Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Effektivität von Schulschließungen: Die Old-School-Methode
> Wenn Kinder zu Hause bleiben, verbreitet sich Corona langsamer, zeigt
> eine Studie. Doch es gäbe auch andere gute Mittel – wenn man denn wollte.
Bild: Es gibt noch viel zu lernen: Ein Grundschüler malt in München ein Coron…
Kaum eine Beteuerung dürfte diesen Sommer so oft wiederholt worden sein wie
die, den Kindern und Heranwachsenden in Deutschland nach den Ferien wieder
einen regulären Schulunterricht im Präzenzbetrieb ermöglichen zu wollen.
Und kaum eine Befürchtung ist unter Eltern von schulpflichtigen Kindern
wohl so verbreitet wie die, das daraus doch wieder nichts wird.
[1][Die Pandemie zieht auch in Deutschland kräftig an, mitten im Sommer hat
sich die Inzidenz in den vergangenen Wochen verdreifacht.] Noch ist das
Niveau der bestätigten Fälle eher niedrig. Aber das Infektionsgeschehen im
Ausland lässt ahnen, was inmitten der Reisesaison und trotz nachlassender
Pandemiegefühle im nahenden Herbst möglich ist. Experten halten Inzidenzen
im hohen dreistelligen Bereich für realistisch, der
Bundesgesundheitsminister warnt gar vor der 800. Und wie schnell alles
gehen kann, zeigt der Blick nach Lüneburg. Das Robert-Koch-Institut (RKI)
meldete für den Landkreis am Mittwoch eine Sieben-Tage-Inzidenz von knapp
74 je 100.000 Einwohner. Zwei Wochen zuvor lag der Wert dort noch unter
zwei.
Worauf muss sich Deutschland also einstellen – und welche Maßnahmen werden
am ehesten helfen, einer nächsten Welle Einhalt zu gebieten? Epidemiologen
haben dazu schon Erkenntnisse vorgelegt, und zusammengefasst dürften sie
für Eltern mit großen Hoffnungen auf einen regulären Schulbetrieb in der
Tat ernüchternd sein.
So kam eine Übersichtsarbeit aus dem Journal of Infection, die Ergebnisse
aus knapp drei Dutzend Studien zur Wirksamkeit von Pandemie-Maßnahmen
zusammenfasst, [2][zuletzt zu dem Schluss, dass Schulschließungen zu Beginn
der Pandemie weltweit die effektivste der „nicht-pharmazeutischen“, also
nicht durch Medikamente oder Impfungen bewerkstelligten Maßnahmen waren.]
Zwar gibt es Hinweise darauf, dass der Effekt in den folgenden Wellen etwas
nachließ, weil sich die Schulen auf die Pandemie einstellten und die
Schüler etwas besser schützen konnten. Das unterstreichen die Autoren der
Analyse auch. Doch im derzeit wieder starken Drang nach Normalität bleiben
Schulen womöglich ein zentraler, wenn nicht der letzte Faktor.
## Die bekannten Restriktionen wirken
Denn falls sonst nichts geschieht, wenn Fabriken, Büros, Restaurants,
Kinos, Fußballstadien und Konzerthallen uneingeschränkt geöffnet sein
sollen, wenn jeder reisen will, wohin er will und im Supermarkt bald auch
keine Maske mehr tragen möchte, sind Schulschließungen das einzige und
einfachste Mittel, das bleibt. Zumindest legen die Analysen der
Wissenschaft dies nahe. Doch lassen sich Erkenntnisse über die Wirksamkeit
früherer Maßnahmen noch auf heute übertragen?
Im Großen und Ganzen wohl schon. Bereits vor Beginn der Impfungen war
deutlich, dass alle Varianten von Sars-CoV-2 (oder kurz Sars-2) auf die
einschlägigen Maßnahmen ansprechen. Wann immer Kontaktbeschränkungen,
Maskenpflicht und Hygieneregeln streng verfolgt wurden, sank die Inzidenz
in den betreffenden Ländern deutlich.
Erst Lockerungen oder gar vollständige Öffnungen ohne Einschränkungen, wie
sie jetzt oft gefordert oder schon umgesetzt werden, führten jeweils wieder
zu einer Ausbreitung des Virus. Es gibt keinen Hinweis, dass es bei Delta
anders wäre. Die Variante ist durch die bekannten Restriktionen eindämmbar.
Die Frage ist nur, welche Maßnahmen dafür jetzt ergriffen werden müssen.
Doch im vergangenen Jahr war auch vieles anders, vor allem gibt es heute
hohe Impfquoten. Die Schulen führten Hygiene- und Testkonzepte ein, wenn
auch mit teilweise geringem Erfolg und beschränkter Aussagekraft. So bieten
Schnelltests in der Massenanwendung nur eine begrenzte Sicherheit.
