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# taz.de -- Nachwahl zum britischen Parlament: Alarmstufe Rot
> Am Donnerstag könnte Labour den Wahlkreis verlieren, in dem 2016 ein
> Neonazi die Abgeordnete Jo Cox ermordete. Die schärfste Konkurrenz kommt
> von links.
Bild: Anstelle von Rassisten marschieren Antirassisten auf
Schon um acht Uhr morgens versperren kleine, weiße Lkws der Gemeinde
sämtliche Zugänge zum Marktplatz von Batley. Das Polizeiaufgebot wird immer
größer, sogar zu Pferd.
Es ist der letzte Samstag vor der Nachwahl im nordenglischen Wahlkreis
Batley & Spen am 1. Juli. Die [1][bisherige Labour-Abgeordnete Tracey
Brabin] ist auf einen Bürgermeisterposten gewechselt. 2016 war Brabin auf
[2][Jo Cox] gefolgt, die kurz vor dem Brexitreferendum [3][von einem
Rechtsradikalen] ermordet worden war. Damals standen alle großen Parteien
unter Schock und ließen Labour freien Lauf. Diesmal wird es eine ganz
normale Nachwahl – und Labour muss zittern.
Batley and Spen besteht aus kleinen Städtchen und Dörfern inmitten der
grünen Hügellandschaft West Yorkshires. 2019 blieb der Labour-Wahlkreis
trotz großer Erfolge der Konservativen in Nordengland rot. Boris Johnson
verspricht nun mit seinem Kandidaten Ryan Stephenson, einem Stadtrat aus
Leeds, Investitionen, mehr Polizei und mehr Ausbildung. Sollten die Tories
auch hier gewinnen, wäre es ein möglicherweise fataler Schlag für den
glücklosen Labour-Chef Keir Starmer.
Auf der Mitte des Marktplatzes hat sich inzwischen Ann Marie Waters
eingefunden. Die Dame mit magentaroter Haarpracht ist die Gründerin der
Partei For Britain. Davor hatte sie vor Jahren Pegida UK gegründet. Sie hat
zur Kundgebung aufgerufen, der bekannte Rechtsextremistenführer Tommy
Robinson hat Unterstützung angekündigt.
Waters schiebt sämtliche Probleme der Welt Muslim*innen in die Schuhe.
In Batley glaubt sie, damit punkten zu können, weil hier im März ein Lehrer
laut Medienberichten Morddrohungen erhielt, nachdem er im
[4][Religionsunterricht ein Abbild des Propheten Mohammed im Zusammenhang
mit Meinungsfreiheit zeigte]. Die Bilder aufgeregter muslimischer Männer,
die die Schule belagerten, machten das sonst ruhige Batley, dessen einstige
Wollwebereien der gähnenden Leere verlassener Fabrikhallen gewichen sind,
weltberühmt. Der Lehrer soll aus Angst immer noch versteckt leben.
Die etablierten Parteien machen um diesen Fall im Wahlkampf einen großen
Bogen. Auch Jo Cox spielt im Wahlkampf keine Rolle, bis auf die Tatsache,
dass Labour-Kandidatin Kim Leadbeater ihre Schwester ist. Die 45-jährige
ehemalige Sportlehrerin und Dozentin betont lieber, dass sie immer in
diesem Wahlkreis gelebt hat.
Leadbeaters großes Problem ist die Konkurrenz von links: der 66-jährige
Politveteran George Galloway. Der einstige Labour-Abgeordnete für Glasgow
brach einst wegen des Irakkrieges mit Labour, er gründete danach die Partei
Respect, mit der er mehrere Unterhausnachwahlen in Wahlkreisen mit hohem
muslimischen Bevölkerungsanteil gewann, nur um sie später wieder zu
verlieren. Er tritt gerne im russischen und iranischen Fernsehen auf,
besonders als Israelgegner. Mit seiner neuen Workers Party versucht er nun,
Batley & Spen zu erobern.
Ein Fünftel der Wähler*innen hier sind Muslime, und an sie richten sich
seine Sprüche zu Palästina. Früher verglich Galloway gerne den Gazastreifen
mit dem Warschauer Ghetto. Heute verkündet er in einem Video: „Die Leute
beten in Gaza und Jerusalem für unseren Sieg in Batley und Spen.“ In einem
anderen zieht Galloway mit Ex-Labour-Parlamentarier Chris Williamson durch
Batley – Williamson wurde von Labour aufgrund antisemitisch verstandener
Kommentare suspendiert.
Galloways Wahlkampfbüro befindet sich in einer leeren Bar. In einem Karton
liegen Flugblätter für Sanktionen gegen Israel, in einem anderen
Botschaften an Weiße: Labour werde „von einer Londoner Bourgeoisie mit
Hilfe von Brigaden von Woke-Kämpfer*innen der sozialen Medien geführt“,
und: „Unterstützt Großbritannien, sagt Nein zu Woke, beseitigt Starmer!“
Eigentlich sind das Parolen der Rechten.
