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# taz.de -- Modetrend Fischnetz: Worin sich die Beute verfangen hat
> In diesem Sommer auf den vorderen Plätzen der Fashiontrend-Ranglisten:
> das Fishnet in all seinen denkbaren Facetten.
Bild: Die Fishnet-Tasche schweigt nicht über ihren Inhalt
Als Kind war ich fasziniert von einer Netztasche, die genau genommen ein
simpler Einkaufsbeutel war. Die Dinge blieben sichtbar in ihm, sie konnten
sogar herausfallen. Mir schien das irgendwie elegant und großzügig zu sein,
ohne dass ich es hätte ausdrücken können.
Seit Jahren ist das Fishnet wieder da. Wobei es nicht wirklich weg war,
aber die Fashionscouts platzieren die diamantförmigen Maschen nun
auffällig lang schon mal auf den mittleren oder, wie in diesem Sommer, auf
den vorderen Listenplätzen des Trends.
Es gibt so ziemlich alles aus Fishnet: Kleider, Röcke, Tops, Strumpfhosen
selbstverständlich, die hoch über den Rand der Jeans gezogen das Dessous
mit ironischer Artigkeit kombinieren.
Ja, und jede Menge Taschen gibt es, die von einigen Labels seltsamerweise
mit Schutzfolien ausgelegt werden, damit beim Shoppen, wie es heißt,
wirklich nichts mehr verloren geht. Als wäre es der Sinn einer
Fishnet-Tasche, dass sie alles für sich behält und über den Inhalt
schweigt.
## Regelwerk für Fishnet-Gebrauch
Im Netz ist die Beute. Der Fang. Dieser offensichtliche Zusammenhang macht
das Fishnet für die bürgerliche Mode kompliziert. Denn worüber sie lieber
schweigen möchte, zeigt das Netz vor aller Welt her. Die Spielregeln müssen
es richten, der Sinn für die Grenzen des guten Geschmacks, und wenn es gar
nicht mehr anders geht die Stylingtipps auf Youtube.
Dort wird vor Übertreibungen gewarnt, vor dem billigen Anschein und der
Lächerlichkeit. Hat man den Trend auch richtig verstanden und sieht der
eigene Körper gut genug aus?
Zum Fishnet soll man stets etwas Festes tragen, irgendetwas Solides wie
einen Blazer oder ordentliche Schuhe und soll sich, solange die Effekte des
Fishnet noch nicht richtig gelernt sind, mit kleineren Artikeln wie
Netzsöckchen begnügen.
Der Trend knüpft seine Empfehlung an Bedingungen. Wie im Leben ist die
Liebe auch in der Mode selten rückhaltlos. Außerdem, wie gesagt, ist das
Risiko der Blamage in Bezug auf das Fishnet maximal hoch.
Umso interessanter ist er ja, der Trend. Könnte es nicht sein, dass er nach
eineinhalb Jahren tiefer Krise besonders geeignet ist, um über Angst und
Verlust zu sprechen? Die spannenden Inszenierungen von Fishnet nehmen die
Herausforderung an.
## Lady Gaga macht es besser
Das Messer steckt im linken Oberschenkel, hat sich durch den Netzstrumpf
tief ins Fleisch gebohrt. [1][So beginnt das Video zu „Rain on Me“, das
Lady Gaga, die eine viel intelligentere Interpretin des Fishnet ist, als es
Madonna in ihrer ewigen Sorge ums Ego je war, zusammen mit Ariana Grande im
vergangenen Spätsommer veröffentlicht hat.] Wie nach einem tödlichen Kampf
liegt sie da.
„Water like misery / It’s coming down on me“ – es regnet Schmerz. Die
Messer fallen wie Regentropfen. Dem Konflikt ausweichen zu wollen, ist in
einer Welt, in der niemand unschuldig ist („Living in a world where no one
is innocent“), also völlig unmöglich. Vermutlich handelt das Fishnet von
etwas sehr Ähnlichem.
Als Netz der Ambivalenz reicht es jedenfalls weit und motivgeschichtlich
zieht es den mächtigen Mythos der Wasserfrau an Land. Wer sich die
aktuellen Sommerkollektionen anschaut, wird die Figur der Meerjungfrau
nicht übersehen können. Dinge wie ein Netzkleid, dessen Ärmel wie Wasser
über die Hände laufen, eine fischflossensilbrige Hose (Acne Studios)
überschlagen sich vor assoziativer Kraft.
Von einer Liebesaffäre zwischen einer Meerjungfrau und einem Hai
[2][spricht Riccardo Tisci] (für Burberry) und deutet seine Kollektion als
Rückkehr des Lebens nach der großen Einsamkeit. Er selbst ist in diesem
Bild der Leuchtturmwärter, der das Paar zunächst draußen auf dem Ozean und
dann in einem blühenden Wald betrachtet.
