| # taz.de -- Klimakrise vertreibt Arten: Das große Wandern | |
| > Die Lebensräume für viele Tiere und Pflanzen verschieben sich in Richtung | |
| > der Pole. Viele bleiben dabei zurück – und neue Arten bringen neue | |
| > Krankheiten. | |
| Bild: Der Moselapollofalter hat wenig Chancen auf eine Zukunft | |
| Berlin taz | Die Kleine Alpen-Kuhschelle verwirrt mit ihrem Namen: In den | |
| deutschen Alpen gibt es diese Pflanze nämlich gar nicht. Zu Hause ist sie | |
| [1][im Harz], und weil die kühleliebende Pflanze zur Familie der Anemonen | |
| gehört, wird sie auch „Brockenanemone“ genannt. Beziehungsweise demnächst: | |
| wurde genannt. | |
| „Die Pflanze hat sich vor zunehmender Hitze immer weiter zurückgezogen, sie | |
| wächst nur noch ganz oben auf der Bergspitze, auf wenigen Hektar“, sagt | |
| Horst Korn, Leiter der Abteilung Internationaler Naturschutz beim Bundesamt | |
| für Naturschutz (BfN). Und auch dort werde sie es nicht mehr lange | |
| aushalten: „Es wird für die Brockenanemone selbst dort oben einfach zu | |
| warm.“ | |
| Wegen steigender Temperaturen haben sich die Lebensräume für viele Tiere | |
| und Pflanzen im weltweiten Durchschnitt bereits um rund 17 Kilometer pro | |
| Jahrzehnt in Richtung der Pole verschoben, umgerechnet 4,5 Meter pro Tag. | |
| [2][Bei stärkerem Klimawandel nimmt das Tempo zu], und viele Spezies werden | |
| dann schlicht nicht mehr hinterherkommen. | |
| Etliche Schmetterlingsarten zum Beispiel können nicht in kühlere Gebiete in | |
| den Norden weiterziehen, sie sind auf bestimmte Futterpflanzen für ihre | |
| Raupen angewiesen, die nur bei uns wachsen. Der Moselapollofalter | |
| beispielsweise – die Futterpflanze für seine Raupen, die Weiße Fetthenne – | |
| kommt weltweit nur an den felsigen Steilhängen im Moseltal vor. | |
| Normalerweise überwintern die Raupen bis zum April, aber wegen der | |
| zunehmend ausbleibenden Frosttage schlüpfen sie jetzt immer früher und | |
| finden kein Futter, weil die Fetthenne dann noch nicht herangewachsen ist. | |
| ## Hitzewellen dauern länger | |
| Für die 2021er Ausgabe seines [3][„Vulnerabilitätsberichts]“ hat der | |
| Deutsche Wetterdienst im Auftrag des Umweltbundesamtes die künftigen | |
| [4][Hitzewellen] mit neuesten Klimamodellen genauer simuliert. Demnach | |
| werden sie nicht nur häufiger, sondern auch länger. Früher dauerten | |
| Hitzewellen in Deutschland drei oder vier, höchstens mal fünf Tage. Bis | |
| Mitte des Jahrhunderts werde die Länge – regional unterschiedlich – um vier | |
| bis sieben Tage zunehmen, sich also mehr als verdoppeln. Bis Ende des | |
| Jahrhunderts drohe mancherorts sogar eine Verdreifachung. Die längsten | |
| Hitzewellen werde es dann im Berliner Raum geben, in Teilen des | |
| Oberrheingrabens (vor allem auf der Höhe des Pfälzer Waldes) und im | |
| südwestlichen Saarland. | |
| Das wird fatale Folgen für die Natur haben. [5][Das BfN hat mehr als 500 in | |
| Deutschland geschützte Tierarten untersucht] und ist zu dem Schluss | |
| gekommen, dass lediglich 11 Prozent von ihnen wohl relativ problemlos mit | |
| der zu erwartenden Klimaerhitzung klarkommen werden. Für 77 Prozent der | |
| untersuchten Tierarten bringt sie ein mittleres Überlebensrisiko, 12 | |
| Prozent werden als Hochrisikogruppe klassifiziert. | |
| ## Aggressive Verdrängung | |
| Andererseits überleben neuerdings Arten, für die es früher viel zu kalt in | |
| unseren Breiten war. Etwa die Pazifische Auster, die ursprünglich vor den | |
| Küsten Koreas und Japans zu Hause ist. „Seit 1962 ist die | |
| Jahresmitteltemperatur der Nordsee um 1,7 Grad gestiegen“, sagt Karen | |
| Wiltshire, Vize-Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts und Leiterin der | |
| Außenstelle auf Sylt. Beste Bedingungen für die Auster aus Asien, die sich | |
| aggressiv ausbreitet und die einheimische Miesmuschel längst zu einem | |
| großen Teil verdrängt hat – und damit ganze Nahrungsketten in Gefahr | |
| brachte: Heimische Enten oder Möwen ernähren sich von Miesmuscheln, die | |
| dicken, sperrigen Schalen der zugewanderten Austern können sie hingegen | |
| nicht knacken. | |
| Auch die Fischereibranche merkt das. Statt kälteliebender Speisefische wie | |