In fünf Bundesländern geht kommende und übernächste Woche die Schule wieder
los. Die Lage in allen europäischen Ländern einschließlich Deutschland
spitzt sich unterdessen mehr oder weniger rasch zu. Zwar hat sich das
Wachstum der Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt vielerorts ein wenig
entschleunigt, in Großbritannien sinkt der astronomische Inzidenzwert seit
gut einer Woche sogar sehr deutlich. Doch Experten gehen davon aus, dass
dieses Nachlassen im Infektionsgeschehen nicht auf eine beginnende
Herdenimmunität durch Geimpfte und Genesene, sondern sehr wahrscheinlich
auf das Ende der Europameisterschaft zurückzuführen ist.
Das Sportereignis mit teils gut gefüllten Stadien und Massenveranstaltungen
wie Public Viewings hatte die Übertragungen des Coronavirus wie ein Turbo
über mehrere Wochen besonders stark angetrieben, nun fällt diese
Beschleunigung weg. Hinzu kommt, dass auch in Großbritannien vor mehr als
zwei Wochen die Ferien begonnen haben, die Schulen also nicht mehr zur
Verbreitung von Sars-2 beitragen. Das Virus breitet sich aber dennoch
weiter aus. Die vierte Welle rollt also bereits, und sie wird ohne
Maßnahmen nur durch Impfungen zu stoppen sein.
Dafür wäre allerdings eine Impfquote erforderlich, die in Deutschland und
anderswo nach aktuellem Stand bis zum Herbstbeginn nur noch schwerlich
erreicht werden wird. Den nötigen 80, besser noch 85 Prozent doppelt
Geimpften in der Bevölkerung über 12 Jahren stehen derzeit nur gut 50
Prozent vollständig immunisierte Menschen gegenüber.
## Neue Welle würde auch Schulen treffen
Die Quote ist unter besonders Covid-gefährdeten Älteren zwar deutlich
höher, dennoch gibt es unter den Deutschen noch immer rund 30 Millionen
Menschen ohne vollständigen Impfschutz – und derzeit sieht es nicht danach
aus, als ob diese Zahl in den kommenden Wochen bedeutend sinken würde.
Gesunken ist vielmehr die Impfbereitschaft. Wenn es so weitergeht wie
derzeit, sind zum Oktober gerade mal 65 Prozent der Deutschen vollständig
immunisiert.
Und das ist gefährlich: Trotz Impfungen werden nach Berechnungen des
Mathematikers Andreas Schuppert von der RWTH Aachen im Fall einer erneuten
unkontrollierten Ausbreitung deshalb noch knapp 400.000 Menschen in
Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur im Krankenhaus, sondern
auf der Intensivstation landen, fast die Hälfte davon aus der Altersgruppe
60 plus.
Dazu kommt, dass eine unkontrollierte vierte Welle mit Inzidenzen im hohen
dreistelligen Bereich nicht einfach über geöffnete Schulen hinweg liefe,
sondern gerade die ungeschützten Jüngsten mit voller Wucht träfe, für die
in Deutschland noch keine Impfung zugelassen oder empfohlen ist. Zwar
erkranken Kinder bislang nur selten schwer, die meisten bekommen nur
leichte oder gar keine Symptome, und auch Todesfälle sind nicht bei
bestehenden Vorerkrankungen aufgetreten.
Dennoch gibt es ein Risiko für schwere Verläufe. Schuppert rechnet mit etwa
2.000 Intensivpatienten in der Altersgruppe unter 18 Jahre, falls keine
Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriffen werden. Und auch der
Gesundheitsexperte Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin
ist besorgt, da es zu den Spätfolgen einer Infektion, insbesondere zu Long
Covid, gerade im Fall von Kindern und Jugendlichen bisher zu schwache Daten
gebe.
## Laut Lehrerverband fehlt Geld für Lüftungstechnik
Das durch verschiedenste anhaltenden Beschwerden gekennzeichnete Syndrom
tritt nicht nur im Zusammenhang mit schweren Verläufen auf, es kann auch
nach milden Infektionen dauerhaft zu Komplikationen führen. Vor allem
chronische Erschöpfung ist ein häufig beobachtetes Symptom von Long Covid.
Unter Kindern kann eine Covid-Erkrankung zudem zum sogenannten PIMS- oder
zu einem Kawasaki-Syndrom führen, beide sind durch eine heftige
Entzündungsreaktion des Körpers nach durchgemachter Infektion
gekennzeichnet.
Auch britische Experten warnen davor, auf alle Maßnahmen zu verzichten und
die vierte Welle – wie im Königreich – einfach laufen zu lassen. „Eine
ungehemmte Verbreitung wird auf unverhältnismäßige Weise ungeimpfte Kinder
und Jugendliche treffen, die schon so stark gelitten haben“, schreibt die
Gruppe von Fachleuten im medizinischen Journal The Lancet.