Bei einer Wahlveranstaltung per Zoom zeigt sich, dass Galloway ein nicht zu
unterschätzender Demagoge ist. Seine Angriffe gegen die konservative
Misswirtschaft unter der Pandemie und gegen den Schritt der hiesigen
Labour-Regionalbehörde, die ehemalige Polizeiwache von Batley billig zu
verkaufen, sitzen so wie keine anderen.
„Die Labour-Partei ist bei der weißen Arbeiterklasse in Ungnade gefallen“,
analysiert Galloway im Gespräch mit der taz im Park. Er trägt ein schwarzes
Jackett zum weißen gebügelten Hemd mit Blumenmuster, einen Hut wie immer,
und er riecht stark parfümiert. Seine neue Arbeiterpartei symbolisiere die
alte Labour-Partei. „Cox wurde für das ermordet, an das sie glaubte. Jene,
die glauben, dass das richtig ist, könnten auch mich angreifen.“ Aber kann
er etwas bewirken, wenn er gewinnt? „Ich werde das als Bühne benutzen, um
Menschen zu bekehren“, sagt er. Und wenn er nicht gewinnt, die linken
Stimmen spaltet und den Sitz den Tories schenkt? „Die Konservativen werden
ohnehin noch lange an der Macht sein“, rechtfertigt er sich.
## Simple Boschaft: Ich bin von hier, ich höre euch zu
Kim Leadbeater sehen die Leute eher in den sozialen Medien. Horden von
Labour-Genoss*innen verteilen außerdem Flugblätter im ganzen Wahlkreis.
Ihre Botschaft ist simpel: Ich bin von hier, ich höre euch zu, ich werde
euer Sprachrohr in Westminster sein. Von Journalist*innen hält die
Partei ihre Kandidatin fern. Wer Labours Wahlkämpfe kennt, weiß, was das
bedeutet: Die Lage ist ernst. An den Fenstern des Labour-Wahlkampfzentrums
kleben Plakate mit „Kim“ in Kursivschrift. Es sieht aus wie eine neue
Sektmarke.
Was halten die Wähler von all dem? Viele langjährige Labour-Wähler wollen
der Partei treu bleiben: Leadbeater sei in Ordnung, sagt der 30-jährige
Ahmar Lambat; Galloway könne wenig bewirken, findet Bettenfabrikant
Muhammad Najam. Nasser und seine Frau Ria, beide 36 – sie nennen ihren
Nachnamen nicht – wollen zu Galloway wechseln, „damit Labour wieder auf
arbeitende Menschen hört“. Es sei außerdem eine Stimme „gegen den Zionist…
Keir Starmer“.
An einer stark befahrenen Straße im Städtchen Heckmondwike sind Ehepaar
Sean und Angela Hodge, beide um die 50 Jahre alt, in ihrem Staubsaugerladen
gegen Verkehrslärm und gegen Labour. Sie mochten Jo Cox und auch die
scheidende Abgeordnete Tracey Brabin. Aber Kim Leadbeater sei von der
Labour-Parteizentrale über die Köpfe lokaler Kandidat*innen hinweg
ausgesucht worden.
Hodge ist nicht der Einzige, der moniert, dass Leadbeater erst vor acht
Wochen überhaupt Labour-Mitglied wurde. Galloway aber sei aufgeblasen, und
dass Leadbeater nun in Reaktion auf ihn ebenfalls von Palästina und
Kaschmir rede, sei verfehlt. „Wir haben genug Probleme vor Ort, etwa dass
es in dieser Marktstadt keinen Markt mehr gibt“, findet Sean. „Als Mitglied
der weißen Bewohner*innen hier – ich weiß, das hört sich vielleicht
etwas seltsam an –, möchte ich nach all den Versuchen der
Gleichberechtigung für andere, dass sich Leute auch für unsere Belange
einsetzen. Diese Gegend war einst begehrenswert. Heute haben wir nichts als
Gebrauchtwarenläden, Billigläden, Wettbüros und lauten Durchgangsverkehr.“
Gegen neun Uhr an diesem Samstagmorgen ist Ann Marie Waters immer noch
alleine auf dem Marktplatz von Batley. Am Rand sitzt eine ältere Frau auf
einer Bank. „Ich stimme mit Menschen wie Waters und Robinson überein“, sagt
sie. Sie versichert sich mit ihrer Bekannten neben ihr, ob sie es der taz
erzählen soll. Sie will nicht mit Namen genannt werden. Dann holt sie tief
Luft, bevor Tränen sie überkommen. „Am Anfang der Pandemie, letztes Jahr,
hat ein Mann pakistanischen Hintergrunds aus der Gegend meine 14-jährige
Enkelin vergewaltigt“, erzählt sie. Sie wisse, wer es war, doch die Polizei
sei desinteressiert und würde nicht ermitteln. Stattdessen würde sie als
Rassistin beschimpft und bespuckt.
