# taz.de -- Politische Filme in Venedig: Höflichkeit als Waffe | |
> Die Filmfestspiele in Venedig erreichen die Zielgerade. Zum Abschluss | |
> geht es um einen Arbeitskampf sowie um Kritik am polnischen | |
> Staatsapparat. | |
Bild: Wie die polnische Justiz Familien zerrüttet: „Leave No Traces“ von J… | |
Der Wettbewerb auf dem Lido geht dem Ende zu, und noch scheint offen, wer | |
in diesem Jahrgang gewinnen wird. Auch wenn es mit den Filmen von [1][Paul | |
Schrader], [2][Jane Campion] und [3][Michelangelo Frammartino] einige sehr | |
unterschiedliche potenzielle Kandidaten für den Goldenen Löwen gibt, wobei | |
der italienische Beitrag des Letzteren zu den unwahrscheinlicheren Optionen | |
zählt. | |
Der Großteil des Wettbewerbs wartet mit sparsam und großzügig Erzähltem | |
auf, einiges davon recht geradlinig, vieles mit sicherer Hand, aber wenige | |
greifen zu überraschenden Mitteln. Was nicht unbedingt zu enttäuschenden | |
Filmen führt. | |
So hat Stéphane Brizé mit „Un autre monde“ seinen dritten Film über die | |
Härten der Arbeitswelt mit Vincent Lindon in der Hauptrolle beigesteuert. | |
Nach [4][„Der Wert des Menschen“] und [5][„Streik“] ist dies der stills… | |
Teil dieser Trilogie. Er erzählt zudem vielleicht die interessanteste | |
Geschichte, denn das Drama kennt diesmal nicht so klare Fronten wie in den | |
anderen Filmen, in denen der Kampf von arbeitslosem Individuum und | |
Institutionen („Der Wert des Menschen“) oder Gewerkschaftern gegen | |
Unternehmer („Streik“) geführt wurde. | |
In „Un autre monde“ wird auch gekämpft, aber innerhalb der Führungsebene | |
eines Unternehmens. Philippe Lemesle (Vincent Lindon) leitet die Fabrik | |
einer internationalen Firmengruppe. Er soll, wie die übrigen | |
Fabrikdirektoren, einen Sparplan in die Tat umsetzen. Will sagen: Leute | |
feuern. Doch obwohl sein engster Mitarbeiter rechnet und rechnet, findet | |
dieser keine Möglichkeit, Personal zu reduzieren, ohne den Betrieb | |
ernsthaft zu gefährden. Daher beschließt Philippe, einen anderen Weg zu | |
probieren. | |
Philippe muss danach zahlreiche Verhandlungen mit der französischen | |
Geschäftsführung durchstehen. Der Ton bei den Treffen ist meistens | |
sachlich, ruhig, zugleich markiert Brizé in diesen Szenen die eisige | |
Sprache der Höflichkeit als Waffe, mit der Karrieren beendet oder | |
Loyalitäten in unanständiger Form auf Kosten Untergebener eingefordert | |
werden. | |
## Stummer Protest | |
Brizé zeigt dabei, wie in den anderen beiden Filmen, viel und gern das | |
Gesicht Lindons in Großaufnahme. Diesmal variiert er jedoch stärker. | |
Besonders in einer Szene, in der Philippe und seine Frau Anne (Sandrine | |
Kiberlain) ihr zum Verkauf stehendes Haus vorzeigen, lässt er die Kamera | |
bei Lindon und Kiberlain verweilen, während die unscharfen Körper der | |
Interessenten wie Schatten um sie kreisen. | |
Eine wunderbar muffige Atmosphäre schafft hingegen der polnische Film „Żeby | |
nie było śladów“ (Leave No Traces) von Jan P. Matuszyński. Nach wahren | |
Ereignissen schildert er den Kampf der Dichterin Barbara Sadowska (Sandra | |
Korzeniak) um Gerechtigkeit für ihren Sohn Grzegorz Przemyk. Dieser stirbt, | |
nachdem er von der Polizei auf offener Straße verhaftet und auf der Wache | |
geschlagen wurde, an zahlreichen inneren Verletzungen. | |
Einziger Zeuge für die Polizeigewalt ist Grzegorz’ Freund Jurek (Tomasz | |
Ziętek). Da Sadowska die internationale Presse benachrichtigt und | |
Zehntausende die Beerdigung Grzegorz’ als stummen Protest begleiten, gerät | |
die Sache zur Staatsaffäre. | |
Matuszyński führt den polnischen Staatsapparat in seinem systematischen | |
Bemühen, die Angelegenheit zu vertuschen, mit gnadenloser Gründlichkeit | |
vor. Wie er einschüchtert, Familien zerrüttet, die Justiz gängelt. | |
Überzeugt auch als indirekte Kritik an der Justizreform der aktuellen | |
PiS-Regierung. | |
11 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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