# taz.de -- Festival „Theaterformen“ in Hannover: Verdrängte Perspektiven | |
> Beim Festival „Theaterformen“ in Hannover geht es um Klimagerechtigkeit | |
> und Barrierefreiheit. Und darum, was beides miteinander zu tun hat. | |
Bild: Theater auf und über der Straße: das „Stadtlabor“ in Hannover | |
HANNOVER taz | Die Debatte um die Klimakrise und Verantwortung ist nicht | |
nur polarisierend und anstrengend, sondern vor allem auch das: weiß, | |
akademisch, westlich und frei von der Erfahrung einer Behinderung. | |
Ernsthaft hält die Perspektive anderer Gruppen erst dann Einzug, wenn man | |
wirklich gar nicht drum herumkommt. | |
Um das Festival „Theaterformen“, das jährlich abwechselnd in Braunschweig | |
und Hannover stattfindet, kommt man dieser Tage wortwörtlich kaum herum. | |
Noch bis zum 18. Juli finden in Hannover verschiedene | |
Schauspielproduktionen von internationalen Künstler:innen statt. Und das | |
auf der Straße, mitten in der Stadt. Für 22 Tage ist die Hochbrücke am | |
Raschplatz deshalb für den Autoverkehr gesperrt. Wo normalerweise täglich | |
knapp 30.000 Autos fahren, steht nun das Stadtlabor. Neben Veranstaltungen | |
auf den Bühnen des Staatstheaters finden dort Workshops, Lesungen und | |
Konzerte statt: 30 lokale Initiativen wirken mit. Eben unter dem Motto: | |
„We’re all in this together but we are not the same“ – die Klimakrise | |
betrifft uns alle, aber sie betrifft uns nicht alle gleich. | |
Das Stadtlabor soll ein niedrigschwelliges Angebot sein, mitzudenken, zu | |
diskutieren und mitzugestalten. Bereits in seiner verspiegelten Gestaltung | |
wirkt es wie eine Kunstinstallation. | |
Für die Straßensperrung gab es nicht nur Applaus. In Hannovers Politik war | |
darüber gar eine verkehrspolitische Debatte entbrannt. Die Opposition | |
fühlte sich übergangen, CDU-Landtagsfraktionschef Dirk Toepffer litt sogar | |
so sehr, dass er kurz davor war, den grünen Oberbürgermeister Belit Onay | |
zum Rücktritt aufzufordern. Auch die Bild gab sich empört über die | |
Verkehrsplanung zum Festival: „Muss das wirklich sein?“ | |
Es muss, findet Anna Mülter. Die Literatur- und Theaterwissenschaftlerin | |
übernimmt in der Nachfolge von Martine Dennewald in diesem Jahr die | |
künstlerische Leitung des Festivals. Den außergewöhnlichen Ort habe sie | |
gemeinsam mit dem Stadtmacher:innen-Kollektiv „endboss“ sehr bewusst | |
gewählt. „Ich glaube, in Hannover haben sich noch nie so viele Menschen mit | |
Kultur und dem Thema Klimagerechtigkeit konfrontiert gesehen wie jetzt“, | |
sagt Mülter. Die vierspurige Hochstraße des innerstädtischen City-Rings, | |
die in den Sechzigerjahren für „die autogerechte Stadt“ gebaut wurde, für | |
Mülter ist sie heute ein Zeichen dafür, dass Hannover zukunftsfähigere | |
Stadtpläne braucht. Es gehe beim Besetzen der Straße nicht darum, einen | |
Raum zu schließen, sondern ihn zu öffnen und für alle zugänglich zu machen. | |
Also auch für die, die davon normalerweise ausgeschlossen sind. In diesem | |
Fall: Fahrradfahrende und Fußgänger:innen. „Die Straße gehört eigentlich | |
doch uns allen“, findet Mülter | |
## Theater für alle | |
Und so hält sie es auch mit Theaterbühnen. Neben der Klimagerechtigkeit | |
beinhaltet Mülters kuratorische Linie darum einen starken Fokus auf | |
Zugänglichkeit. Der Besuch des Festivals soll möglichst barrierefrei sein. | |
Konkret: Hinweise zu sensorischen Reizen der jeweiligen Inszenierungen, | |
Audiodeskriptionen, Sitzsäcke als alternative Sitzmöglichkeiten, | |
Shuttle-Service zwischen Spielstätten, ein Programmvideo in | |
Gebärdensprache. | |
Das mit den behinderten Expertinnen Noa Winter und Sophia Neises | |
ausgearbeitete Konzept versteht sich als Anfang eines Prozesses zu mehr | |
