# taz.de -- Psychiatrische „Zuhausebehandlung“: Überwindung der Drehtür | |
> In Schleswig-Holstein arbeiteten mehrere Kliniken mit Regionalbudgets. | |
> Eine von ihnen ist die Klinik für Psychiatrie in Heide in Dithmarschen. | |
Bild: Wenn Tiere Stress spüren, merken auch die Menschen, dass sie ihn verbrei… | |
HEIDE taz | Smilla reicht’s: Bellend springt die Border-Collie-Hündin auf, | |
statt für das Foto zu posieren. Richtig so, findet ihre Besitzerin | |
Christina Freytag. „Die Tiere zeigen, wenn es ihnen zu viel wird, wenn | |
Hektik herrscht.“ Für Menschen, die an Stress litten, sei es wichtig, | |
solche Reaktionen zu erleben, sagt die Leitende Psychologin der Klinik für | |
Psychiatrie am Westküstenklinikum Heide. | |
Der therapeutische Tierpark, der auf einer Freifläche am Rand des | |
Klinikgeländes liegt, ist Freytags Herzensthema. Vor 13 Jahren begann das | |
Projekt als Streichelzoo, heute werden Pferde, Hunde, Esel, Ziegen, | |
Meerschweinchen und Alpakas in der täglichen Arbeit der Klinik eingesetzt – | |
Smilla trägt ein Namensschild, das denen der menschlichen Fachkräfte des | |
Kreiskrankenhauses gleicht. Dass sich die psychiatrische Klinik diese | |
besondere Abteilung leisten kann, liegt an Freytag und ihrer Kollegin | |
Diotima Csipai, aber es liegt auch am Regionalbudget. | |
„Eigentlich ist das Budget nur eine Abrechnungsmethode“, sagt der | |
Psychiater Thomas Birker, Chef der psychiatrischen Klinik im | |
Allgemeinkrankenhaus. „Also müsste man eigentlich gar nichts an der | |
Arbeitsweise ändern. Aber das Budget eröffnet Möglichkeiten, und die haben | |
wir genutzt.“ | |
Normalerweise rechnen Krankenhäuser nach Fallpauschalen ab. Jeder | |
Behandlung, ob Blinddarm-OP oder die stationäre Therapie einer | |
Schizophrenie, ist ein Betrag hinterlegt, der sich an durchschnittlichen | |
Zeiten und Kosten orientiert. Gewinn macht eine Klinik, wenn sie einen | |
Kranken überdurchschnittlich schnell entlässt. Anders gesagt: Ein Bett | |
wirft am meisten Geld ab, wenn es möglichst oft mit neuen Kranken belegt | |
wird – oder mit den immer gleichen Kranken, die als neu gelten, weil | |
zwischen ihren Aufenthalten eine Mindestfrist verstrichen ist. In der | |
Psychiatrie heißt das Drehtür-Effekt: Rein in die Klinik, raus aus der | |
Klinik, kurze Zeit zu Hause, wieder rein in die Klinik. | |
## Klare Regeln, abends Party | |
Armin Gottschalk (Name geändert) hätte so ein Drehtür-Patient werden | |
können. Er wuchs nahe Heide auf, machte Abitur, studierte Elektrotechnik | |
und begann 1987 bei VW in Niedersachsen zu arbeiten. „Ich konnte mir unter | |
mehrere Stellen eine aussuchen“, sagt Gottschalk. „Mein Ziel war, Karriere | |
zu machen.“ | |
Mit der markanten Nase und den rötlichen, zurückgekämmten Haaren erinnert | |
der 60-Jährige an den Schauspieler Ben Becker, doch statt auf einer Bühne | |
zu stehen, sitzt er in Karohemd und Shorts in einem Besprechungsraum der | |
Heider Klinik. Bereits Anfang der 90er-Jahre begannen psychische Probleme: | |
„Was soll das eigentlich, was tue ich hier?“, habe er sich immer öfter | |
gefragt, bis er „nicht mehr in der Lage war, einen Finger zu rühren“. | |
Das fiel bei der Arbeit auf, Gottschalk wurde versetzt, fand im neuen Team | |
keinen Anschluss. Schließlich ging er freiwillig in die Psychiatrische | |
Klinik Königslutter, damals noch ein Landeskrankenhaus. Ein ganzes Jahr | |
blieb er dort. Schlechte Erfahrungen habe er nicht gemacht, berichtet er: | |
„Alle waren sehr nett, manchmal war abends Party.“ Dennoch habe ein | |
strenges Regiment geherrscht, klar geregelte Tage, Therapie hier, | |
Arbeitstraining dort. | |
Der Heider Klinikchef Thomas Birker kann sich an diese Zeiten gut erinnern, | |
er hat in Schleswig – damals ein Landeskrankenhaus mit 1.500 Betten – | |
gearbeitet, bevor er 1995 nach Heide kam. Es war die Zeit, in denen überall | |
neue, kleine Psychiatrien entstanden, oft als Teil der | |
Allgemeinkrankenhäuser: „Wichtig als Signal gegen Stigmatisierung“, sagt | |
Birker. Denn ob Beinbruch oder psychotischer Schub, wer krank sei, gehe ins | |
örtliche Krankenhaus. Außerdem gebe es praktische Gründe: „Bei einem | |