„Ich habe zwar keine schulpflichtigen Kinder, aber mache mir schon Sorgen“,
sagte Reinhard Busse bei einer Pressekonferenz des deutschen Science Media
Centers am Dienstag. Dass in den Schulen nun „fieberhaft Lüftungsanlagen
eingebaut“ worden seien, habe er jedenfalls nicht mitbekommen. Und den
spärlichen verfügbaren Daten zufolge liegt Busse damit auch richtig.
Die Bundesregierung hat für die übertragungshemmende Lüftungstechnik zwar
Geld bereitgestellt, doch sind die Finanzierungen nach Angaben des
Lehrerverbands unzureichend. Selbst in Bundesländern, die besonderen
Aufwand betreiben, konnte bislang nur teilweise aufgerüstet werden. In
Berlin haben sogar mehr als zwei Drittel der Schulen kurz vor dem Ende der
Ferien noch keine neuen Anlagen.
## Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt
„In meinen Augen ist es sehr wichtig, dass man jetzt die Diskussion führt,
die man eben im vergangenen Sommer nicht geführt hat, weil man dachte, das
Problem sei bereits gelöst“, sagt der Schweizer Epidemiologe Christian
Althaus von der Universität Bern. Man müsse damit rechnen, dass es in den
meisten oder allen europäischen Ländern im Winter wieder zu einer starken
Belastung mit Infektionen komme, und auch zu einer relativ hohen Zahl von
Todesfällen.
Um das zu verhindern, genügen nach Ansicht des Experten vereinzelte
Maßnahmen, einen weiteren harten Lockdown hält Althaus nicht für notwendig.
Doch wer den Unterricht der Kinder garantieren möchte, „muss sich schon
sehr gut überlegen, was man zu welchem Zeitpunkt machen will“, sagt
Althaus. Vor dem Hintergrund der Studienlage hieße das, andere Maßnahmen
als die Schulschließungen rechtzeitig wieder ins Spiel zu bringen. Dazu
gehört neben forcierten Anreizen für Erwachsene, sich rasch impfen zu
lassen, wohl auch die Aussicht auf eine erneute Einschränkung im
öffentlichen und im Arbeitsleben.
29 Jul 2021
## LINKS
[1] /Fallzahlen-steigen-Impftempo-sinkt/!5787124
[2] https://www.journalofinfection.com/article/S0163-4453(21)00316-9/fulltext#s…
## AUTOREN
Kathrin Zinkant
## TAGS
Schule und Corona
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Wissenschaft
GNS
Schwerpunkt Coronavirus
Kolumne Die Nafrichten
Ilija Trojanow
Schule und Corona
Schwerpunkt Coronavirus
Schule und Corona
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neue Quarantäne-Regelung in Berlin: Kinder werden absichtlich infiziert
Statt ganze Klassen nach Hause zu schicken trifft Quarantäne nur noch
positive Getestete. Die Politik nimmt in Kauf, dass alle Kinder krank
werden.
Schreibwaren in Schule: Konsumrausch für Paw Patrol
Vor Schulbeginn überbieten Eltern einander auf der Suche nach
Schulutensilien. Und andere müssen für diese aufs Essen verzichten.
Digitalisierung in Schulen: Ort für Wissensvermittlung
Durchdigitalisierte Schulen sind keine Lösung im Klassenkampf. Öffentliche
Schulen sind Begegnungsort für Kinder unterschiedlicher Milieus.
Schulbeginn und Corona: Noch ein Corona-Schuljahr
In drei Bundesländern geht die Schule wieder los – und die Debatte um
Corona-Vorsorgemaßnahmen. Die Impfung ab 12 steht oben auf der Agenda.
Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Rangeleien bei verbotener Demo
Trotz Demo-Verbots haben sich rund 2.000 Menschen in Berlin versammelt,
laut Polizei hat es Festnahmen gegeben. Die Testpflicht für
Reiserückkehrer:innen startet.
Schulen und Corona: Zermürbende Dauerschleife
Die Ferien sind bald vorbei, aber die Schulen nicht auf Unterricht unter
Corona-Bedingungen vorbereitet. Für Eltern gibt es weiter keine Normalität.
Corona-Desinformation in den USA: Unzählbare Kosten
Eine Studie zeigt: In den USA sind 12 Impfgegner:innen für 65 Prozent
der Corona-Falschnachrichten auf Social Media verantwortlich.
Politik und Diskurs in der Coronakrise: Im ständigen Alarmmodus
Eine strengere Testpflicht für Reiserückkehrer ist zumutbar. Doch die
Maßnahme steht sinnbildlich für eine gefährliche Neigung, in der Krise zu
spät zu reagieren.
Coronakrise in Deutschland: Inzidenz rauf, Clubs dicht
In Nordrhein-Westfalen machen Clubs wegen steigender Coronazahlen wieder
zu. Derweil läuft die Debatte um Impfprivilegien weiter.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.