| Makrele oder Kabeljau finden die Fischer zunehmend Thunfisch oder Kalmare | |
| in ihren Netzen. In der südlichen Nordsee werden Sardinen bereits gezielt | |
| befischt, 2019 wurden 50 Tonnen gefangen. Verglichen mit den immer noch | |
| knapp 400.000 Tonnen Nordsee-Hering ist das alledings bislang kaum von | |
| Bedeutung. Die Fänge der Neuankömmlinge sind noch zu sporadisch, um die | |
| klimabedingten Verluste bei den früheren Fangarten auch nur annähernd | |
| auszugleichen. „Wir messen, dass sich die Nordsee doppelt so schnell | |
| aufheizt wie die globalen Ozeane“, sagt Wiltshire. Das liegt vermutlich | |
| daran, dass die Nordsee relativ flach ist und viele Flüsse in sie münden. | |
| Eine BfN-Studie ergab, dass die Artenvielfalt in manchen Regionen drastisch | |
| einzubrechen droht. In einem ersten Schritt ermittelten die Experten, wo | |
| die artenreichsten Pflanzenbiotope zu finden sind: in den Alpen und im | |
| Alpenvorland, in den süddeutschen Mittelgebirgen, in Teilen des Erzgebirges | |
| und der zentralen Mittelgebirge. 350 bis 450 der 550 untersuchten | |
| Pflanzenarten sind dort heimisch. Artenärmer sind die Küstenregionen und | |
| das deutsche Tiefland, wo 115 bis 200 der untersuchten Spezies gefunden | |
| wurden. | |
| ## Neuankömmlinge mit Tücken | |
| In einem zweiten Schritt betrachteten die Experten, was die absehbaren | |
| Klimaveränderungen für diese Pflanzenvorkommen bedeuten. Ergebnis: Bereits | |
| bis Mitte des Jahrhunderts gehen 15 bis 95 Arten an ihren jetzigen | |
| Standorten verloren. Besonders treffen wird es jene Gebiete, die sich schon | |
| stark erwärmt haben: der Rheingraben im Südwesten, Gebiete in Sachsen und | |
| Sachsen- Anhalt, am schwersten Brandenburg. Dort wird der Prognose zufolge | |
| bis zur Hälfte der heute anzutreffenden Pflanzen verschwinden. | |
| Die einwandernden Arten bringen oft Probleme mit. Beispielsweise der | |
| wärmeliebende Riesenbärenklau, der aus Kleinasien stammt und sich | |
| mittlerweile prächtig in unseren Breiten vermehrt. Dummerweise sondert die | |
| bis zu drei Meter hohe „Herkulesstaude“ einen giftigen Saft ab, der ihn | |
| besonders für Kinder zu einer gefährlichen Pflanze macht. Die | |
| [6][Asiatische Tigermücke] wurde erstmals 2014 am Oberrhein nahe Freiburg | |
| registriert, inzwischen sind die Überträger von tropischen Krankheiten wie | |
| Chikungungya-, Dengue- oder Gelbfieber in größeren Städten angekommen, in | |
| Freiburg, Heidelberg, sogar weit entfernt, im thüringischen Jena. | |
| Zecken übertragen Erreger wie Borreliose-Bakterien oder FSME-Viren, | |
| Letztere können zu gefährlichen Gehirnentzündungen führen. Galten früher | |
| nur Regionen ganz im Süden als Risikogebieten, hat das Robert-Koch-Institut | |
| inzwischen 164 Landkreise (und damit mehr als jeden zweiten überhaupt) zu | |
| solchen erklärt: 2019 kam mit dem Emsland in Niedersachsen erstmals ein | |
| Kreis in Norddeutschland hinzu. | |
| Muss der Mensch dafür sorgen, dass der Moselapollofalter überlebt? Brauchen | |
| wir Brockenanemone und Miesmuschel wirklich? Oder können die vielleicht | |
| weg? Horst Korn vom Bundesamt versucht die Antwort mit einer Gegenfrage: | |
| „Brauchen wir den Kölner Dom?“ | |
| Der Biologe meint das völlig ernst. Natürlich betreffe das Überleben | |
| bedrohter Spezies einen kulturellen Aspekt: „Wir Menschen haben | |
| Verantwortung – für das Überleben des Moselapollofalters genauso wie für | |
| den Erhalt dieses berühmten Gotteshauses.“ Denn die Erderwärmung sei ja | |
| kein Naturphänomen, „sie ist menschgemacht, also von uns“. | |
| 14 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Der-Borkenkaefer-und-sein-schlechter-Ruf/!5789292 | |
| [2] https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.1206432 | |
| [3] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/5750/publikatione… | |
| [4] /Neue-Studie-der-Welt-Wetterorganisation/!5794622 | |
| [5] https://www.bfn.de/themen/artenschutz/gefaehrdung-bewertung-management/gefa… | |
| [6] /Muecken-in-Berlin-und-Brandenburg/!5695637 | |
| ## AUTOREN | |
| Nick Reimer | |
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