Notfall haben wir Geräte und Fachabteilungen zur Hand.“ Rund 100 Betten | |
hatte die psychiatrische Klinik damals, verteilt auf fünf Stationen. | |
Heute sind es noch 43 Betten in zwei Stationen. Dennoch behandelt und | |
betreut die Klinik rund 2.000 Menschen im Jahr. Armin Gottschalk gehört | |
dazu, aber in einem Krankenhausbett hat er lange nicht mehr übernachten | |
müssen. | |
Dabei kam er bei seinem ersten Besuch in der Klinik auf einer Trage | |
festgeschnallt und mit der Polizei. Gottschalk hatte noch einige Jahre in | |
einer Reha-Maßnahme bei einem VW-Zulieferer gearbeitet, aber nach dem Tod | |
seine Mutter kehrte er in den Norden zurück: „Ich musste mich um meinen | |
Vater kümmern.“ 2009 erlebte er einen neuen psychotischen Schub: Beim | |
Autofahren meinte er verdächtige Gestalten zu sehen und wurde, wie er sagt, | |
„auffällig“. Er lieferte sich eine Verfolgungsjagd mit der Polizei, es kam | |
zu Blechschäden. | |
Er blieb nicht lange in der Klinik. Denn seit 2008 ist das Budget dort von | |
der Bettenauslastung entkoppelt. In Schleswig-Holstein war die Klinik in | |
Itzehoe die erste, die das Verfahren anwandte. Bei dem Modellversuch, der | |
2003 startete, war Heide die Vergleichsklinik. „Nach Ende des Versuchs | |
haben wir es sofort umgesetzt“, sagt Birker. Mit dem Budget stand Geld zur | |
Verfügung, mit dem Strukturen aufgebaut werden konnten. | |
## Der Genesungshelfer kennt das System | |
Das Ziel ist, Patient*innen schnell von der Station zu entlassen und | |
sie in der Tagesklinik zu betreuen: zu Hause schlafen, tagsüber im | |
Krankenhaus oder in angeschlossenen Angeboten wie der tiergestützten | |
Therapie. Der dritte Schritt ist, nur noch einzelne Angebote wahrzunehmen. | |
So macht es Armin Gottschalk, der eine Gruppentherapie und einen | |
Selbsthilfekreis besucht. Die Klinik hat einen Genesungshelfer eingestellt, | |
der selbst psychisch krank war und daher das System aus Patient*innen-Sicht | |
kennt. Gottschalk fühlt sich gut betreut: „Mit den Gruppen komme ich über | |
die toten Punkte weg, auch wenn die Stimmung mal gedämpfter ist.“ | |
So gehe es vielen, berichtet Birker. Bei denen, die nicht in die | |
Tagesklinik kommen können, findet „Zuhausebehandlung“ statt, den Begriff | |
verwendet Birker lieber als „Home-Treatment“. | |
Für die Arbeitskräfte, egal ob Ärzt*innen oder Pfleger*innen, habe das | |
Budget ebenfalls viel verändert – nicht für alle passt das neue Modell. | |
„Ich habe Luftsprünge gemacht, andere haben Panik gekriegt“, erinnert sich | |
Hans-Peter Petersen, Psychiatriefachpfleger und verantwortlich für eine | |
Station in Heide, an die Anfänge. Die Ansage, dass Betten abgebaut werden | |
sollen, kam bei einigen als Drohung auf Stellenverluste an. Dabei werden | |
die Kräfte für Tagesklinik und „Zuhausebehandlung“ gebraucht. | |
## Die Zukunft ist ambulant | |
Bis etwa 2012 habe es gedauert, bis sich das Team neu gefunden hatte, die | |
neuen Arbeitsweisen etabliert waren, berichtet Petersen. Er und sein | |
Kollege Dirk Stadtkus aus Itzehoe – beide sind in einem Berufsverband für | |
Fachpflegekräfte der Psychiatrie engagiert – sehen für ihre | |
Kolleg*innen Vorteile im Budgetmodell: Die Arbeit werde flexibler, die | |
Rolle der Pflegekräfte aufgewertet. Denn wenn sie vor Ort bei | |
Patient*innen sind, müssen sie entscheiden, wann eine Krise sich | |
zuspitzt, welche Hilfen gebraucht werden. | |
Allerdings warnt Stadtkus: „Auch ambulant kann man gettoisieren.“ Wichtig | |
sei, dass die Patient*innen – wenn Corona es erlaubt – nicht nur in | |
psychiatrischen Angeboten blieben. „Der Kampf gegen Stigmatisierung bleibt | |
ein dickes Brett.“ | |
Ein Nachteil des Budgets sei, sind sich Klinikleiter und Pflegekräfte | |
einig, dass in den wenigen verbliebenen Betten der Stationen Menschen | |
liegen, die sehr schwer krank und damit im Umgang oft herausfordernd sind. | |
Das mache die Arbeit dort anstrengender. „Aber trotzdem“, sagt Stadtkus, | |
„kann die Zukunft der Psychiatrie nur ambulant sein.“ | |
31 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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