## Mythos Meerjungfrau
Mit der Sehnsucht ist das Fishnet verknüpft, mit dem Wasservolk und den
Fischern, die in ihren Netzen Meerjungfrauen finden, denen sie in Liebe
verfallen und die sie mit ihrer Liebe tödlich enttäuschen. Undine wird von
Männern gerufen, die ihn ersehnen, „den großen Verrat“ (Ingeborg Bachmann…
der sie von dem Leben in festen Verhältnissen erlöst. [3][Immer wieder
kommt Undine an Land, immer wieder muss sie ins Wasser des Mythos zurück.]
Weg von den Grundstücken mit Gartentor und Swimmingpool.
Im Video übrigens lässt Lady Gaga ihre Undine bleiben, lässt sie zusammen
mit einer Schwester der Lüfte (Ariana Grande mit Schmetterlingsflügeln auf
dem Rücken) Widerstand entwickeln und tanzen. Das Messer der Trennung hat
sie zunächst noch im Bein. Sie zieht es sich selbst aus der Wunde.
So sehr wie kein anderes Textil in der Mode ist das Fishnet ein Phänomen
der Grenze. Es gehört dazu, und auch wieder nicht. In diesem
Spannungsverhältnis wird es zu einer List der Mode. Sie solle nicht nackt
und doch auch nicht angezogen zu ihm kommen, sagt der König im Märchen der
Brüder Grimm, woraufhin die kluge Bauerntochter sich in ein Fischernetz
wickelt. So befreit sie ihren Vater aus dem Gefängnis und gewinnt für sich
einen Mann, den sie begehren kann.
Als Strumpf am Bein französischer Varietétänzerinnen wird es Ende des 19.
Jahrhunderts für das Nachtleben wichtig, verklausuliert sich als erotischer
Netzschleier an Damenhüten. Horst P. Horst fotografierte 1952 ein kleines,
mit funkelnden Steinen besetztes Fishnet über dem makellos-strengen Gesicht
Nina de Voes. Vom Wasser ist nur noch eine ferne Ahnung übrig, ein feiner
Nebel aus Trauer und Stolz.
## Kate Moss im Netz der Begierde
Mit Projektionen von Weiblichkeit und Begehren spielt auch ein anderes,
nicht weniger berühmtes Foto. Albert Watson hat es 1993 in Marrakesch von
der damals 19-jährigen Kate Moss gemacht. Es zeigt eine menschenferne, fast
unwirkliche Schönheit mit einem über Wangen und Stirn gerissenen Netz. Eine
„Fee der Wälder“ hat Albert Watson sie genannt.
Ein Zeichen der Distanz. Eine Chiffre des Konflikts. Für die bürgerliche
Gesellschaft ist das Fishnet ein wie gesagt gefährliches Objekt, das dem
Gesetz der diskreten Oberfläche zuwiderläuft. Das Fishnet ist nicht
verschwiegen, schon gar nicht in Bezug auf den Körper. Tatsächlich ist es
wohl eher eine Kommentarfunktion als ein Kleidungsstück.
Wo Netze auftauchen, ob in der Kunst oder der Mode, da ist Deutung. Ohne
sie ist das Fishnet leer. Es spricht, verleitet zu Interpretationen; ein
grobmaschiges schwarzes Fishnet-Top auf nackter Haut zu einem weit
geschnittenen Sakko in zartestem Rosa (Longchamp) sagt zum Beispiel sehr
deutlich: „Ich kenne mich aus.“
Nicht zu viel Haut, nicht zu wenig. Mit allen Wassern der Distinktion
gewaschen, dient das Fishnet hier oder am Dekolleté eines langen
Blumenkleides als hübscher Hinweis auf Verwegenes. Das wirkt ziemlich
kalkuliert und deshalb auch wahnsinnig langweilig. Zu deutlich ist der Look
auf Zustimmung bedacht. Anders gesagt, ihm fehlt ein bisschen der Mut zum
Gefühl, zum Widerspruch und ja, der Sinn für Humor, für den das Fishnet
etwa eines Jean-Paul Gaultier in Wahrheit wie geschaffen ist.
Reden, den Konflikt aushalten und nichts so sehr fürchten wie die Angst vor
der Angst. Neulich in der Schlange des Drogeriemarkts fiel mir die
Netztasche wieder ein. Und ein anthrazitfarbenes Hemd, das ich mir sehr
viel später in den 90ern gekauft habe. Geliebt habe ich dieses Hemd, für
seine feinen Maschen, seine Geduld, mit der es meine eigenen Ängste
getragen hat. Irgendwann waren die Fäden aufgebraucht; ich sollte mir ein
neues Netzhemd kaufen.
7 Jul 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=AoAm4om0wTs
[2] /Pariser-Maennermodewoche/!5074964
[3] /Christian-Petzold-ueber-seinen-Film-Undine/!5692777
## AUTOREN
Elisabeth Wagner
## TAGS
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