# taz.de -- Israels Skaterinnen: Vereint durchs Board | |
> Bei den Jerusalem Skater Girls leben jüdische, christliche und | |
> muslimische Frauen ihren Sport aus. Nebenbei reißen sie gesellschaftliche | |
> Barrieren ein. | |
Bild: „Konsens ist kein Muss, Respekt ist das Ziel“, sagen die Jerusalem Sk… | |
Jerusalem erregt international hauptsächlich dann erhöhte Aufmerksamkeit, | |
wenn der Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser:innen | |
eskaliert. In der Außenwahrnehmung gilt die Metropole vor allem als Stadt | |
der Konflikte und der unterschiedlichen Religionen. | |
So im Mai dieses Jahres, als ein langjähriger Immobilienstreit zwischen | |
einer israelischen Siedlerorganisation und arabischen | |
Hausbewohner:innen im palästinensisch geprägten Stadtviertel | |
[1][Sheikh Jarrah] in landesweite Ausschreitungen und einen neuerlichen | |
Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen mündete. Alltägliches | |
wie Sport steht dementsprechend zumeist im Schatten der politischen | |
Ereignisse, außer der Jerusalemer Skandalverein und Fußballerstligist | |
Beitar Jerusalem sorgt wieder einmal für Schlagzeilen. | |
Doch das Leben der mehr als 600.000 Einwohner:innen dreht sich | |
selbstverständlich nicht nur um Politik, Religion und Konflikte. Jerusalem, | |
das ist auch das Zuhause von Intellektuellen wie [2][Sari Nusseibeh] und | |
dem 2018 verstorbenen Amos Oz – und auch von Initiativen wie den Jerusalem | |
Skater Girls, einem seit 2010 bestehenden Zusammenschluss junger | |
Skaterinnen, die sich für mehr Sichtbarkeit von Mädchen und Frauen beim | |
Skate-Sport in der Stadt engagieren. | |
„Angefangen haben wir zu zweit, heute sind wir 35 in Jerusalem, und im | |
ganzen Land ungefähr 150 aktive Skaterinnen“, erklärt Paola Ruiloba, eine | |
der beiden Gründerinnen der Vereinigung, die Entwicklung. Zusammen mit | |
Maayan Levi, der zweiten Gründerin der Jerusalem Skater Girls, hat sie von | |
Anfang an sehr viel Zuspruch und Resonanz aus der bereits aktiven, jedoch | |
ausschließlich männlichen Skate-Szene erfahren. | |
## Ein Ziel: Die Sichtbarkeit von Skaterinnen erhöhen | |
Heute sind die Jerusalem Skater Girls ein populärer und aktiver Teil der | |
Skater:innen-Gruppen im ganzen Land, die insgesamt über 850 aktive | |
Mitglieder vorweisen. „Momentan sind wir immer noch zu wenige Frauen im | |
Vergleich zum männlichen Teil der Szene, aber wir wachsen und wollen | |
präsenter werden“, beschreibt Paola Ruiloba die Ziele des Vereins. | |
Allerdings hat die Coronapandemie wie fast jeden Bereich des Alltags auch | |
den Radius des israelisch-palästinensischen Skate-Szene verengt: „Um unsere | |
Sichtbarkeit zu erhöhen, müssen wir Wettbewerbe und andere Events aufbauen, | |
aber die Einschränkungen durch die Pandemie haben unsere Arbeit quasi auf | |
null heruntergefahren.“ | |
Damit beschreibt Paola Ruiloba gleichzeitig die größte Hürde des Vereins, | |
was die Außenwahrnehmung betrifft. Solange Corona die Tagespolitik | |
dominiert, sieht sie keine Chance, den Skater Girls größere Aufmerksamkeit | |
zu verschaffen, außer durch die Präsenz in Skate-Parks im ganzen Land. | |
Nun könnte man vermuten, dass Politik und religiöse Bevormundung das größte | |
Hindernis für die Verständigung darstellen, doch diese beiden Faktoren sind | |
kein Problem für die Skater Girls: „Wir werden sogar von der Jerusalemer | |
Stadtverwaltung gefördert und ermutigt, solange wir uns zum Skaten auf | |
ausgewiesenen Plätzen aufhalten.“ | |
## Sie brauchen mehr Orte zum Skaten | |
Davon gibt es allerdings im ganzen Stadtgebiet lediglich einen, den | |
Skate-Park im Gan Sacher (Sacherpark) in Westjerusalem, in dem das Projekt | |
der Skaterinnen auch seinen Anfang nahm. „Stell dir vor, in einer Stadt | |
vergleichbarer Größe gäbe es nur einen einzigen Bolzplatz! Was wir dringend | |
brauchen, sind mehr Orte zum Skaten und eine restriktionsfreie | |
Veranstaltungspolitik.“ | |
Erstaunlich, dass der Zusammenschluss der Skater Girls in einer historisch, | |
gesellschaftlich und religiös derart überfrachteten Stadt lediglich vor | |
infrastrukturellen Problemen steht; die Politik ist nebensächlich. Derzeit | |
wird im Gan Sacher ein zweiter Skate-Park gebaut, aber auch nach dessen | |
Fertigstellung bleibt die lokale Szene Jerusalems im Vergleich zum Rest des | |
Landes, insbesondere zu Tel Aviv, strukturell benachteiligt. | |
Die gute Vernetzung innerhalb der Szene erlaubt es den Jerusalem Skater | |
Girls allerdings, Skate-Rampen- und -Parks im ganzen Land zu nutzen und | |
