# taz.de -- Hollywood-Besetzung in Venedig: Viel Lärm um weißes Rauschen | |
> Lidokino 2: Die Filmfestspiele von Venedig eröffnen mit „White Noise“ von | |
> Noah Baumbach. Was läuft sonst noch? | |
Bild: Adam Driver und Greta Gerwig in „White Noise“ | |
Es knallt gewaltig. Gleich mehrfach. Ein spektakulärer Autounfall jagt den | |
nächsten, Blech verbiegt sich, Fahrzeuge detonieren in riesigen | |
Feuerbällen, die himmelwärts schießen. Was in den ersten Minuten von Noah | |
Baumbachs „White Noise“ zu sehen ist, hat aber weniger mit einer frühen | |
Klimax-Verkettung zu tun als mit Film im Film. | |
Der Hochschullehrer Murray Siskind (Don Cheadle) hält seinen Studenten am | |
„College auf dem Hügel“, wie diese Bildungseinrichtung heißt, einen Vortr… | |
über Sinn und Ästhetik dieser Filmszenen. Statt Zerstörung sieht der | |
Professor darin eine Form von überschießendem Optimismus. | |
Baumbach hat damit einen geschickten Auftakt gewählt für seine Verfilmung | |
des gleichnamigen Romans von Don DeLillo aus dem Jahr 1985, mit der die | |
Filmfestspiele von Venedig am Mittwoch eröffneten. | |
In den achtziger Jahren spielt auch die Handlung um die Familie von Jack | |
Gladney (ein etwas aufgedunsener Adam Driver), Dozent für „Hitler-Studien“ | |
am genannten College, seiner Frau Babette (eine mit Korkenzieherlocken | |
ausstaffierte Greta Gerwig) und ihren vier auf unterschiedlichen Wegen zur | |
Familie hinzugekommen Kindern. Für die Eheleute wären die Szenen mit den | |
Autounfällen eindeutig Vorboten des Todes, vor dem beide ausdrücklich Angst | |
haben. | |
## Pandemien zur Pandemie? | |
In die neurotische Harmonie der Gladneys, in deren Alltag ununterbrochen | |
und schnell gesprochen wird, bricht ein „luftübertragener toxischer | |
Vorfall“, bei dem ein Zug mit hochgiftigen Chemikalien mit einem Lkw, der | |
Benzin geladen hatte, kollidiert. Hier leistet sich der Film eine „echte“ | |
Spektakelszene der Art, wie sie eingangs in Beispielen zu sehen waren. | |
Wenn anschließend der Ort evakuiert werden muss, könnte man den Eindruck | |
haben, Baumbach nutze das Ereignis, um Parallelen zur heutigen Pandemie zu | |
ziehen. Es kommt zu reichlich übersteigert-panischen Zuspitzungen, wie sie | |
im Film das vornehmliche Register sind, konterkariert von den zwanghaften | |
Versuchen der Gladneys, eine Art rationale Kontrolle selbst über | |
Katastrophen zu behalten. | |
Das ist mitunter lustig, hinterlässt aber einen Eindruck von eloquent | |
ausgebreiteter Leere. Weniger als Ausdruck einer existenziellen Erfahrung | |
denn als Ablenkungsmanöver davon, dass es hier nicht viel zu sagen gibt. | |
Eine der schönsten Einsichten, die von Murray Siskind bei einem der vielen | |
Besuche im farbenfroh inszenierten Supermarkt vorgetragen wird, während die | |
Protagonisten ihre Einkaufswagen durch installationskunstwürdige Regale | |
schieben, lässt sich auf die Formel bringen: Wenn Gott tot ist, findet man | |
Spiritualität allein noch im Warensortiment. Keine ganz neue Einsicht, die | |
Bilder dazu können sich zumindest sehen lassen. | |
## Eine Liebesgeschichte im Wald | |
Etwas frischer gibt sich die Nebenreihe „Orizzonti“, die mit „Princess“… | |
Roberto De Paolis eröffnete. Der italienische Regisseur erzählt in seinem | |
zweiten Spielfilm von nigerianischen Prostituierten, die illegal im Land | |
leben und vor den Toren Roms auf den Straßenstrich gehen. Wie die | |
titelgebende Princess führen sie ihre Freier in die Wälder und müssen dabei | |
aufpassen, nicht übers Ohr gehauen oder von berittener Polizei aufgespürt | |
zu werden. | |
De Paolis arbeitete vorwiegend mit Laien wie der energischen, scheinbar | |
mühelos die Aufmerksamkeit des Publikums einfordernden Glory Kevin. | |
Besonders stark sind die Szenen, in denen Princess und ihre Kolleginnen als | |
keinesfalls einträchtige wirtschaftliche Zwangsgemeinschaft gezeigt werden. | |
Princess lernt irgendwann während der Arbeit den Einzelgänger Corrado | |
kennen, der die Wälder durchstreift, um Pilze zu suchen oder seinen Hund | |
spazieren zu führen. Lino Musella, einer der wenigen professionellen | |
Schauspieler im Film, gibt ihn als sympathischen Sonderling. Die Geschichte | |
erinnert etwas an den [1][Film „Tori et Lokita“ von Jean-Pierre und Luc | |
Dardenne, der im Mai in Cannes lief]. De Paolis hebt seinen Zeigefinger | |
jedoch bei Weitem nicht so hoch wie die belgischen Brüder. | |
1 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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