| # taz.de -- Sachbuch über Berliner Biergeschichte: Die Hauptstadt des Brauens | |
| > Über die Geschichte des Bierbrauens hat der Historiker Henry Gidom ein | |
| > Buch geschrieben. Darin rekonstruiert er die einstige Bierhauptstadt | |
| > Europas. | |
| Bild: LKW der Berliner Schultheiss-Brauerei ca. 1948/49 | |
| Berlin taz | Berlin ist ja für vieles bekannt – Bier zählt heutzutage nicht | |
| mehr unbedingt dazu. Dabei war die Stadt im 19. und 20. Jahrhundert eine | |
| Zeit lang sozusagen die Bierhauptstadt Europas. Sie verfügte über eine | |
| riesige Brauindustrie, die auch über die Stadt hinaus große Bedeutung | |
| hatte. Wie es dazu kam, kann man im jüngst erschienenen Buch „Die | |
| Geschichte der Berliner Brauereien von 1800 bis 1925“ [1][von Henry Gidom] | |
| nachlesen. Der Historiker hat dafür buchstäblich tief gegraben. Er war | |
| jahrelang im Verein Berliner Unterwelten aktiv und stieß dabei auf die | |
| Keller der Großbrauereien, die über die ganze Stadt verteilt sind. | |
| Eng verknüpft ist die Geschichte der Brauereien in Berlin mit dem Aufstieg | |
| der Stadt: von der Hauptstadt des landwirtschaftlich geprägten Preußens zur | |
| Hauptstadt des Kaiserreichs und zur europäischen Metropole und der | |
| Industrialisierung. | |
| Typisch für Berlin war dabei über Jahrhunderte ein Getränk, das Berlin im | |
| Namen führt: [2][die Berliner Weiße]. „Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein | |
| war Bier ein Grundnahrungsmittel, kein Genussmittel“, sagt Gidom im | |
| Gespräch mit der taz. Der Alkohol verlangsamt das Keimwachstum: „Es war | |
| sicherer, Bier zu trinken als Wasser.“ Gebraut wurde zu Hause und in den | |
| Gastwirtschaften, die es an jeder Ecke gab. Die obergärigen Biere jener | |
| Zeit konnte man bei Zimmertemperatur in der heimischen Waschküche lagern. | |
| Bei der Weiße habe dann der Zufall eine Rolle gespielt. „Wahrscheinlich | |
| haben Religionsflüchtlinge aus Frankreich im 17. Jahrhundert die Hefe dafür | |
| unabsichtlich in ihren Fässern mitgebracht“, so Gidom. So sei der leicht | |
| säuerliche „Champagner der Armen“ entstanden. Die Herkunft konnte man auch | |
| an den Namen ablesen: Die großen Weißbierbrauereien Landré und Bolle hatten | |
| französische Wurzeln. | |
| ## „Bayrischbier“ in Berlin | |
| Anfang des 19. Jahrhunderts brachten Brauer auf Wanderschaft aus Schlesien, | |
| Böhmen und Süddeutschland die untergärige Brauart in die Hauptstadt des | |
| gewachsenen Preußens. Dabei setzt sich die Hefe auf dem Boden ab, statt | |
| oben zu schwimmen. Seinerzeit sei dieses Bier in Berlin als Bayrischbier | |
| bezeichnet worden, so Gidom. Die Herstellung ist aufwendiger und dauert | |
| länger. Die Hefen benötigen einstellige Temperaturen. Im Mittelgebirge | |
| nutzte man dafür Felsenkeller. Die gab es im sandigen und häufig morastigen | |
| Berliner Boden nicht. | |
| Doch neue Technologien machten es möglich, sozusagen künstliche | |
| Felsenkeller aus Gewölbe zu bauen. Deswegen und aus Platzgründen seien die | |
| Bierbrauer auf die Höhenrücken gezogen. An der Hasenheide, auf dem | |
| Kreuzberg oder dem Windmühlenberg – dem heutigen Prenzlauer Berg – entstand | |
| eine Vielzahl an neuen Brauereien. | |
| Einige davon kann man noch heute im Stadtbild erkennen – oft werden sie | |
| anders genutzt, manche stehen leer. So war die heutige [3][Kulturbrauerei] | |
| einer der wichtigsten Standorte von Schultheiß, auf dem Areal der früheren | |
| Unionsbrauerei an der Hasenheide sind heute Wohnungen. Straßennamen wie Am | |