Jahrelang stand die Polizei der Nachbarregion South Yorkshire im Zwielicht,
weil sie aus Angst vor Rassismusvorwürfen nicht gegen pakistanischstämmige
Gangs ermittelte, die vulnerable weiße Mädchen in die Prostitution zwangen.
Manche Täter wurden inzwischen gefasst und verurteilt. Aber für die alte
Frau baut sich jetzt wieder ein Bild einer Polizei auf, die muslimische
Sexualverbrecher schützt – obwohl eine ihrer eigenen Töchter einen Mann
pakistanischer Abstammung geheiratet hat. Sie sagt, sie sei keine
Rassistin. Und sie hofft, dass ihre Enkelin keine Burka tragen werde.
Für Rassisten sind Menschen wie diese alte Frau wiederum gefundenes
Fressen. Aber nur wenige erscheinen am Marktplatz. Statt ihrer bauen
Antirassist*innen der Gruppe Stand Up To Racism eine Gegendemo auf.
Bald sind es mehrere Hundert gegen weniger als fünfzig Rechte. Die
rechtsradikale Kandidatin muss sich geschlagen geben. Aus dem Tag der
Ultrarechten wird eine antirassistische Veranstaltung mit Infoständen und
Trommeln.
Ashiq Hussain aus Bradford ist einer der Organisatoren. „Überall, wo
Rassist*innen auftreten wollen, organisieren wir Kampagnen. Oft stehen
wir auch der muslimischen Gemeinschaft bei, die von der Polizei mit
Vorurteilen behandelt wird“, beteuert der vollbärtige Mann mit gelber
Sicherheitsweste. Dann erwähnt er, dass er nicht mehr bei Labour sei, seit
die Partei nicht mehr von Jeremy Corbyn geführt werde. „Keir Starmer
unterstützt Israel, nicht Palästina und Kaschmir“, kritisiert er.
## Am Abend werden Labour-Unterstützer*innen angegriffen
Dem pensionierten Sozialarbeiter Hanif Mayet bereitet die Spaltung der
Linken schlaflose Nächte. Nahezu sein Leben lang war der 65-Jährige bei
Labour, von 2002 bis 2014 sogar als Stadtrat. Labour, findet er, habe mit
Tony Blair gut angefangen, sei dann aber mit dem Irakkrieg vom Weg
abgekommen. Von Blairs zahlreichen Nachfolgern hält er wenig. Starmers
Hauptproblem sei Glaubwürdigkeit.
Dann zeigt er ein frisches Video auf seinem Handy, wie vor der Moschee von
Batley ein Mann Kim Leadbeater zur Rede stellt. Sie wollte mit
Muslim*innen nach dem Freitagsgebet sprechen. „Britische Muslime haben
niemanden im Parlament, der sich für sie und für Palästina einsetzt“, sagt
der Mann aufgeregt, während die Labour-Kandidatin in ihrem Auto flüchtet,
und: „Labour ist eine Fassade. Eure Farbe ist rot, die Farbe von Blut.“
Mayet befürwortet dieses Verhalten nicht. Aber er fragt sich, was sich
Leadbeater dabei gedacht hätte, ausgerechnet freitags zur Moschee zu
kommen. „Ich werde Galloway wählen, als Proteststimme“, attestiert er.
Am Sonntagabend werden schließlich Labour-Unterstützer*innen auf
offener Straße angegriffen und einige verprügelt. Die Polizei ermittelt,
doch wer die Täter waren, darüber macht sie keine Angaben. Ebenfalls ist
nicht bekannt, wer die gefälschten Labour-Flugblätter zu verantworten hat,
die behaupten, dass Labour „Weißsein“ als Problem sehe und Black Lives
Matter unterstütze. Am unteren linken Rand steht: „Labour im Kampf gegen
weiße Privilegien.“ Dass diese Botschaft Weiße verunsichern soll, ist
offensichtlich.
Kim Leadbeater behauptet inzwischen, dass beim Vorfall vor der Moschee am
Freitag George Galloway auf der anderen Seite der Straße stand und
lächelte.
30 Jun 2021
## LINKS
[1] /Nachwahlen-in-Grossbritannien/!5350490
[2] /Nachruf-auf-Labour-Abgeordnete-Jo-Cox/!5314276
[3] /Mord-an-der-Labour-Abgeordneten-Jo-Cox/!5360271
[4] /Karikaturenstreit-in-England/!5758170
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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