# taz.de -- Satirischer Roman von Jörg-Uwe Albig: Wackliges Unternehmensmodell | |
> Amüsant für die Geiseln des Marktes: Die kapitalismuskritische Satire | |
> „Das Stockholm-Syndrom“ von Jörg-Uwe Albig läuft nicht ganz rund. | |
Bild: Kunstsammler Frido von Sendmühl wird in dem Buch in einer Berghütte gef… | |
Doch, wer der Coaching- [1][und Optimierungskultur] unserer Tage und deren | |
inhärentem Neusprech skeptisch gegenübersteht, der wird sich mit diesem | |
Roman des Öfteren gut amüsieren. Das liegt in erster Linie an der | |
Ich-Erzählerin Katrin Perger, die nach abgebrochenem Psychologiestudium und | |
einer Arbeit als Familientherapeutin nun als Business-Coach bei der Firma | |
Human Solutions eingestellt wird. Gegenüber jenen, die sie coacht, sagt sie | |
Dinge wie: „Wie geht es Ihnen heute mit Ihrem Thema?“, „Ich möchte Ihnen | |
gern einmal spiegeln, wie Ihr Verhalten auf mich wirkt“ oder „Ich lade Sie | |
ganz herzlich ein, dabei mit mir zusammenzuarbeiten“. | |
Doch das junge Unternehmen, bei dem Katrin Perger anheuert und das sich in | |
der Selbstbeschreibung mit blumiger Prosa schmückt, ist keine normale | |
Firma. Human Solutions hat sich auf Entführungen spezialisiert und sondiert | |
den Markt nach geeigneten Opfern. | |
Ihr aktueller „Klient“ ist der Kunstsammler Frido von Sendmühl, den man auf | |
einer Berghütte gefangen hält. Coach Katrin Perger wiederum verfügt über – | |
allerdings etwas dünne – Expertise in Sachen Entführungsopfer: In ihrer | |
unvollendeten Diplomarbeit hat sie sich mit dem als Stockholm-Syndrom | |
bekannt gewordenen Phänomen beschäftigt, nach dem sich Geiseln mit ihren | |
Geiselnehmern solidarisieren – und dieses Prinzip auf den Kapitalismus | |
übertragen. Nach dem Motto: Wir sind alle Geiseln des Marktes, er hält uns | |
gefangen, aber wir lieben ihn. Der Titel ihrer Arbeit: „Das | |
Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“. | |
Das neue Buch des [2][Journalisten und Schriftstellers Jörg-Uwe Albig], das | |
genauso heißt, ist, man ahnt es, eine Kapitalismussatire. In der Handlung | |
macht Albig sich einerseits über die Start-up-Kultur lustig und darüber, | |
was der Business-Slang im Zeitalter des Digitalkapitalismus verschleiert. | |
Anderseits seziert er den (Selbst-)Optimierungswahn unserer Zeit. Albig hat | |
zuletzt die gefeierte Satire „Zornfried“ (2019) vorgelegt, in der er den | |
medialen Umgang mit neurechten Thinktanks, wie Götz Kubitschek sie | |
betreibt, thematisiert. | |
## Nicht einen Cent wert | |
Wie wacklig das Unternehmensmodell von Human Solutions ist, soll sich | |
gleich im Fall Frido von Sendmühl zeigen. Denn niemand aus seiner Familie | |
ist bereit, die von der Firma geforderten Millionen zu zahlen. Sowohl | |
Geisel als auch Geiselnehmer geraten so in eine Krise, beide haben einen | |
Coach wahrlich nötig. | |
So erfährt Frido von Sendmühl schmerzlich, dass er seiner Familie und | |
seiner Frau nichts wert ist, was Therapeutin Perger ihn auch wissen lässt, | |
als sie ihn in seinem Verlies besucht: „Ich will keine voreiligen Schlüsse | |
ziehen, fuhr ich fort. Aber man könnte die Hypothese aufstellen, dass Sie | |
ihr [seiner Frau] nichts wert sind. Nicht zwanzig Millionen, nicht zehn, | |
nein, nicht mal einen einzigen Cent. […] Wie geht es Ihnen, fragte ich mit | |
gedämpfter Stimme, wenn Sie das hören.“ | |
In dieser scheinbar ausweglosen Situation, die Albig da heraufbeschwört, | |
spiegelt sich das Stockholm-Syndrom natürlich in genau jener zweifachen | |
Hinsicht, die in der Diplomarbeit behauptet wird. Das ist geschickt | |
angelegt. Neben der Haupthandlung streut Albig Passagen aus dieser | |
unfertigen Abschlussarbeit ein, darin stehen Aussagen von Entführungsopfern | |
wie [3][Natascha Kampusch] neben soziologischen Thesen über den heutigen | |
Kapitalismus und Schriften über Sadomasochismus. | |
Das ermüdet in der Redundanz manchmal, denn es läuft oft auf ähnliche | |
Schlussfolgerungen hinaus. Das klingt dann so: „Wie der moderne | |
Kapitalismus sagt der Geiselnehmer zu seinen Geiseln: Wir sitzen alle in | |
einem Boot. Wenn es mir gut geht, habt ihr es auch gut. Wenn es mir | |
schlecht geht, seid ihr verloren.“ | |
Was Albig gut gelingt, ist die Leerformeln der schönen, smarten neuen | |
Unternehmenswelt zu entlarven. Gut unterhalten nimmt man auch so manchen | |
Kalauer in Kauf (eine Firma, die mobile Toiletten vermietet, heißt etwa | |
„Lokus Pokus“, hm …). | |
Mit der Analogie zwischen Stockholm-Syndrom, Kapitalismus und | |
psychosexuellen Phänomenen, wie sie hier aufgemacht wird, geht es einem | |
aber zuweilen wie mit der Diplomarbeit von Katrin Perger: Sie scheint ein | |
bisschen unfertig, es scheint alles zu einfach aufzugehen, und man kann | |
ihre Annahmen – so wie ihr Professor in der Handlung – durchaus anzweifeln. | |
Dass die in Teilen wirklich gelungene Satire auf diesem Gedankenspiel | |
basiert, das eher an der Oberfläche bleibt, ist somit ein Grundproblem | |
dieses Buchs. | |
24 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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