“
Als sie die Nachricht von dem Angriff Mufkara Basil al-Adraa erreicht,
stürmen er und sein israelischer Freund gemeinsam in das Dorf. Dort
versuchen sie, die Ereignisse zu dokumentieren. Zu sehen ist, dass die
Kamera wackelt. Im Hintergrund sind Schreie zu hören. Nach wenigen Minuten
richtet ein Soldat seine Maschinenpistole auf den Filmenden und brüllt ihn
an aufzuhören. „Ich bin Fotograf und das hier ist mein Zuhause“, ruft Basil
al-Adraa zurück. Die Soldat:innen drohen ihm, er rennt, eine Schar von
Siedlern folgt ihm dicht auf den Fersen. Es gelingt ihm, fortzurennen.
Um gewalttätige Übergriffe von Zivilisten besser dokumentieren zu können,
wurden palästinensische Aktivisten von der israelischen
Menschenrechtsorganisation [2][B’Tselem] mit hochwertigen Kameras
ausgestattet. „Damit kann ich sehen, was die Siedler zu Abend essen und ob
es koscher ist“, witzelt Ali, ein palästinensischer Aktivist. Zwei Tage
nach der Attacke sitzen er, Basil al-Adraa und ihre israelischen Freunde
gemeinsam auf einem Aussichtsposten in der Hügellandschaft. Es ist die Ruhe
nach dem Sturm. Auf ihren Handys klicken sie sich schweigend durch
Instagram, jemand dreht eine Zigarette. Durch ihre Kameralinsen versuchen
sie, die Standorte der Siedler:innen und Soldat:innen zu
identifizieren – sie fürchten weitere Gewaltausbrüche. Es bleibt ruhig.
Die israelische Polizei habe, so heißt es, Mahmoud Hamamda, den Großvater
des verletzten Mohammeds, zur Zeugenaussage auf das Polizeirevier
einberufen. Heute noch soll er kommen. Plötzlich muss alles schnell gehen.
Die gefilmten Videos werden von der Speicherkarte auf den Computer
übertragen. Innerhalb weniger Minuten sitzt Mahmoud Hamamda gemeinsam mit
den Aktivisten im Jeep. Vielleicht, so hoffen sie, werden die israelischen
Behörden endlich jemanden bestrafen.
Mit seiner weißen Kufiya und seinem langen schwarzen Gewand steht der
67-jährige Mahmoud schließlich im Dunkeln am Eingang des Reviers. Auf
seinem Arm prangt eine Wunde, das Blut halb getrocknet. Auch ihn hat ein
Steinbrocken getroffen. „Was macht ihr hier so spät?“, fragt ein
Sicherheitsmann. Als Mahmoud Hamamda es erklärt, greift er nach seinem
Handy. Danach sagt er: „Wir haben deine Nummer nicht im System gefunden,
niemand hat dich angerufen.“
Nach über einer Stunde darf Hamamda in das Polizeirevier eintreten. Als er
zurückkommt, strahlt er fast. Nett seien sie gewesen, erzählt er. Er habe
ihnen das Videomaterial überreicht und die Namen der Unruhestifter genannt.
Die Eltern des kleinen Mohammed dürften ihn morgen im Krankenhaus besuchen,
darum würden sich die Behörden kümmern. Sechs Siedler seien festgenommen
worden.
## In diesem Fall kommen die Täter nicht davon
Tatsächlich sieht es so aus, als würde man die Täter nicht ungeschoren
davonkommen lassen – zu groß ist der Aufschrei in der israelischen
Öffentlichkeit. Ein Armeegeneral besucht die Familie Hamamda in ihrem
Zuhause. Außenminister [3][Jair Lapid] verurteilt die Gewalt auf Twitter
als „weder israelisch noch jüdisch“.
Shealtiel Zik, Sekretär in der Siedlung Avigail, zögert zunächst, mit der
Presse zu sprechen: Zu ungerecht sei die Berichterstattung. Aber dann
bricht es doch aus ihm hinaus: Man stelle die Menschen in Avigail als
Verrückte dar, dabei seien es ganz normale jüdische Familien. Niemand dort
würde diese Gewalt gutheißen – die Angreifer seien Jugendliche gewesen, die
über die Feiertage zu Besuch gekommen waren. Sie hätten zu viel getrunken,
die Situation sei außer Kontrolle geraten – man hätte sie provoziert. Dass
auch Araber Juden mit Steinen angriffen, würden die Medien nicht zeigen.
Dass Palästinenser:innen als die ewigen Opfer der Situation
dargestellt würden, ärgert ihn – mit der Realität habe das wenig zu tun. Es
sei Aufgabe des Staates, sich um diese illegalen gebauten Dörfer zu
kümmern: Worum es den Palästinenser:innen eigentlich gehe, sei die
Landnahme.
Am Tag nach Mahmoud Hamamdas Zeugenaussage werden vier der sechs
Tatverdächtigen freigelassen, zwei Minderjährige müssen in Haft bleiben.
Der kleine Mohammed wird am Abend aus dem Krankenhaus entlassen, seine
Eltern dürfen ihn abholen. Eine Spendenaktion israelischer
Aktivist:innen hat innerhalb weniger Tage umgerechnet rund 60.000 Euro
erbracht. Das ist viel mehr Geld, als der Schaden beträgt. Allerdings darf
im Dorf nichts zusätzlich gebaut werden, was die Armee als „illegale
Struktur“ abreißen würde.
Am Samstag, vier Tage nach dem Angriff aufs Dorf, kommen 400 Israelis und
Palästinenser:innen nach Masafer Yatta zum gemeinsamen Protest. Noch
nie waren hier so viele Menschen versammelt. Mit einem Marsch zwischen den
Dörfern bekunden sie den Familien in Mufkara ihre Solidarität. Einige haben
sich mit schwarzem Marker „Ich schäme mich“ auf ihre Handflächen
geschrieben.
Auch zwei Parlamentsmitglieder, Mossi Raz und Ofer Kassif, sind gekommen.
Suhad, Mohammeds Onkel, hält den Jungen auf dem Arm. Gemeinsam mischen sie
sich unter die Menge. In seinen kleinen Händen hält Mohammed eine große
palästinensische Flagge. Baraa Hamamda nimmt nicht an der Demonstration
teil. Aber als nach dem Protest Journalist:innen in ihr Haus kommen,
lächelt sie breit und erzählt von ihrem Glück: Ihr Kind ist zurück. Zum
ersten Mal hat es wieder anständig gegessen.
6 Oct 2021
## LINKS
[1] https://www.btselem.org/south_hebron_hills/masafer_yatta
[2] https://www.btselem.org/
[3] /Jair-Lapid-soll-Regierung-bilden/!5770390
## AUTOREN
Marina Klimchuk
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Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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