| Sudhaus oder An der Brauerei erinnern daran. | |
| Oft betrieben diese Brauereien auch große Biergärten, so Gidom. Kundschaft | |
| gab es reichlich. Berlin wuchs. Anfang des 19. Jahrhunderts lebten laut | |
| Volkszählung 172.000 Menschen in der Stadt, 1861 waren es bereits mehr als | |
| dreimal so viele. | |
| Der nächste Schub in der Brauereitechnik kam mit der | |
| Hochindustrialisierung. Dampfmaschinen sorgten für Antrieb, und mit der | |
| Erfindung der Kältemaschine wurde die Produktion unabhängig von natürlichem | |
| Eis, das bis dahin im Winter aus zugefrorenen Seen gewonnen und eingelagert | |
| wurde. | |
| Aber die neue Technologie war sehr teuer, erklärt Gidom. Solche | |
| Investitionen konnten sich nur die großen Aktienbrauereien leisten, die | |
| nach der Reichsgründung entstanden waren. Es kam zu einer | |
| Konzentrationswelle. „In dieser Zeit entstanden Giganten“, so Gidom. | |
| Schultheiß etwa übernahm die Großbrauerei auf dem Kreuzberg in der heutigen | |
| Methfesselstraße. | |
| In dieser Zeit entstand auch der Direktvertrieb von Flaschenbier. Das | |
| untergärige Bier gärt nach der Abfüllung nicht nach und eignet sich deshalb | |
| besser für die Abfüllung in Flaschen. Ab 1880 wird Bier auch pasteurisiert | |
| und kann so weit transportiert werden. Die Entwicklung hat schon früher das | |
| Interesse der Wissenschaft erregt. [4][Friedensnobelpreisträger Gustav | |
| Stresemann] schrieb 1902 seine Doktorarbeit über „Die Entwicklung des | |
| Berliner Flaschenbiergeschäfts“. | |
| 1905 sei der Höhepunkt erreicht gewesen, sagt Gidom. „Berlin war die größte | |
| Bierstadt Europas.“ Weltweit wurde nur in New York noch mehr gebraut. Doch | |
| der Verdrängungswettbewerb war auch der Anfang vom Ende. Die Qualität hatte | |
| gelitten, „Man sprach abfällig von ‚Dividendenjauche‘.“ Der Erste Welt… | |
| traf die personalintensive Brauindustrie gleich an mehreren Stellen: Zuerst | |
| wurden die Lkws für das Militär eingezogen. Durch Seeblockade und den Krieg | |
| mit Russland fehlte es an Braugerste. | |
| Die Lebensmittelknappheit führte zu Rationierungen. „Auch der Reichstag | |
| beschäftigte sich mit der Bierfrage.“ Zu einem Bierverbot kam es aber | |
| nicht: Bayern hatte Einspruch eingelegt. Die Zuteilung von | |
| Rohstoffkontingenten heizte aber die Fusionen und Übernahmen in der Branche | |
| so an, dass in Berlin nach dem Krieg nur noch die ganz Großen wie | |
| Schultheiß, Kindl, Engelhardt und Patzenhofer übrig waren. „Schultheiß und | |
| Patzenhofer fusionierten 1920 zur größten Brauerei der Welt.“ Nach einem | |
| weiteren Rückschlag durch die Hyperinflation erholte sich die Brauindustrie | |
| ab Mitte der 1920er Jahre wieder. Die Vielfalt war allerdings dahin. | |
| Unter den Nazis wurde auch die Brauindustrie gleichgeschaltet. Jüdische | |
| oder sozialdemokratische Mitarbeiter oder Eigentümer wurden entlassen | |
| beziehungsweise enteignet. Die Keller wurden zur Rüstungsproduktion oder | |
| als Luftschutzbunker genutzt. Mit der Teilung Berlins wurde auch die | |
| Brauindustie auseinandergerissen. Den Brauereien im Westen fehlte fortan | |
| ein Teil des Absatzmarkts, im Osten fehlte es zunehmend an Rohstoffen. | |
| 21 Aug 2021 | |
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| [2] https://www.berlinerweissekultur.de/index.php/uber-uns-2/ | |
| [3] https://www.kulturbrauerei.de/gelaende/geschichte/ | |
| [4] /Profession-Politiker/!823851/ | |
| ## AUTOREN | |
| Marco Zschieck | |
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