neue Kontakte zu knüpfen. | |
## Irgendwie doch ein politisches Statement | |
Auch wenn Gründerin Paola Ruiloba darauf besteht, dass die Jerusalem Skater | |
Girls keine spezifische politische Agenda verfolgen, so stellt die | |
Organisation an sich doch bereits ein Statement dar: Selbstorganisierte | |
skatende Frauen in einer Stadt, die wie keine andere von religiösem und | |
politischem Paternalismus dominiert wird, sind schlussendlich doch ein | |
Politikum. | |
So schildert Paola Ruiloba diverse Begegnungen mit lokalen Polizeibeamten, | |
da die Bedingung der Stadtverwaltung, ausschließlich im Sacherpark zu | |
trainieren, zugunsten des Adrenalinkicks auch hin und wieder großzügiger | |
ausgelegt wird. | |
Der Streetsport der Akteurinnen wirkt in Jerusalem immer noch derart | |
ungewöhnlich, dass die Beamten lieber in staunender Tatenlosigkeit | |
verharren, statt ihrer Aufgabe nachzukommen. „Man begegnet uns weniger mit | |
Feindseligkeit als mit Ungläubigkeit und Verunsicherung, vor allem seitens | |
der Männer.“ | |
Die Jerusalem Skater Girls sind zwar nicht die erste feministische | |
Organisation in der Stadt, wohl aber die erste, die weder politisch noch | |
religiös aktiv ist, anders als beispielsweise die Frauenrechtsorganisation | |
Women of the Wall. | |
Das Politikum des Skate-Vereins liegt in der Sichtbarkeit und der | |
sportlichen Betätigung von Frauen; und so sehr die Skater Girls ihren Fokus | |
auf den Sport legen und auch wenn die individuelle Motivation im | |
Vordergrund steht, so bestätigt Paola Ruiloba doch auch gleichzeitig, dass | |
es ihnen vor allem um das Einreißen gesellschaftspolitischer Barrieren | |
geht. | |
## Christliche, muslimische und jüdische Frauen | |
Wenn christliche, muslimische und jüdische Frauen zwischen 8 und 55 Jahren | |
einträchtig einen ihnen wichtigen Sport ausleben, der eine gewisse | |
Semilegalität transportiert, sind damit schon sorgfältig gehegte Strukturen | |
eingerissen, die mindestens seit der israelischen Eroberung des Jerusalemer | |
Ostens 1967 bestehen: „Die konfliktreiche Geschichte ist uns nicht wichtig, | |
Konsens ist kein Muss, aber Respekt ist das Ziel. Wir machen einfach unser | |
Ding“, umschreibt Paola Ruiloba das Gemeinsame der Skater Girls. | |
Während der landesweiten Unruhen und des Gazakriegs im Mai 2021 blieben die | |
Skaterinnen eher aufgrund elterlicher Sorge dem Skatepark fern und nicht | |
wegen möglicher politischer Auseinandersetzungen. | |
Dabei könnte die Herkunft der einzelnen Mitglieder nicht unterschiedlicher | |
sein, junge Frauen aus der ultraorthodoxen Gemeinde Jerusalems sind | |
dabei, genau wie säkulare Jüdinnen und Palästinenserinnen. Das führte | |
schließlich dazu, dass nicht nur die Neuzugänge in die Grundlagen des | |
Sports eingeführt werden, sondern parallel auch Sprachunterricht für alle | |
Beteiligten angeboten wird. | |
## Sprachbarrieren sind Hindernis | |
Das größte Hindernis sei laut Paola Ruiloba nämlich nicht die | |
konfessionelle Vielfalt, sondern die handfesten Sprachbarrieren. Viele | |
sprechen entweder nur Englisch oder aber ausschließlich Hebräisch, die | |
palästinensischen Mitglieder wiederum haben den Vorteil einer | |
zweisprachigen Erziehung. Skaten ist dadurch zu einer Form koexistenzieller | |
Arbeit geworden, ohne diese öffentlich zu propagieren. | |
Der einzige definitive Konsens und die gemeinsame Motivation ist der | |
Anspruch, eine solide und offene Skaterinnen-Szene in Jerusalem zu | |
etablieren, allen inneren und äußeren Widerständen zum Trotz. „Uns geht es | |
um Empowerment und um Wettbewerbsfähigkeit. Die Olympischen Spiele in Tokio | |
haben uns dahingehend einen ordentlichen Push gegeben.“ | |
Als Vorbild dient vor allem die 13-jährige Britin Sky Brown, deren | |
Bronzemedaillengewinn [3][beim Skate-Wettbewerb der Olympischen Spiele] | |
Paola Ruiloba als wichtiges Signal und als sichtbares Symbol auch für die | |
israelisch-palästinensische Skate-Szene ist. Die Jerusalem Skater Girls | |
erhoffen sich dadurch einen Push für die Popularität der Sportart und eine | |
Professionalität des (weiblichen) Skate-Sports in naher Zukunft, einen | |
regen Zulauf und ein Stück weit mehr Anerkennung in der | |
israelisch-palästinensischen Sportwelt. | |
18 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Zwangsraeumungen-in-Ostjerusalem/!5786566 | |
[2] /Tagung-des-Goethe-Instituts-in-Berlin/!5018850 | |
[3] /Skateboarden-bei-Olympia/!5786665 | |
## AUTOREN | |
Tobias Grießbach | |
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