# taz.de -- Rechtsruck in Großbritannien: Eine illiberale Demokratie | |
> Wer Boris Johnson für einen Politclown hielt, hat sich getäuscht. Er | |
> verändert Großbritannien in eine autoritäre Richtung. | |
Bild: Hinter der clownhaften Fassade von Boris Johnson verbirgt sich ein beinha… | |
Boris Johnson ist ein unterhaltsamer Politiker. Wortgewandt und leichtfüßig | |
versteht der britische Premierminister, trockene politische Angelegenheiten | |
mit Witz und erfinderischer Rhetorik zu garnieren und schlagzeilentauglich | |
zu machen. | |
Es war nicht zuletzt seine mangelnde Seriosität, die viele | |
Politikexperten dazu verleitete, seine Wirkung auf die Wähler zu | |
unterschätzen. Der Brexit führte nicht, wie oft prognostiziert, zur | |
Spaltung der Tory-Partei – im Gegenteil, er hat es [1][Johnson ermöglicht], | |
die konservative Vorherrschaft zu zementieren. | |
Aber hinter der clownhaften Fassade des Premierministers verbirgt sich ein | |
beinharter Politiker. Johnson verfolgt zunehmend einen Autoritarismus, der | |
grundlegende Bürgerfreiheiten bedroht. In Brexit-Britannien lassen sich in | |
Umrissen die Merkmale eines autokratischen Regimes erkennen – Angriffe auf | |
die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, eklatante Korruption, kaltherzige | |
Politik gegen Migranten. Das ist brandgefährlich. Aber die Opposition | |
schläft – der Widerstand muss von der Straße kommen. | |
Eine der führenden Vertreterinnen der autoritären Politik ist [2][die | |
Innenministerin Priti Patel,] deren reaktionäre Haltung haarsträubend ist – | |
bis vor einigen Jahren war sie eine Vertreterin der Todesstrafe. Die | |
Hardlinerin schimpft über die „Gutmenschen“ und „linke Anwälte“, die … | |
angeblich kaputten Asylsystem profitieren. | |
Laut einer neuen Vorlage sollen Flüchtlinge, die auf „illegalem“ Weg nach | |
Großbritannien kommen, kein Anrecht auf Schutz mehr haben. Wer es zum | |
Beispiel in einem Gummiboot über den Ärmelkanal schafft, soll abgeschoben | |
werden. Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, die ihr Leben riskieren, | |
um in Großbritannien eine neue Existenz aufzubauen, sollen hier nicht | |
willkommen sein. So viel Kaltherzigkeit muss man erst einmal haben. | |
## Ein migrationsfeindliches Klima | |
Noch ist das Gesetz erst ein Vorschlag, aber die aggressive Rhetorik hat | |
bereits jetzt Konsequenzen. EU-Migranten berichten von Problemen an der | |
Grenze. Eine Bulgarin wurde von einem Zollbeamten am Flughafen gewarnt, | |
bitte nicht zu lange im Land zu bleiben – obwohl sie seit über zehn Jahren | |
in London wohnt und mit einem Engländer verheiratet ist, das Bleiberecht | |
aber nicht erhalten hat. Das ist eine Folge der migrationsfeindlichen | |
Linie, die von oben vorgegeben wird: Die Behörden werden dazu ermuntert, | |
Rassismus und Xenophobie zu signalisieren. | |
Neben Flüchtlingen zählen auch Protestierende zu den Lieblingsfeinden der | |
Innenministerin. Sie bezeichnet die Aktivist*innen von Extinction | |
Rebellion als „Kriminelle“. Dass die Polizei nicht genügend Instrumente in | |
der Hand hält, um gegen die irritierend friedlichen Proteste der | |
Klimabewegung vorzugehen, sorgt in Westminster für tiefe Frustration. | |
## Protest? Nur leise legal | |
Also muss ein weiteres Gesetz her: [3][Die neue „Polizeivorlage“] soll dem | |
Staat die nötigen Befugnisse geben, um Proteste jeder Art zu unterbinden. | |
So kann die Polizei beispielsweise genaue Anfangs- und Endzeiten von Demos | |