Barrierefreiheit auch nach dem Festival. Es gilt: Perspektivwechsel. | |
„Ein behinderter Mensch ist ja nur dann behindert, wenn ihn die | |
gesellschaftlichen Umstände behindern“, erklärt Sophia Neises. Sie ist | |
Performerin und Theaterpädagogin – und sehbehindert. Winter und Neises | |
haben die Mitarbeitenden des Festivals geschult und für Bedürfnisse | |
behinderter Menschen in öffentlichen Räumen sensibilisiert. Auch unter den | |
Künstler:innen finden sich in diesem Jahr die Herausforderungen | |
behinderter Menschen: sich Ressourcen einteilen zu müssen und alternative | |
Wege durch eine Gesellschaft zu finden, die eine:n nicht mitdenkt. Es geht | |
darum, den Glauben, alle könnten alles schaffen, wenn sie sich nur richtig | |
anstrengten, als ideologischen Selbstbetrug zu enttarnen. | |
Wie sich der Alltag von Menschen mit Behinderung auf den Umgang mit der | |
Klimakrise übertragen lässt, zeigt die Ausstellung „We Run Like Rivers“ im | |
Stadtlabor. Als Serie kurzer Audioarbeiten erzählen Claire Cunningham und | |
Julia Watts Belser von ihren Erfahrungen, wie sich Bodenbeschaffenheiten im | |
Rollstuhl oder auf Gehhilfen anfühlen – und von gesellschaftlicher | |
Ignoranz. | |
Die Performance „No Gambling“ von Simone Aughterlony und Julia Häusermann | |
wirkt dagegen abstrakter: Es ist ein bizarres Bühnenbild mit einem von der | |
Decke herabhängenden Mobile aus Leitern, Neonschildern, flackerndem | |
Fernseher, Plastikdelfin und Schrott. Zwischen rollenden Billardkugeln, | |
Dartpfeilen, Bässen und Videospielsounds geraten kapitalistische Fantasien | |
von Wachstum und Profit ins Wanken. Spätestens als Schauspielerin Julia | |
Häusermann, die mit dem Downsyndrom geboren wurde, dem Publikum die Zukunft | |
würfelt (Schwangerschaft, neues Haus, Tumor, …), fällt es schwer, sich der | |
Willkür und Wucht in dieser bewegten Installation zu entziehen. | |
## Alltag in multiplen Krisen | |
Auch andere marginalisierte Gruppen finden bei Theaterformen ans Mikrofon | |
und auf die Bühne. Das Stück „Ich bin noch nicht tot“ unter der Regie von | |
Lola Arias feierte zum Auftakt des Festivals Premiere. Das Stück | |
dokumentiert eindringlich die Geschichten sechs alter Menschen: ihre Sorgen | |
und Wünsche – Liebe, Sexualität, Einsamkeit über 65 und Pflegenotstand. | |
Bei Theaterformen geht es um Perspektiven, die wir nicht sehen, und | |
Expertisen, die wir nicht hören wollen. Und wenn der Klimawandel uns | |
ohnehin dazu zwingt, die Gesellschaft neu zu denken – warum dann nicht | |
gleich alle mitnehmen? Die inhaltliche Breite des Programms scheint dafür | |
mehr Gesprächsangebot als eine fertige Debatte zu servieren. Und, mal | |
ehrlich: Nach einem jahrhundertelangen Selbstgespräch der Privilegierten | |
haben doch schon die Entdeckung des Gegenübers und ein freundliches | |
Smalltalk-„Hallo“ einen geradezu revolutionären Beigeschmack. Theaterformen | |
verschafft den Menschen, die oft übersehen werden, Zugang zur öffentlichen | |
Bühne, und hilft jenen, die es gewohnt sind, schon immer gesehen zu werden, | |
beim Verstehen von Ausgrenzung. | |
Wenn etwa ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung sich vor allem daran | |
festkrallt, wie sehr ihn genderfreie Toilettennutzung und Pflanzen in | |
Pissoirs auf dem Festivalgelände bevormunden, dann haben ihn die Barrieren | |
für Transmenschen doch zumindest schon mal auf der Bildebene erreicht. Und | |
der gar nicht mal so schwere nächste Schritt kann uns allen nicht schaden: | |
einfach mal die Perspektive wechseln. | |
13 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Johanna Sethe | |
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