vorschreiben, und sie kann Protest verbieten, wenn er zu laut ist. Solche | |
Vorschläge haben schlichtweg keinen Platz in einer Demokratie. | |
Auch auf dem ideologischen Schlachtfeld rüstet die Regierung auf. Alles, | |
was irgendwie progressiv oder „woke“ erscheint, gilt als gefährlich. „Wir | |
wollen nicht, dass unsere Lehrer ihren weißen Schülern Unterricht zu White | |
Privilege geben“, sagte die Ministerin für Gleichstellung, Kemi Badenoch. | |
Institutioneller Rassismus in Großbritannien existiert laut der Regierung | |
nicht, obwohl er durch unzählige Studien belegt und offenkundig ist. Auch | |
sind Schulen aufgefordert worden, „antikapitalistisches Material“ im | |
Unterricht zu vermeiden. Es handle sich dabei um eine „extreme politische | |
Haltung“, vergleichbar mit – kein Witz – der Ablehnung von Redefreiheit. | |
## Antikapitalismus gleich antidemokratisch | |
Und dann ist da die Korruption. Bereits in mehreren Fällen haben Gerichte | |
entschieden, dass die Regierung bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen | |
während der Pandemie gesetzeswidrig gehandelt hat. Etliche Aufträge sind an | |
persönliche Bekannte von Regierungsmitgliedern gegangen, obwohl sie | |
keinerlei Erfahrung haben. | |
In jedem einigermaßen funktionierenden Rechtsstaat hätte dies Konsequenzen. | |
Zumindest würde man dem Minister nahelegen, zurückzutreten. Nicht so in | |
Brexit-Britannien – hier zuckt die Regierung mit den Schultern und macht | |
weiter. | |
Eine wirksame Opposition würde reichlich Material finden, um aus der | |
Regierung Hackfleisch zu machen – oder sich zumindest als progressive | |
Alternative zu diesem autoritären Rechtskonservatismus zu positionieren. | |
Aber unter der Führung des überaus blassen Keir Starmer hat Labour die | |
Opposition praktisch aufgegeben. Viel zu schüchtern tritt die Parteiführung | |
auf, stets in der Angst, sozialkonservative Wähler zu verschrecken. | |
## Letzte Hoffnung – die Straße | |
Hoffnung macht hingegen der Widerstand auf der Straße. Tausende | |
Bürger*innen sind durch London und andere Städte gezogen, um gegen das | |
Polizeigesetz zu protestieren. Als der Mord an der jungen Londonderin Sarah | |
Everard im März das ganze Land erschütterte, formierte sich eine breite | |
gesellschaftliche Bewegung, die mehr Sicherheit für Frauen im öffentlichen | |
Raum fordert. | |
Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat im vergangenen Sommer riesige | |
Demonstrationen organisiert. Und schließlich mehrt sich der Widerstand | |
gegen die reaktionäre Einwanderungspolitik. In Schottland wächst seit | |
Monaten die Kritik an den Razzien der Migrationsbehörden – und die | |
Bürger*innen werden aktiv. Im Mai blockierten über Tausend Menschen | |
einen Lastwagen der Migrationsbehörden, der zwei indische Migranten | |
mitnehmen sollte. Den Behörden blieb nichts übrig, als die Migranten wieder | |
freizulassen. | |
Solche Solidarität macht Mut. Sie zeigt, dass viele nicht bereit sind, den | |
Autoritarismus der Regierung hinzunehmen. Wenn Großbritannien von dem | |
gefährlichen Weg in Richtung Autokratie abkommen soll, dann muss die | |
Regierung von der Öffentlichkeit dazu gezwungen werden. | |
29 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Johnson | |
[2] /Britische-Innenministerin-Priti-Patel/!5694795 | |
[3] https://www.derstandard.de/story/2000125592511/festnahmen-bei-protesten-in-… | |
## AUTOREN | |
Peter Stäuber | |
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